Robert Spaemann war ein großer Philosoph, ein konsequenter Verteidiger des Lebensrechts und ein einfühlsamer und hilfreicher Freund. Nicht erst im Streit um den Schein in der Schwangerschaftskonfliktberatung Ende der 90er Jahre war er mir eine große Stütze. Schon in den 80er Jahren halfen mir seine 1982 veröffentlichten "Moralischen Grundbegriffe", Studenten der katholischen Theologie und der Wirtschaftswissenschaften die Grundlagen der Ethik zu vermitteln. Am Anfang dieser Grundlagen steht, wie schon in der aristotelischen Ethik, die Frage nach dem Guten. Vor dieser Frage drücken sich viele mit einem Verweis auf die vielen gegensätzlichen Antworten, weshalb man besser von Interessen als von dem Guten und der Wahrheit sprechen solle. Spaemann hielt dem entgegen, dass unterschiedliche Interessen, ja Gegensätze dem antiken Denken nicht unbekannt waren, vielmehr erst den Anstoß gegeben hätten, nach dem Guten zu fragen. Sie stehen am Anfang der Ethik, die, so Spaemann in seinem ethischen Hauptwerk "Glück und Wohlwollen", "zunächst die Reflexion auf die Bedingungen gelingenden Lebens" ist, und sodann "die Lehre von den praktischen Konsequenzen des Wohlwollens, also vom ordo amoris". Unter Umständen könne die Ethik, weit entfernt, Konflikte zu lösen, Konflikte verschärfen: "Wer für die Abschaffung der Sklaverei eintrat, wer gegen die Legalisierung der Abtreibung eintritt oder sich für eine menschenwürdige Tierhaltung einsetzt, stört unter Umständen vorhandenen Konsens…Nicht die Lösung von Konflikten schlechthin, sondern die richtige Lösung ist das, worum es der ethischen Reflexion geht, und um das, was die richtige Lösung sei, kann es gerade Streit geben".

Diesem Streit ging Spaemann nicht aus dem Weg. Im Streit um den Beratungsschein in der Schwangerschaftskonfliktberatung ließ er keinen Zweifel daran, dass der Schein eine Tötungslizenz und die Beteiligung der katholischen Kirche an dieser Art der Beratung eine Mitwirkung an der Tötung ungeborener Kinder ist. Die Verteidiger des Beratungsscheins hielten dem entgegen, dass der Schein im Ergebnis jährlich rund 5000 ungeborenen Kindern das Leben rette. Würde die katholische Kirche, ab 1999 dann der Verein "Donum Vitae", den Schein nicht mehr ausstellen, wäre das Übel der Abtreibung noch größer. Spaemann hat diese konsequentialistische Apologetik des Beratungsscheins immer kritisiert: Zum einen fördere der Konsequenzialismus den Dezisionismus, weil die Untersuchung der Handlungsfolgen nie bis zum Ende geführt werden kann und irgendwo abgebrochen wird, um überhaupt zum Handeln zu kommen. Zum anderen fördere er Erpressung und Demoralisierung:  "Ein Konsequenzialist muss immer bereit sein, einen Mord zu begehen, wenn man ihm droht, ansonsten zehn Menschen umzubringen". Spaemann verteidigte die klassische Morallehre. Es gebe "Handlungen, deren Verwerflichkeit auch ohne Kenntnis der Umstände und der Absicht des Handelnden erkennbar ist. Sie sind immer schlecht, und eine Absicht, die ein gutes Ziel mit Hilfe solcher Handlungen zu erreichen sucht, ist eben keine gute, sondern eine schlechte Absicht. Der gute Zweck heiligt nicht das schlechte Mittel." Es gebe deshalb zwar unbedingte Unterlassungsgebote, aber keine unbedingten, ohne Ansehen der Umstände geltenden Handlungsgebote". Das Gebot, keine Beihilfe zur Abtreibung zu leisten, sei von anderer Unbedingtheit als die Pflicht, Abtreibungen zu verhindern. Die Rettung noch so vieler Leben könne zwar das Opfer des eigenen Lebens, nicht aber die absichtliche Tötung eines Unschuldigen rechtfertigen.

Als Spaemann auf dem Höhepunkt des Konflikts um den kirchlichen Beratungsschein im Oktober 1999 hörte, dass der Senat der Universität Osnabrück einen Beschluss gefasst hatte, in dem er mir dogmatische Unduldsamkeit zum Schaden der Universität vorwarf, weil ich den Beratungsschein in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine Tötungslizenz genannt hatte, rief er spontan an, um mich im Widerstand gegen den Senat zu stärken. Ein Schaden für die Universität sei dieser Beschluss.

