Gaudete et Exsultate: Das ganze Papstschreiben über die Heiligkeit in voller Länge

Papst Franziskus
CNA Deutsch / Daniel Ibanez

Mit dem Ruf zur Heiligkeit eines jeden Menschen beschäftigt sich das Schreiben Gaudete et Exsultate – "Freut Euch und Jubelt" von Papst Franziskus.

CNA dokumentiert den vollen Wortlaut des Schreibens, wie ihn der Vatikan am heutigen 9. April 2018 veröffentlicht hat.

APOSTOLISCHES SCHREIBEN
GAUDETE ET EXSULTATE
DES HEILIGEN VATERS
PAPST FRANZISKUS
ÜBER DEN RUF ZUR HEILIGKEIT IN DER WELT VON HEUTE

 

  1. »Freut euch und jubelt« (Mt5,12), sagt Jesus denen, die um seinetwillen verfolgt oder gedemütigt werden. Der Herr fordert alles; was er dafür anbietet, ist wahres Leben, das Glück, für das wir geschaffen wurden. Er will, dass wir heilig sind, und erwartet mehr von uns, als dass wir uns mit einer mittelmäßigen, verwässerten, flüchtigen Existenz zufriedengeben. Der Ruf zur Heiligkeit ist nämlich von den ersten Seiten der Bibel an auf verschiedene Weise präsent. So erging die Aufforderung des Herrn an Abraham: »Geh vor mir und sei untadelig!« (Gen17,1).
  2. Es soll hier nicht um eine Abhandlung über die Heiligkeit gehen, mit vielen Definitionen und Unterscheidungen, die dieses wichtige Thema bereichern könnten, oder mit Analysen, die über die Mittel der Heiligung anzustellen wären. Mein bescheidenes Ziel ist es, den Ruf zur Heiligkeit einmal mehr zum Klingen zu bringen und zu versuchen, ihn im gegenwärtigen Kontext mit seinen Risiken, Herausforderungen und Chancen Gestalt annehmen zu lassen. Denn der Herr hat jeden von uns erwählt, damit wir in der Liebe »heilig und untadelig leben vor ihm« (Eph1,4).

                                                                   

ERSTES KAPITEL

DER RUF ZUR HEILIGKEIT

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Die Heiligen, die uns ermutigen und begleiten

  1. Im Hebräerbrief werden verschiedene Zeugen genannt, die uns ermutigen sollen, »mit Ausdauer in dem Wettkampf [zu] laufen, der vor uns liegt« (12,1). Die Rede ist von Abraham, Sara, Mose, Gideon und einigen anderen (vgl. Kapitel 11); vor allem werden wir eingeladen, zu erkennen, dass wir »eine solche Wolke von Zeugen um uns haben« (12,1), die uns dazu anspornen, auf unserem Weg nicht stehen zu bleiben, und uns ermutigen, weiter dem Ziel entgegen zu gehen. Unter ihnen sind vielleicht unsere eigene Mutter, eine Großmutter oder andere Menschen, die uns nahestehen (vgl.2 Tim1,5). Vielleicht war ihr Leben nicht immer perfekt, aber trotz aller Fehler und Schwächen gingen sie weiter voran und gefielen dem Herrn.
  2. Die Heiligen, die bereits in der Gegenwart Gottes sind, unterhalten mit uns Bande der Liebe und der Gemeinschaft. Das Buch der Offenbarung des Johannes bezeugt dies, wenn es von den Märtyrern spricht, die für uns eintreten: Ich sah »unter dem Altar die Seelen aller, die hingeschlachtet worden waren wegen des Wortes Gottes und wegen des Zeugnisses, das sie abgelegt hatten. Sie riefen mit lauter Stimme und sagten: Wie lange zögerst du noch, Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, Gericht zu halten?« (6,9-10). Wir können sagen: »Wir sind von den Freunden Gottes umgeben, geleitet und geführt. [...] Ich brauche nicht allein zu tragen, was ich wahrhaftig allein nicht tragen könnte. Die Schar der Heiligen Gottes schützt und stützt und trägt mich.«[1]
  3. In den Selig- und Heiligsprechungsprozessen werden neben den Zeichen eines heroischen Tugendgrades und der Hingabe des Lebens im Martyrium auch diejenigen Fälle berücksichtigt, in denen eine bis zum Tod durchgehaltene Aufopferung des eigenen Lebens für andere erfolgt ist. Diese Hingabe ist Ausdruck einer vorbildlichen Nachahmung Christi und der Bewunderung der Gläubigen würdig.[2]Erinnern wir uns zum Beispiel an die selige Maria Gabriela Sagheddu, die ihr Leben für die Einheit der Christen aufopferte.

 

Die Heiligen von nebenan

  1. Denken wir nicht nur an die, die bereits selig- oder heiliggesprochen wurden. Der Heilige Geist verströmt Heiligkeit überall, in das ganze heilige gläubige Gottesvolk hinein, denn es hat Gott gefallen, »die Menschen nicht einzeln und unabhängig von aller wechselseitigen Verbindung zu heiligen und zu retten, sondern sie zu einem Volke zu machen, das ihn in Wahrheit anerkennen und ihm in Heiligkeit dienen soll«.[3]Der Herr hat in der Heilsgeschichte ein Volk gerettet. Es gibt keine vollständige Identität ohne Zugehörigkeit zu einem Volk. Deshalb kann sich niemand allein, als isoliertes Individuum, retten, sondern Gott zieht uns an, wobei er das komplexe Geflecht zwischenmenschlicher Beziehungen berücksichtigt, das der menschlichen Gemeinschaft innewohnt: Gott wollte in eine soziale Dynamik eintreten, in die Dynamik eines Volkes.
  2. Es gefällt mir, die Heiligkeit im geduldigen Volk Gottes zu sehen: in den Eltern, die ihre Kinder mit so viel Liebe erziehen, in den Männern und Frauen, die arbeiten, um das tägliche Brot nach Hause zu bringen, in den Kranken, in den älteren Ordensfrauen, die weiter lächeln. In dieser Beständigkeit eines tagtäglichen Voranschreitens sehe ich die Heiligkeit der streitenden Kirche. Oft ist das die Heiligkeit „von nebenan“, derer, die in unserer Nähe wohnen und die ein Widerschein der Gegenwart Gottes sind, oder, um es anders auszudrücken, „die Mittelschicht der Heiligkeit“.[4]
  3. Lassen wir uns anregen von den Zeichen der Heiligkeit, die uns der Herr durch die einfachsten Glieder dieses Volkes schenkt, das auch teilnimmt »an dem prophetischen Amt Christi, in der Verbreitung seines lebendigen Zeugnisses vor allem durch das Leben in Glauben und Liebe«.[5]Denken wir mit der heiligen Teresia Benedicta vom Kreuz (Edith Stein) daran, dass viele von ihnen die Gestalter der wahren Geschichte sind: »Aus der dunkelsten Nacht treten die größten Propheten – Heiligengestalten hervor. Aber zum großen Teil bleibt der gestaltende Strom des mystischen Lebens unsichtbar. Sicherlich werden die entscheidenden Wendungen in der Weltgeschichte wesentlich mitbestimmt durch Seelen, von denen kein Geschichtsbuch etwas meldet. Und welchen Seelen wir die entscheidenden Wendungen in unserem persönlichen Leben verdanken, das werden wir auch erst an dem Tage erfahren, an dem alles Verborgene offenbar wird.«[6]
  4. Die Heiligkeit ist das schönste Gesicht der Kirche. Aber auch außerhalb der Katholischen Kirche und in sehr unterschiedlichen Umgebungen weckt der Geist »Zeichen seiner Gegenwart, die selbst den Jüngern Christi helfen«.[7]Im Übrigen erinnerte uns der heilige Johannes Paul II. daran, dass »das Zeugnis für Christus bis hin zum Blutvergießen […] zum gemeinsamen Erbe von Katholiken, Orthodoxen, Anglikanern und Protestanten geworden«[8]ist. Bei der schönen ökumenischen Gedächtnisfeier im Jubiläumsjahr 2000 im Kolosseum sagte er, dass die Märtyrer »ein Erbe [sind], das lauter spricht als die Faktoren der Trennung«.[9]

