Ich begegnete Robert Spaemann zum ersten Mal am 15. August 1988. Ich war damals Seelsorger eines kleinen, aufkeimenden Pflänzchens, nämlich der Stuttgarter Gemeinde der Petrusbruderschaft, die wir, zwölf Priester und ein Diakon, erst einen Monat zuvor gegründet hatten. Spaemann hatte von dieser Gründung gehört und wollte uns kennenlernen. Über einige Umwege gelang es ihm, den Kontakt zu mir herzustellen. Er und seine Frau luden mich mit einigen Gemeindemitgliedern zu sich nach Hause ein. Frau Spaemann fragte mich im Laufe des Gesprächs, wo ich eigentlich wohne. Ich hatte am 9. Juli aus dem Priorat der Priesterbruderschaft St. Pius X., wo ich bis zu den Bischofsweihen am 30. Juni als Priester gelebt hatte, meine Sachen abgeholt und war nacheinander notdürftig in zwei Familien untergekommen. Ich antwortete, dass heute der letzte Tag sei, wo ich bei Familie X in Oberstenfeld wohnen könne. Wie es weitergehe, wisse ich nicht. Daraufhin bot mir das Ehepaar Spaemann sofort seine Wohnung an, in der ich dann für drei Monate bis zur Eröffnung unseres Wigratzbader Priesterseminars im November leben konnte. Zwischendurch fuhr es für drei Wochen in Urlaub, währenddessen es mir das Haus ganz allein überließ. Was für ein Vertrauensbeweis! Wegen einer Erkrankung wurden aus den drei Wochen sogar noch sechs Wochen.

So lernte ich Robert Spaemann kennen und schätzen. Wenn ich mit einem einzigen Wort seine Persönlichkeit beschreiben sollte, so würde ich sagen: lauter. Er war wie ein Nathanael, dem der Herr selber das Zeugnis ausstellte: "Seht, ein wahrer Israelit, in dem kein Falsch ist" (Joh 1, 47). Dabei war er zupackend und konsequent. Er entschied und handelte aus einer großen inneren Sicherheit heraus, mit klarem Blick und ohne ängstliches Zaudern.

Diese Begegnung und die Bücher seiner philosophischen Bibliothek, die mir in seiner Wohnung zur Verfügung stand, entfachten von neuem meine alte Leidenschaft für die Philosophie, und so entschloss ich mich, im Wintersemester 1988 in München bei ihm nochmals das Philosophiestudium aufzunehmen. Die erste Vorlesung, die ich bei ihm hörte, ging über Platon. Aber bald merkte ich: Spaemann ist in der ganzen Philosophiegeschichte zu Hause. Antike, mittelalterliche und neuzeitliche Philosophie sind ihm gleichermaßen vertraut. Es war, wie wenn er mit den Großen der Philosophie aus allen Jahrhunderten wie mit Freunden verkehrt, um ihre Einsichten in der ihm eigenen, originellen Weise von neuem zum Leuchten zu bringen und weiterzuentwickeln. Das exakte Gegenbild dazu ist etwa ein Richard Rorty. Dessen Belesenheit und Kenntnis der Philosophiegeschichte kann sich mit der Spaemanns messen lassen. Aber in ihm kulminiert die dekonstruktive Traditionslinie der Philosophie. Denn die Geschichte der Philosophie ist ja nicht nur eine der Einsichten, sondern auch der Irrtümer. Rorty sammelt die Letzteren wie die Löcher im Schweizer Käse, um zum Schluss nichts mehr in der Hand zu haben und die Philosophie zu verabschieden. Sie bringt nichts fürs Leben. Sein Leben muss sich Rorty außerhalb dessen einrichten, was als Ertrag aus der philosophischen Anstrengung herauskommt. Bei Spaemann ist es umgekehrt: Das Haus seiner Philosophie ist gleichzeitig auch dasjenige, in dem er tatsächlich lebt. Er lebte, was er lehrte. Seine Lehre, seine Erkenntnisse über Gut und Böse, über Glück und Wohlwollen, über Gott und die Welt haben die harte Probe der Lebenspraxis bestanden. Spaemann als Mensch zu kennen und als Philosoph zu hören, war deshalb für mich eine der größten Bereicherungen meines Lebens.

Die Kongruenz von Lehre und Leben bei Spaemann war ihrerseits wiederum ein gelebter Beweis für die Kongruenz zwischen Vernunft und Wirklichkeit, die Spaemann so sehr am Herzen lag. In einem Interview meinte er einmal: Wenn heutzutage noch jemand die Vernunft verteidigt, kann man fast sicher sein, dass es ein Katholik sei. Auch die Vernunft ist ja nichts anderes mehr als eine Ruine auf dem Trümmerfeld, das jene Löchersammler wie Rorty zurücklassen, wenn sie einmal damit anfangen, Vernunft und Realität aus ihrer sie vereinigenden Verankerung herauszureißen, die Gott heißt. Deshalb konnte Spaemann im Umkehrschluss aus der Nietzscheanischen Zerstörung der Vernunft einen Gottesbeweis machen.

Ich bin Spaemann zeit seines Lebens in Freundschaft verbunden geblieben. Immer wieder hat er mich zu einem Besuch eingeladen, und etwa alle ein bis zwei Jahre ist es auch dazu gekommen. Mit wachem Geist hat er alle Entwicklungen in Philosophie, Gesellschaft und Kirche verfolgt. Er war kein Freund der Schönfärberei, aber gleichzeitig von einer so heiteren Gelassenheit, dass man merkte: Die schlimmen Zeitläufte können dem Frieden seiner Seele nichts anhaben. Dieser hatte seine Quellen woanders. Davon zeugen seine Psalmenmeditationen, die er über Jahrzehnte hinweg niedergeschrieben hatte und schließlich nach Abschluss seiner philosophischen Editionen auch publizierte. Er hatte keine Angst vor dem Tod. Er war sich der ewigen Heimat sicher. Jetzt darf er schauen, was er als Philosoph gedacht und als Christ geglaubt und erhofft hatte.

Pater Engelbert Recktenwald ist Priester der Petrusbruderschaft und Schüler von Robert Spaemann. Er betreibt das "Portal zur Katholischen Geisteswelt" und wirkt als Seelsorger in Hannover.   

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