Einen großen Beitrag zur Diskussion um den Lebensschutz leistete Spaemann mit seinen Reflexionen zur Frage, wann der Mensch beginnt Person zu sein. Diese Frage ist nicht nur in der Abtreibungsdebatte von zentraler Bedeutung, sondern auch in der Diskussion über die embryonale Stammzellforschung, die Präimplantationsdiagnostik und die assistierte Reproduktion selbst. Das Personsein sei, so Spaemann, nicht eine Eigenschaft, sondern das Sein des Menschen. Es beginne deshalb nicht später als die Existenz eines neuen, mit dem elterlichen Organismus nicht identischen Lebens. Die Gleichsetzung der Personwerdung mit der Zeugung ist die Konsequenz der Unmöglichkeit, einen Beginn des Personseins in der Zeit zu fixieren. Jemanden "Person" zu nennen, heißt, ihm den Status des Selbstzwecks zuerkennen. Die Person sei ein "jemand" und nicht ein "etwas". Es gebe keinen kontinuierlichen Übergang von etwas zu jemand. Alle Versuche, Personalität von der Existenz eines menschlichen Organismus abzulösen, nennt Spaemann kontraintuitiv, unvereinbar mit dem Sprachgebrauch jedes normalen Menschen. Eine Mutter pflege zu ihrem Kind zu sagen: "Als ich mit dir schwanger war" oder "Als ich dich geboren habe" und nicht: "Als ich einen Organismus in mir trug, aus dem dann später du wurdest". Auch das Bundesverfassungsgericht hat diese Sicht übernommen, als es in seinem Urteil zur Reform des Abtreibungsstrafrechts 1993 feststellte, das ungeborene Kind entwickle sich in der Schwangerschaft nicht zum Menschen, sondern als Mensch. Alle Versuche, Abtreibung, embryonale Stammzellforschung oder Präimplantationsdiagnostik damit zu rechtfertigen, dass der Embryo, der abgetrieben oder für die Stammzellforschung genutzt werden soll, noch gar kein Mensch sei, sind damit ad absurdum geführt. Die Präimplantationsdiagnostik mit einer "Ethik des Heilens" rechtfertigen zu wollen, sei eine Irreführung, weil kranke Embryonen ja nicht geheilt, sondern getötet werden. Spaemann kritisierte alle Versuche, die Instrumentalisierung des Embryos damit zu rechtfertigen, dass sie bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, beispielsweise der Nidation, zwar menschliches Leben, aber noch kein Mensch seien. Es gebe kein anonymes menschliches Leben.

Spaemann hat den Stimmlosen eine Stimme gegeben. Er war, wie Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika "Evangelium Vitae", davon überzeugt, dass die Stimmlosen der Gegenwart die ungeborenen Kinder sind. Als das Zentralkomitee der deutschen Katholiken dem Katholikentag 2008 in Osnabrück das Motto gab, "Den Stimmlosen eine Stimme geben", ohne die durch Abtreibung, embryonale Stammzellforschung, Präimplantationsdiagnostik oder In-Vitro-Fertilisation bedrohten Ungeborenen mit eigenen Veranstaltungen zu würdigen, folgte er meiner Einladung zu einer Ringvorlesung zu Problemen des Lebensschutzes in der Demokratie, die ich im Sommersemester 2008 jeden Freitag durchführte, um auch den Freitag des Katholikentages belegen zu können. Vor zahlreichen Zuhörern auch aus den Reihen der Katholikentagsteilnehmer erörterte er die Frage, wann der Anspruch des Menschen auf staatlichen Schutz des Lebens beginne, eben mit der Zeugung.

Am Anfang der modernen bioethischen Probleme steht die In-Vitro-Fertilisation. Sie ist die Voraussetzung der embryonalen Stammzellforschung, der Präimplantationdiagnostik und der Gentherapie. Spaemann hat sie als actus intrinsice malus, als von innen her schlechtem Akt abgelehnt – nicht nur, weil ihr zahlreiche Embryonen zum Opfer fallen, sondern weil sie das Kind zum Produkt der Reproduktionsmedizin degradiere und somit die fundamentale Gleichheit der Menschen verletze. Die eigentliche Degradierung sei die der Eltern selbst. Die Abkoppelung der Weitergabe des Lebens vom Zeugungsakt eröffne "ein grauenerregendes Feld, das durch Stichworte wie Handel mit Embryonen, Experimente mit Embryonen, Leihmütter usw. gekennzeichnet ist", schrieb Spaemann schon 1987 in seinem Kommentar zur Instruktion der Glaubenskongregation der katholischen Kirche über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung "Donum Vitae". Zeugung und Schwangerschaft seien anthropologische Grundbefindlichkeiten, nicht technische Produktionsvorgänge. Spaemann war hier konsequenter als Jürgen Habermas, der in seiner Kritik der liberalen Eugenik erst in der Präimplantationsdiagnostik diese Verletzung der fundamentalen Gleichheit der Menschen sah.

"Es gibt kein gutes Töten", dies war die Überzeugung von Spaemann in der Debatte um den assistierten Suizid und der Titel seiner Reflexionen zum Thema Euthanasie und Selbstmord. Selbstmord sei kein Recht, sondern eine Handlung, die sich der Rechtssphäre entzieht. Von ihr führe kein Weg zu irgendeinem Recht, einen anderen zu töten, bzw. von einem anderen getötet zu werden. Eine Gemeinschaft sei wesentlich konstituiert durch die gegenseitige und vorbehaltlose Bejahung der Existenz eines jeden anderen bis zu deren natürlichem Ende, ja der Mitverantwortung für diese Existenz. Das Angebot des assistierten Selbstmords wäre der infamste und billigste Ausweg, um sich der Solidarität mit den Schwächsten zu entziehen. Für Schwerkranke und Sterbende sei nicht die Euthanasie, sondern die Hospiz-Bewegung die richtige Antwort.

Spaemann war ein Verteidiger des Lebensrechts, der seine Positionen begründete, der nicht müde wurde, in Büchern, Zeitungsartikeln, Interviews und Vorträgen zu argumentieren und Kollegen, Verbände, Bischöfe und Päpste zu beraten. Die Lebensrechtsbewegung nicht nur in Deutschland ist ihm zu großem Dank verpflichtet. Ich bin ihm besonders dankbar für einen knappen Brief, den er mir im Mai 2017 zukommen ließ, nachdem er von einer schweren und unheilbaren Erkrankung erfahren hatte, die meine Familie traf. Er schrieb nur einen Satz: "Ich denke sehr an Sie und die Prüfung, die Ihnen abverlangt wird". Spaemann hat seinen Weg vollendet. Er sieht nun mit entschleierten Augen den, der selbst das Leben, der Weg und die Wahrheit ist.

Manfred Spieker ist emeritierter Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück.

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