 

Der Herr ruft

  1. All dies ist wichtig. Was ich jedoch mit diesem Schreiben in Erinnerung rufen möchte, ist vor allem der Ruf zur Heiligkeit, den der Herr an jeden und jede von uns richtet, den Ruf, den er auch an dich richtet: »Seid heilig, weil ich heilig bin« (Lev11,44;1 Petr1,16). Das Zweite Vatikanische Konzil hat das sehr deutlich hervorgehoben: »Mit so reichen Mitteln zum Heile ausgerüstet, sind alle Christgläubigen in allen Verhältnissen und in jedem Stand je auf ihrem Wege vom Herrn berufen zu der Vollkommenheit in Heiligkeit, in der der Vater selbst vollkommen ist.«[10]
  2. »Je auf ihrem Wege«, sagt das Konzil. Es geht also nicht darum, den Mut zu verlieren, wenn man Modelle der Heiligkeit betrachtet, die einem unerreichbar erscheinen. Es gibt Zeugnisse, die als Anregung und Motivation hilfreich sind, aber nicht als zu kopierendes Modell. Das könnte uns nämlich sogar von dem einzigartigen und besonderen Weg abbringen, den der Herr für uns vorgesehen hat. Worauf es ankommt, ist, dass jeder Gläubige seinen eigenen Weg erkennt und sein Bestes zum Vorschein bringt, das, was Gott so persönlich in ihn hineingelegt hat (vgl.1 Kor12,7), und nicht, dass er sich verausgabt, indem er versucht, etwas nachzuahmen, das gar nicht für ihn gedacht war. Wir sind alle aufgerufen, Zeugen zu sein, aber es gibt »viele existentielle Weisen der Zeugenschaft«.[11] Als der große heilige Mystiker Johannes vom Kreuz seinen Geistlichen Gesang schrieb, zog er es fürwahr vor, feste allgemeingültige Regeln zu vermeiden, und erklärte, dass seine Verse so geschrieben seien, dass jeder sie »gemäß seiner Eigenart«[12] nutzen könne. Denn das göttliche Leben teilt sich »den einen auf diese, den anderen auf jene Weise«[13] mit.
  3. In Bezug auf diese verschiedenen Weisen möchte ich eigens betonen, dass sich der „weibliche Genius“ auch in weiblichen Stilen der Heiligkeit manifestiert, die unentbehrlich sind, um die Heiligkeit Gottes in dieser Welt widerzuspiegeln. Gerade auch in Zeiten, in denen die Frauen stark eingeschränkt waren, hat der Heilige Geist Heilige erweckt, deren Leuchtkraft zu neuen geistlichen Dynamiken und wichtigen Reformen in der Kirche geführt hat. Wir können hier etwa die heilige Hildegard von Bingen, die heilige Birgitta von Schweden, die heilige Katharina von Siena, die heilige Teresa von Ávila oder die heilige Thérèse von Lisieux nennen. Aber ich möchte hier besonders auch an so viele unbekannte oder vergessene Frauen erinnern, die, jede auf ihre eigene Art und Weise, Familien und Gemeinschaften mit der Kraft ihres Zeugnisses getragen und verwandelt haben.
  4. Das sollte jeden und jede dazu anregen und ermutigen, alles zu geben, um auf den einzigartigen und unwiederholbaren Entwurf hin zu wachsen, den Gott von Ewigkeit her für ihn oder sie wollte: »Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt« (Jer1,5).

 

Auch für dich

  1. Um heilig zu sein, muss man nicht unbedingt Bischof, Priester, Ordensmann oder Ordensfrau sein. Oft sind wir versucht zu meinen, dass die Heiligkeit nur denen vorbehalten sei, die die Möglichkeit haben, sich von den gewöhnlichen Beschäftigungen fernzuhalten, um viel Zeit dem Gebet zu widmen. Es ist aber nicht so. Wir sind alle berufen, heilig zu sein, indem wir in der Liebe leben und im täglichen Tun unser persönliches Zeugnis ablegen, jeder an dem Platz, an dem er sich befindet. Bist du ein Gottgeweihter oder eine Gottgeweihte? Sei heilig, indem du deine Hingabe freudig lebst. Bist du verheiratet? Sei heilig, indem du deinen Mann oder deine Frau liebst und umsorgst, wie Christus es mit der Kirche getan hat. Bist du ein Arbeiter? Sei heilig, indem du deine Arbeit im Dienst an den Brüdern und Schwestern mit Redlichkeit und Sachverstand verrichtest. Bist du Vater oder Mutter, Großvater oder Großmutter? Sei heilig, indem du den Kindern geduldig beibringst, Jesus zu folgen. Hast du eine Verantwortungsposition inne? Sei heilig, indem du für das Gemeinwohl kämpfst und auf deine persönlichen Interessen verzichtest.[14]
  2. Lass zu, dass die Taufgnade in dir Frucht bringt auf einem Weg der Heiligkeit. Lass zu, dass alles für Gott offen ist, und dazu entscheide dich für ihn, erwähle Gott ein ums andere Mal neu. Verlier nicht den Mut, denn du besitzt die Kraft des Heiligen Geistes, um das möglich zu machen. Im Grunde ist die Heiligkeit die Frucht des Heiligen Geistes in deinem Leben (vgl.Gal5,22-23). Wenn du die Versuchung verspürst, dich in deiner Schwäche zu verstricken, dann richte deine Augen auf den Gekreuzigten und sage: „Herr, ich bin ein armseliger Mensch, aber du kannst das Wunder vollbringen, mich ein wenig besser zu machen.“ In der Kirche, die heilig ist und zugleich aus Sündern besteht, findest du alles, was du brauchst, um auf dem Weg zur Heiligkeit zu wachsen. Der Herr hat sie mit reichen Gaben beschenkt: mit dem Wort, den Sakramenten, den Heiligtümern, dem Leben der Gemeinschaften, dem Zeugnis der Heiligen und mit einer vielfältigen Schönheit, die aus der Liebe zum Herrn kommt, »wie eine Braut, die ihr Geschmeide anlegt« (Jes 61,10).
  3. Diese Heiligkeit, zu der der Herr dich ruft, wächst und wächst durch kleine Gesten. Eine Frau geht beispielsweise auf den Markt zum Einkaufen, trifft dabei eine Nachbarin, beginnt ein Gespräch mit ihr, und dann wird herumkritisiert. Trotzdem sagt diese Frau innerlich: „Nein, ich werde über niemanden schlecht reden.“ Das ist ein Schritt hin zur Heiligkeit. Zu Hause möchte ihr Kind dann über seine Phantasien sprechen, und obwohl sie müde ist, setzt sie sich zu ihm und hört ihm mit Geduld und Liebe zu. Das ist ein weiteres Opfer, das heilig macht. Dann erlebt sie etwas Beängstigendes, aber sie erinnert sich an die Liebe der Jungfrau Maria, nimmt den Rosenkranz und betet gläubig. Das ist ein weiterer Weg der Heiligkeit. Dann geht sie aus dem Haus, trifft einen Armen und bleibt stehen, um liebevoll mit ihm zu reden. Das ist ein weiterer Schritt.
  4. Manchmal stellt einen das Leben vor größere Herausforderungen und durch sie lädt uns der Herr zu neuen Veränderungen ein, die es ermöglichen, dass seine Gnade in unserer Existenz deutlicher offenbar wird, »damit wir Anteil an seiner Heiligkeit gewinnen« (Hebr12,10). Ein anderes Mal geht es nur darum, etwas, das wir bereits tun, auf eine vollkommenere Art und Weise zu tun: »Es gibt Eingebungen, die nur auf eine außergewöhnliche Vollkommenheit gewöhnlicher Übungen des christlichen Lebens hinzielen.«[15]Als Kardinal François-Xavier Nguyên Van Thuân im Gefängnis saß, verzichtete er darauf, sich in Erwartung seiner Freilassung aufzureiben. Er entschied: »Ich lebe in diesem Augenblick und werde ihn mit Liebe füllen«; und die Art und Weise, in der dies konkret wird, ist folgende: »Nütze jeden Tag die Gelegenheit, um kleine Dinge in großartiger Weise zu erledigen.«[16]
  5. So verleihen wir durch den Anstoß der göttlichen Gnade mit vielen Gesten jener Heiligkeit Gestalt, die Gott uns zugedacht hat, aber nicht als sich selbst genügende Wesen, sondern »als gute Verwalter der vielfältigen Gnade Gottes« (1 Petr4,10). Die neuseeländischen Bischöfe haben uns gezeigt, dass es möglich ist, mit der bedingungslosen Liebe des Herrn zu lieben, weil der Auferstandene sein machtvolles Leben mit unserem zerbrechlichen Leben teilt: »Seine Liebe kennt keine Grenzen, und einmal gewährt, wurde sie nie zurückgenommen. Sie war bedingungslos und blieb treu. So zu lieben ist nicht einfach, weil wir oft so schwach sind. Aber gerade der Versuch, so zu lieben, wie Christus uns geliebt hat, zeigt, dass Christus sein eigenes Leben als Auferstandener mit uns teilt. Auf diese Weise zeugt unser Leben von seiner Wirkmacht, selbst inmitten menschlicher Schwäche.«[17]

 

Deine Sendung in Christus

  1. Für einen Christen ist es unmöglich, an seine eigene Sendung auf Erden zu denken, ohne sie als einen Weg der Heiligkeit zu begreifen, denn das »ist es, was Gott will: eure Heiligung« (1 Thess4,3). Jeder Heilige ist eine Sendung; er ist ein Entwurf des Vaters, um zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte einen Aspekt des Evangeliums widerzuspiegeln und ihm konkrete Gestalt zu verleihen.
  2. Diese Sendung hat ihren vollen Sinn in Christus und kann nur von ihm her verstanden werden. Im Tiefsten bedeutet Heiligkeit, in Einheit mit ihm die Geheimnisse seines Lebens zu leben. Sie besteht darin, sich auf einzigartige und persönliche Weise mit dem Tod und der Auferstehung des Herrn zu verbinden, ständig mit ihm zu sterben und mit ihm aufzuerstehen. Es kann aber auch beinhalten, in der eigenen Existenz verschiedene Aspekte des irdischen Lebens Jesu nachzubilden: sein verborgenes Leben, sein Leben in der Gemeinschaft, seine Nähe zu den Geringsten, seine Armut und andere Erscheinungsformen seiner Hingabe aus Liebe. Die Betrachtung dieser Geheimnisse, wie sie der heilige Ignatius von Loyola vorgeschlagen hat, führt uns dazu, sie in unseren Entscheidungen und Haltungen immer mehr zu verwirklichen.[18]Denn »im Leben Jesu ist alles [...] Zeichen seines innersten Geheimnisses«,[19]»das ganze Leben Christi ist [...] Offenbarung des Vaters«,[20] »das ganze Leben Christi ist Erlösungsgeheimnis«,[21] »das ganze Leben Christi ist ein Mysterium der erneuten Zusammenfassung von allem unter ein Haupt«[22] und »alles, was Christus gelebt hat, lässt er uns in ihm leben und er lebt es in uns«.[23]
  3. Der Heilsplan des Vaters ist Christus, und wir in ihm. Letztendlich ist es Christus, der in uns liebt, denn Heiligkeit ist »nichts anderes als die in Fülle gelebte Liebe«.[24]Deshalb ist das Maß der Heiligkeit durch die Gestalt gegeben, die Christus in uns annimmt, dadurch, wie sehr wir in der Kraft des Heiligen Geistes unser ganzes Leben nach seinem Leben formen.[25]So ist jeder Heilige eine Botschaft, die der Heilige Geist aus dem Reichtum Jesu Christi schöpft und seinem Volk schenkt.
  4. Um zu erkennen, welches Wort der Herr durch einen Heiligen sagen will, ist es nicht ratsam, sich mit Details aufzuhalten, denn es kann da auch Fehler und Schwächen geben. Nicht alles, was ein Heiliger sagt, ist dem Evangelium vollkommen treu, nicht alles, was er tut, ist authentisch oder perfekt. Was wir betrachten müssen, ist die Gesamtheit seines Lebens, sein ganzer Weg der Heiligung, jene Gestalt, die etwas von Jesus Christus widerspiegelt und die zum Vorschein kommt, wenn es gelingt, den Sinn der Gesamtheit seiner Person auszumachen.[26]
  5. Das ist ein starker Aufruf an uns alle. Auch du musst dein Leben im Ganzen als eine Sendung begreifen. Versuche dies, indem du Gott im Gebet zuhörst und die Zeichen recht deutest, die er dir gibt. Frage immer den Heiligen Geist, was Jesus von dir in jedem Moment deiner Existenz und bei jeder Entscheidung, die du treffen musst, erwartet, um herauszufinden, welchen Stellenwert es für deine Sendung hat. Und erlaube dem Geist, in dir jenes persönliche Geheimnis zu formen, das Jesus Christus in der Welt von heute widerscheinen lässt.
  6. Hoffentlich kannst du erkennen, was dieses Wort ist, diese Botschaft Jesu, die Gott der Welt mit deinem Leben sagen will. Lass dich verwandeln, lass dich vom Geist erneuern, damit dies möglich wird und damit deine wertvolle Sendung nicht scheitert. Der Herr wird sie auch inmitten all deiner Fehler und schlechten Momente zur Vollendung führen, wenn du nur den Weg der Liebe nicht verlässt und immer offen bleibst für sein übernatürliches Wirken, welches reinigt und erleuchtet.

 

Heiligmachendes Tun

  1. Wie man Christus nicht verstehen kann ohne das Reich, das zu bringen er gekommen war, so ist auch deine eigene Sendung untrennbar mit dem Aufbau jenes Reiches verbunden: »Sucht aber zuerst sein Reich und seine Gerechtigkeit« (Mt6,33). Deine Identifikation mit Christus und seinen Wünschen impliziert das Bemühen, mit ihm das Reich der Liebe, der Gerechtigkeit und des Friedens für alle zu errichten. Christus selbst will es mit dir leben, in all den Anstrengungen oder Entsagungen, die es mit sich bringt, wie auch in den Freuden und der Fruchtbarkeit, die es für dich bereithält. Deshalb wirst du dich nicht heiligen, ohne dich mit Leib und Seele hinzugeben, um in diesem Bemühen dein Bestes zu geben.
  2. Es ist nicht gesund, die Stille zu lieben und die Begegnung mit anderen zu meiden, Ruhe zu wünschen und Aktivität abzulehnen, das Gebet zu suchen und den Dienst zu verachten. Alles kann als Teil der eigenen Existenz in dieser Welt akzeptiert und integriert werden und sich in den Weg der Heiligung einfügen. Wir sind aufgerufen, die Kontemplation auch inmitten des Handelns zu leben, und wir heiligen uns in der verantwortlichen und großherzigen Ausübung der eigenen Sendung.
  3. Kann der Heilige Geist uns etwa dazu anspornen, eine Mission zu erfüllen, und uns gleichzeitig auffordern, vor ihr zu flüchten oder uns nicht ganz hinzugeben, um den inneren Frieden zu bewahren? Manchmal sind wir jedenfalls versucht, die pastorale Hingabe oder das Engagement in der Welt als zweitrangig zu betrachten, als wären sie „Ablenkungen“ auf dem Weg der Heiligung und des inneren Friedens. Man vergisst dabei, dass »das Leben nicht eine Mission hat, sondern eine Mission ist«.[27]
  4. Ein Einsatz, der von der Angst, vom Stolz oder vom Bedürfnis, gut dazustehen und zu herrschen, motiviert ist, wird sicherlich nicht heiligend sein. Die Herausforderung besteht darin, die eigene Selbsthingabe so zu leben, dass die Bemühungen einen dem Evangelium entsprechenden Sinn haben und uns immer mehr Jesus Christus angleichen. Deshalb ist es üblich, z.B. von einer Spiritualität des Katecheten, von einer Spiritualität des Diözesanklerus, von einer Spiritualität der Arbeit zu sprechen. Aus demselben Grund schloss ichEvangelii gaudiummit einer Spiritualität der Mission, Laudato si mit einer ökologischen Spiritualität und Amoris laetitia mit einer Spiritualität des Familienlebens.
  5. Das bedeutet nicht, die Momente der Ruhe, der Einsamkeit und der Stille vor Gott zu verachten. Ganz im Gegenteil. Die ständig neuen technologischen Errungenschaften, die Attraktivität des Reisens, die unzähligen Konsumangebote lassen nämlich dem Erklingen der Stimme Gottes manchmal keinen Raum. Alles füllt sich in immer größerer Geschwindigkeit mit Worten, oberflächlichem Genuss und Lärm. Dort herrscht keine Freude, sondern die Unzufriedenheit derer, die nicht wissen, wofür sie leben. Wie können wir da nicht erkennen, dass wir dieses hektische Rennen stoppen müssen, um einen persönlichen Raum wiederzuerlangen, was manchmal schmerzhaft, aber letztlich immer fruchtbar ist, in dem ein aufrichtiger Dialog mit Gott aufgenommen wird? Irgendwann werden wir uns mit der Wahrheit über uns selbst konfrontieren müssen, um sie vom Herrn durchdringen zu lassen, und das gelingt nicht immer, »wenn man nicht auf einmal an den Rand des Abgrunds, der schwersten Versuchung gerät, ausgesetzt auf den Klippen der Verlassenheit, ausgesetzt auf einem einsamen Gipfel, wo man den Eindruck hat, völlig im Stich gelassen zu sein«.[28]Auf diese Weise finden wir die wichtigen Beweggründe, die uns antreiben, unsere Aufgaben bis in die Tiefe zu leben.
  6. Die gleichen Ablenkungsmöglichkeiten, die das moderne Leben überfluten, führen auch zu einer Verabsolutierung der Freizeit, in der wir die Geräte, die uns Unterhaltung oder kurzlebige Vergnügen bieten, uneingeschränkt nutzen können.[29]Die Konsequenz ist, dass unsere eigentliche Sendung darunter leidet, dass das Engagement schwächer wird und der großzügige und bereitwillige Dienst nachzulassen beginnt. Dies entstellt das spirituelle Leben. Kann denn ein spiritueller Eifer gesund sein, der mit einer Trägheit in der Verkündigung des Glaubens oder im Dienst an den anderen einhergeht?
  7. Wir brauchen einen Geist der Heiligkeit, der sowohl die Einsamkeit als auch den Dienst, die Innerlichkeit wie auch den Einsatz für die Verkündigung durchdringt, damit jeder Moment ein Ausdruck hingebungsvoller Liebe unter den Augen Gottes ist. So werden all diese Momente zu Stufen auf unserem Weg der Heiligung.

 

Lebendiger, menschlicher

  1. Hab keine Angst vor der Heiligkeit. Sie wird dir nichts an Kraft, Leben oder Freude nehmen. Ganz im Gegenteil, denn du wirst dabei zu dem Menschen werden, an den der Vater dachte, als er dich erschaffen hat, und du wirst deinem eigenen Wesen treu bleiben. Von Gott abzuhängen befreit uns von der Sklaverei und lässt uns unsere Würde erkennen. Dies wird an der heiligen Josephine Bakhita sichtbar. Sie wurde »im zarten Alter von sieben Jahren als Sklavin verkauft und hatte unter grausamen Herren schwere Leiden zu ertragen. Dennoch verstand sie die tiefe Wahrheit, dass Gott, und nicht der Mensch, der wahre Herr eines jeden Menschen und Menschenlebens ist. Diese Erfahrung wurde für diese demütige Tochter Afrikas zur Quelle großer Weisheit.«[30]
  2. In dem Maß, in dem er sich heiligt, wird jeder Christ umso fruchtbarer für die Welt. Die Bischöfe Westafrikas haben uns gelehrt: »Im Geist der Neuevangelisierung sind wir berufen, dadurch evangelisiert zu werden und zu evangelisieren, dass ihr Getauften alle befähigt werdet, eure Rolle als Salz der Erde und Licht der Welt zu übernehmen, wo immer ihr seid.«[31]
  3. Fürchte dich nicht davor, höhere Ziele anzustreben, dich von Gott lieben und befreien zu lassen. Fürchte dich nicht davor, dich vom Heiligen Geist führen zu lassen. Die Heiligkeit macht dich nicht weniger menschlich, denn sie ist die Begegnung deiner Schwäche mit der Kraft der Gnade. Im Grunde genommen gibt es, wie Léon Bloy sagte, »nur eine Traurigkeit im Leben: kein Heiliger zu sein«.[32]

 

ZWEITES KAPITEL

ZWEI SUBTILE FEINDE DER HEILIGKEIT

 

  1. In diesem Rahmen möchte ich die Aufmerksamkeit auf zwei Verfälschungen der Heiligkeit lenken, die uns vom Weg abbringen könnten: der Gnostizismus und der Pelagianismus. Es sind zwei Häresien, die in den ersten christlichen Jahrhunderten aufgekommen sind, die aber weiterhin von alarmierender Aktualität sind. Auch heute lassen sich die Herzen vieler Christen, vielleicht ohne dass sie es bemerken, von diesen trügerischen Angeboten verführen. In ihnen kommt ein als katholische Wahrheit getarnter anthropozentrischer Immanentismus zum Ausdruck.[33]Betrachten wir diese zwei Formen vermeintlicher doktrineller oder disziplinarischer Sicherheit, »die Anlass gibt zu einem narzisstischen und autoritären Elitebewusstsein, wo man, anstatt die anderen zu evangelisieren, sie analysiert und bewertet und, anstatt den Zugang zur Gnade zu erleichtern, die Energien im Kontrollieren verbraucht. In beiden Fällen existiert weder für Jesus Christus noch für die Menschen ein wirkliches Interesse.«[34]

 

Der gegenwärtige Gnostizimus

  1. Der Gnostizismus setzt einen im Subjektivismus eingeschlossenen Glauben voraus, »bei dem einzig eine bestimmte Erfahrung oder eine Reihe von Argumentationen und Kenntnissen interessiert, von denen man meint, sie könnten Trost und Licht bringen, wo aber das Subjekt letztlich in der Immanenz seiner eigenen Vernunft oder seiner Gefühle eingeschlossen bleibt«.[35]

 

Ein Geist ohne Gott und ohne Fleisch

  1. Gott sei Dank wurde im Laufe der Geschichte der Kirche sehr deutlich, dass die Vollkommenheit der Menschen an ihrer Nächstenliebe gemessen wird, nicht an der Fülle erworbener Daten und Kenntnisse. Die „Gnostiker“ unterliegen in diesem Punkt einem Missverständnis und beurteilen die anderen ausgehend von der Überprüfung, ob sie in der Lage sind, die Tiefe bestimmter Lehren zu verstehen. Sie stellen sich einen Geist ohne Menschwerdung vor, der nicht in der Lage ist, das leidende Fleisch Christi in den anderen zu berühren, einen Geist, der in das Korsett einer Enzyklopädie von Abstraktionen geschnürt wird. Indem sie das Geheimnis entleiblichen, bevorzugen sie schließlich »eine[n] Gott[…] ohne Christus, eine[n] Christus ohne Kirche, ein[e] Kirche ohne Volk«.[36]
  2. Letztendlich handelt es sich um eine selbstgefällige Oberflächlichkeit: viel Bewegung an der Oberfläche des Geistes, aber die Tiefe des Denkens bewegt sich nicht, noch wird sie angerührt. Dennoch gelingt es, manche mit einer betrügerischen Faszination in den Bann zu ziehen, denn das gnostische Gleichgewicht ist formal und vermeintlich unpersönlich und kann den Anschein einer gewissen Harmonie oder einer allumfassenden Ordnung annehmen.
  3. Aber geben wir acht. Ich beziehe mich nicht auf die Rationalisten, die Feinde des christlichen Glaubens sind. Das hier kann innerhalb der Kirche vorkommen, ebenso sehr unter den Laien in den Pfarreien wie unter denjenigen, die in Bildungszentren Philosophie oder Theologie lehren. Denn es ist gerade den Gnostikern eigen zu glauben, dass sie mit ihren Erklärungen den ganzen Glauben und das ganze Evangelium vollkommen verständlich machen können. Sie verabsolutieren ihre eigenen Theorien und verpflichten die anderen, sich den von ihnen genutzten Argumentationen zu unterwerfen. Eine Sache ist der gesunde und demütige Gebrauch der Vernunft, um über die theologische und moralische Lehre des Evangeliums nachzudenken; etwas anderes ist es, danach zu streben, die Lehre Jesu auf eine kalte und harte Logik zu reduzieren, die alles zu beherrschen sucht.[37]

 

Eine Lehre ohne Geheimnis

  1. Der Gnostizismus ist eine der schlimmsten Ideologien. Er überbetont nämlich die Erkenntnis oder eine bestimmte Erfahrung und hält gleichzeitig seine eigene Sicht der Wirklichkeit für vollkommen. Auf diese Weise nährt sich diese Ideologie, vielleicht ohne es zu merken, von sich selbst und wird noch verblendeter. Zuweilen wird sie besonders trügerisch, wenn sie sich als entleiblichte Spiritualität tarnt. Denn der Gnostizismus will »von Natur aus dem Geheimnis die Flügel stutzen«,[38]dem Geheimnis Gottes und seiner Gnade genauso wie dem Geheimnis des Lebens der anderen.
  2. Wenn jemand Antworten auf alle Fragen hat, zeigt er damit, dass er sich nicht auf einem gesunden Weg befindet; möglicherweise ist er ein falscher Prophet, der die Religion zu seinem eigenen Vorteil nutzt und in den Dienst seiner psychologischen und geistigen sinnlosen Gedankenspiele stellt. Gott übersteigt uns unendlich, er ist immer eine Überraschung, und nicht wir bestimmen, unter welchen geschichtlichen Umständen wir auf ihn treffen, denn Zeit und Ort sowie Art und Weise der Begegnung hängen nicht von uns ab. Wer es ganz klar und deutlich haben will, beabsichtigt, die Transzendenz Gottes zu beherrschen.
  3. Genauso wenig kann man beanspruchen festzulegen, wo Gott nicht ist, weil er geheimnisvoll im Leben jeder Person anwesend ist, im Leben eines jeden, so, wie er will; wir können dies mit unseren vermeintlichen Gewissheiten nicht leugnen. Auch wenn jemandes Existenz eine Katastrophe gewesen sein sollte, auch wenn wir ihn von Lastern und Süchten zerstört sehen, ist Gott in seinem Leben da. Wenn wir uns mehr vom Geist als von unseren Überlegungen leiten lassen, können und müssen wir den Herrn in jedem menschlichen Leben suchen. Dies ist Teil des Mysteriums, das die gnostische Denkweise letztlich ablehnt, weil sie es nicht kontrollieren kann.

 

Die Grenzen der Vernunft

  1. Es gelingt uns kaum, die Wahrheit, die wir vom Herrn empfangen haben, zu verstehen. Unter größten Schwierigkeiten gelingt es uns, sie auszudrücken. Deshalb können wir nicht beanspruchen, dass unsere Art, die Wahrheit zu verstehen, uns ermächtigt, eine strenge Überwachung des Lebens der anderen vorzunehmen. Ich möchte daran erinnern, dass in der Kirche unterschiedliche Arten und Weisen der Interpretation vieler Aspekte der Lehre und des christlichen Lebens berechtigterweise koexistieren, die in ihrer Vielfalt »helfen, den äußerst reichen Schatz des Wortes besser deutlich zu machen«. Gewiss, »denjenigen, die sich eine monolithische, von allen ohne Nuancierungen verteidigte Lehre erträumen, mag das als Unvollkommenheit und Zersplitterung erscheinen«.[39]Genau genommen haben einige gnostische Strömungen die so konkrete Einfachheit des Evangeliums verachtet und versucht, den trinitarischen und menschgewordenen Gott durch eine höhere Einheit zu ersetzen, in der sich die reiche Vielfalt unserer Geschichte verflüchtigt hat.
  2. In Wirklichkeit ist die Lehre, oder besser unser Verständnis und unsere Ausdrucksweise derselben, »kein geschlossenes System, ohne Dynamiken, die Probleme, Fragen, Zweifel hervorbringen können«. »Die Fragen unseres Volkes, seine Leiden, seine Auseinandersetzungen, seine Träume, seine Kämpfe, seine Sorgen besitzen einen hermeneutischen Wert, den wir nicht unbeachtet lassen dürfen, wenn wir das Prinzip der Menschwerdung ernst nehmen wollen. Seine Fragen tragen dazu bei, dass wir uns Fragen stellen, seine Probleme stellen uns vor Probleme.«[40]
  3. Vielfach entsteht eine gefährliche Verwirrung: zu glauben, dass wir, weil wir etwas wissen oder es mit einer bestimmten Logik erklären können, schon heilig, vollkommen, besser als die „unwissende Masse“ sind. Der heilige Johannes Paul II. hat alle, die in der Kirche die Möglichkeit einer höheren Bildung haben, vor der Versuchung gewarnt, ein »gewisse[s] »Überlegenheitsgefühl gegenüber den anderen Gläubigen«[41]zu entwickeln. In Wirklichkeit sollte das, was wir zu wissen glauben, immer ein Ansporn sein, auf die Liebe Gottes besser zu antworten, denn »man lernt für das Leben: Theologie und Heiligkeit gehören untrennbar zusammen«.[42]
  4. Als der heilige Franz von Assisi sah, dass einige seiner Jünger in der Lehre unterrichteten, wollte er die Versuchung des Gnostizismus unterbinden. Deshalb schrieb er dem heiligen Antonius von Padua: »Es gefällt mir, dass du den Brüdern die heilige Theologie vorträgst, wenn du nur nicht durch dieses Studium den Geist des Gebetes und der Hingabe auslöschst.«[43]Er erkannte die Versuchung, die christliche Erfahrung in eine Ansammlung von geistigen Gedankenspielen umzuwandeln, die uns letztlich von der Frische des Evangeliums entfernen. Der heilige Bonaventura machte seinerseits darauf aufmerksam, dass die wahre christliche Weisheit nicht von der Barmherzigkeit gegenüber dem Nächsten getrennt werden darf: »Die größte Weisheit, die es geben kann, besteht darin, das fruchtbringend zu verteilen, was man zu geben hat, das, was man eben empfangen hat, um es auszuteilen […] Deshalb ist, so wie die Barmherzigkeit Freundin der Weisheit ist, der Geiz ihr Feind.«[44]»Es gibt Tätigkeiten, die, wenn sie sich mit der Kontemplation verbinden, diese nicht behindern, sondern erleichtern, wie die Werke der Barmherzigkeit und der Frömmigkeit.«[45]

 

Der gegenwärtige Pelagianismus

  1. Der Gnostizismus hat zu einer weiteren alten Häresie geführt, die auch heute anzutreffen ist. Im Laufe der Zeit begannen viele zu erkennen, dass es nicht die Erkenntnis ist, welche uns besser oder heiliger macht, sondern das Leben, das wir führen. Das Problem ist, dass dies langsam auf subtile Weise verfremdet wurde, so dass der gleiche Fehler der Gnostiker bloß verwandelt, aber nicht überwunden wurde.
  2. Denn einige begannen, die Macht, welche die Gnostiker dem Verstand beimaßen, dem menschlichen Willen zuzuerkennen, der persönlichen Anstrengung. So kamen die Pelagianer und die Semipelagianer auf. Es war nicht mehr der Verstand, der den Platz des Geheimnisses und der Gnade einnahm, sondern der Wille. Man vergaß, dass »es nicht auf das Wollen und Laufen des Menschen ankommt, sondern auf den sich erbarmenden Gott« (Röm9,16), und dass »er uns zuerst geliebt hat« (1 Joh4,19).

 

Ein Wille ohne Demut

  1. Diejenigen, die dieser pelagianischen oder semipelagianischen Mentalität entsprechen, verlassen sich, auch wenn sie mit süßlichen Reden von der Gnade Gottes sprechen, »letztlich einzig auf die eigenen Kräfte« und fühlen sich »den anderen überlegen […], weil sie bestimmte Normen einhalten oder weil sie einem gewissen katholischen Stil der Vergangenheit unerschütterlich treu sind«.[46]Wenn einige von ihnen sich an die Schwachen wenden und ihnen sagen, dass man mit der Gnade Gottes alles kann, pflegen sie im Grunde die Idee zu vermitteln, dass man alles mit dem menschlichen Willen kann, als ob dieser etwas Reines, Vollkommenes, Allmächtiges wäre, zu dem die Gnade hinzukommt. Man gibt vor, nicht darum zu wissen, dass »nicht alle alles können«,[47]und dass in diesem Leben die menschliche Hinfälligkeit nicht vollständig und ein für alle Mal durch die Gnade geheilt wird.[48] Wie der heilige Augustinus lehrte, lädt Gott in manchen Fällen ein, das zu tun, was man kann, und »das zu erbitten, was man nicht kann«,[49] oder aber dem Herrn demütig zu sagen: »Gib, was du verlangst, dann verlange, was du willst.«[50]
  2. Wenn es keine aufrichtige, erlittene und durchbetete Anerkennung unserer Grenzen gibt, wird die Gnade im Grunde daran gehindert, wirksam in uns tätig zu sein. Denn es wird ihr kein Raum gelassen, um gegebenenfalls das Gut zu entwickeln, das zu einem ehrlichen und echten Wachstumsprozess beiträgt.[51]Gerade weil sie unsere Natur voraussetzt, macht uns die Gnade nicht auf einen Schlag zu Übermenschen. Diesen Anspruch zu erheben, hieße übermäßig auf uns selbst zu vertrauen. In diesem Fall könnten unsere Haltungen, hinter der Rechtgläubigkeit versteckt, nicht dem entsprechen, was wir über die Notwendigkeit der Gnade behaupten; und wir vertrauen in den Taten letztlich wenig auf sie. Denn wenn wir unsere konkrete und begrenzte Wirklichkeit nicht erkennen, werden wir auch die wirklichen und möglichen Schritte nicht sehen, die der Herr jeden Augenblick von uns erbittet, nachdem er uns mit seiner Gabe an sich gezogen und befähigt hat. Die Gnade wirkt geschichtlich und ergreift und verwandelt uns üblicherweise nach und nach.[52]Sollten wir diese geschichtliche und fortschreitende Art und Weise ablehnen, könnten wir tatsächlich dazu kommen, sie zu verneinen und zu blockieren, auch wenn wir sie mit unseren Worten preisen.
  3. Als Gott sich an Abraham wendet, sagt er: »Ich bin Gott, der Allmächtige. Geh vor mir und sei untadelig!« (Gen17,1). Um untadelig sein zu können, wie es ihm wohlgefällt, müssen wir demütig in seiner Gegenwart leben, eingehüllt in seine Herrlichkeit, wir müssen vereint mit ihm gehen und seine beständige Liebe in unserem Leben erkennen. Wir müssen die Angst vor dieser Gegenwart verlieren, die uns nur guttun kann. Es ist der Vater, der uns das Leben gegeben hat und uns so sehr liebt. Wenn wir dies einmal akzeptieren und aufhören, unsere Existenz ohne ihn zu denken, verschwindet die Drangsal der Einsamkeit (vgl.Ps 138,7). Und wenn wir Gott nicht mehr auf Abstand halten und in seiner Gegenwart leben, werden wir zulassen können, dass er unsere Herzen prüft, um zu erkennen, ob sie auf dem rechten Weg sind (Ps 139,23-24). So werden wir den liebenden und vollkommenen Willen Gottes erkennen (vgl. Röm 12,1-2) und zulassen, dass er uns wie ein Töpfer formt (vgl. Jes 29,16). Wir haben oft gesagt, dass Gott in uns wohnt, aber es ist besser zu sagen, dass wir in ihm wohnen, dass er uns erlaubt, in seinem Licht und seiner Liebe zu leben. Er ist unser Tempel: »Dieses erbitte ich: im Haus des Herrn zu wohnen alle Tage meines Lebens« (Ps 27,4). »Besser ist ein einziger Tag in deinen Höfen als tausend andere« (Ps 84,11). In ihm sind wir geheiligt.

 

Eine oftmals vergessene Lehre der Kirche

  1. Die Kirche hat wiederholt gelehrt, dass wir nicht durch unsere Werke oder unsere Anstrengungen gerechtfertigt werden, sondern durch die Gnade des Herrn, der die Initiative ergreift. Die Kirchenväter haben schon vor Augustinus mit Klarheit diese grundlegende Überzeugung zum Ausdruck gebracht. Der heilige Johannes Chrysostomos sagte, dass Gott uns die eigentliche Quelle aller Gaben eingießt, »bevor wir in den Kampf eingetreten sind«.[53]Der heilige Basilius der Große unterstrich, dass der Gläubige sich nur in Gott rühmt, weil »er erkennt, dass er der wahren Gerechtigkeit beraubt worden ist und dass er einzig durch den Glauben an Christus gerechtfertigt wird«.[54]
  2. Die zweite Synode von Orange lehrte mit sicherer Autorität, dass kein Mensch die Gabe der göttlichen Gnade einfordern, verdienen oder käuflich erwerben kann und dass jede Mitwirkung mit ihr vorausgehend von der derselben Gnade geschenkt ist: Sogar der Wunsch, rein zu sein, wird »durch die Eingießung und das Wirken des Heiligen Geistes in uns« geweckt.[55]Als das Konzil von Trient später die Bedeutung unserer Mitwirkung für das geistige Wachstum betont hat, bekräftigte es zugleich diese dogmatische Lehre: »Dass wir aber umsonst gerechtfertigt würden, wird deshalb gesagt, weil nichts von dem, was der Rechtfertigung vorhergeht, ob Glaube oder Werke, die Gnade der Rechtfertigung selbst verdient; „wenn sie nämlich Gnade ist, dann nicht mehr aufgrund von Werken; sonst wäre (wie derselbe Apostel sagt) Gnade nicht mehr Gnade“ [Röm11,6].«[56]
  3. Der Katechismus der Katholischen Kirche erinnert uns auch daran, dass das Geschenk der Gnade »über die Verstandes- und Willenskräfte des Menschen und jedes Geschöpfes hinausgeht«,[57]denn »gegenüber Gott gibt es vonseiten des Menschen kein Verdienst im eigentlichen Sinn. Zwischen ihm und uns besteht eine unermessliche Ungleichheit«.[58]Seine Freundschaft übertrifft uns unendlich, sie kann von uns nicht mit unseren Taten erkauft werden, und sie kann nur ein Geschenk seiner Liebesinitiative sein. Dies lädt uns dazu ein, in einer freudigen Dankbarkeit für dieses Geschenk zu leben, das wir niemals verdienen werden, da »nachdem jemand die Gnade schon besitzt, die schon empfangene Gnade nicht unter das Verdienst fallen kann«.[59] Die Heiligen vermeiden es, das Vertrauen in ihre eigenen Handlungen zu setzen: »Am Abend dieses Lebens werde ich mit leeren Händen vor dir erscheinen, denn ich bitte dich nicht, Herr, meine Werke zu zählen. Alle unsere Gerechtigkeiten sind befleckt in deinen Augen.«[60]
  4. Dies ist eine der wichtigen, von der Kirche definitiv errungenen Überzeugungen, und sie kommt im Wort Gottes so klar zum Ausdruck, dass sie unbestreitbar ist. So wie das oberste Liebesgebot müsste diese Wahrheit unseren Lebensstil kennzeichnen. Sie speist sich aus dem Herzen des Evangeliums und will, dass wir sie nicht nur geistig annehmen, sondern auch in eine ansteckende Freude verwandeln. Wir werden aber das ungeschuldete Geschenk der Freundschaft mit dem Herrn nicht mit Dankbarkeit feiern können, wenn wir nicht anerkennen, dass auch unsere irdische Existenz und unsere natürlichen Fähigkeiten ein Geschenk sind. Uns tut es not, »jubelnd einzuwilligen, dass unsere Wirklichkeit Gabe ist und dass wir auch unsere Freiheit als Gnade annehmen. Dies ist heutzutage die Schwierigkeit in einer Welt, die glaubt, etwas als Frucht der eigenen Originalität oder der Freiheit für sich selbst zu besitzen.«[61]
  5. Nur ausgehend von der in Freiheit aufgenommenen und in Demut angenommenen Gabe Gottes können wir mit unseren Bemühungen daran mitwirken, dass wir uns immer mehr verwandeln lassen.[62]An erster Stelle steht, Gott anzugehören. Es geht darum, dass wir uns ihm darbringen, der uns gegenüber die Initiative ergreift, und ihm unsere Fähigkeiten, unser Engagement, unseren Kampf gegen das Böse und unsere Kreativität schenken, damit seine ungeschuldete Gabe wachsen und sich in uns entwickeln kann: »Ich ermahne euch also, Brüder und Schwestern, kraft der Barmherzigkeit Gottes, eure Leiber als lebendiges, heiliges und Gott wohlgefälliges Opfer darzubringen« (Röm12,1). Die Kirche hat schon immer gelehrt, dass allein die Liebe das Wachstum im Leben der Gnade ermöglicht, denn »hätte [ich] die Liebe nicht, wäre ich nichts« (1 Kor 13,2).

 

Die Neopelagianer

  1. Dennoch gibt es Christen, die einen anderen Weg gehen wollen: jenen der Rechtfertigung durch die eigenen Kräfte, jenen der Anbetung des menschlichen Willens und der eigenen Fähigkeit; das übersetzt sich in eine egozentrische und elitäre Selbstgefälligkeit, ohne wahre Liebe. Dies tritt in vielen scheinbar unterschiedlichen Haltungen zutage: dem Gesetzeswahn, der Faszination daran, gesellschaftliche und politische Errungenschaften vorweisen zu können, dem Zurschaustellen der Sorge für die Liturgie, die Lehre und das Ansehen der Kirche, der mit der Organisation praktischer Angelegenheiten verbundenen Prahlerei, oder der Neigung zu Dynamiken von Selbsthilfe und ich-bezogener Selbstverwirklichung. Hierfür verschwenden einige Christen ihre Kräfte und ihre Zeit, anstatt sich vom Geist auf den Weg der Liebe führen zu lassen, sich für die Weitergabe der Schönheit und der Freude des Evangeliums zu begeistern und die Verlorengegangenen in diesen unermesslichen Massen, die nach Christus dürsten, zu suchen.[63]
  2. Oftmals verwandelt sich das Leben der Kirche, dem Antrieb des Heiligen Geistes entgegen, in ein Museumsstück oder in ein Eigentum einiger weniger. Dies geschieht, wenn einige christliche Gruppierungen der Erfüllung bestimmter eigener Vorschriften, Gebräuche und Stile übermäßige Bedeutung beimessen. Auf diese Weise pflegt man das Evangelium zu beschränken und einzuschnüren und man nimmt ihm so seine fesselnde Einfachheit und sein Aroma. Es ist vielleicht eine subtile Form des Pelagianismus, weil es das Leben der Gnade menschlichen Strukturen zu unterwerfen scheint. Dies betrifft Gruppen, Bewegungen und Gemeinschaften, und es erklärt, wieso sie oftmals mit einem intensiven Leben im Geist beginnen, aber später versteinert enden ... oder verdorben.
  3. Wenn wir denken, dass alles von der menschlichen Anstrengung abhängt, die durch Vorschriften und kirchliche Strukturen gelenkt wird, verkomplizieren wir unbewusst das Evangelium und werden wieder zu Sklaven eines Schemas, das wenige Poren für das Wirken der Gnade offenlässt. Der heilige Thomas von Aquin hat uns daran erinnert, dass die von der Kirche dem Evangelium hinzugefügten Gebote maßvoll eingefordert werden müssen, »um das Leben der Gläubigen nicht beschwerlich zu machen«, weil sich sonst »unsere Religion in eine Sklaverei verwandeln würde«.[64]

 

Die Zusammenfassung des Gesetzes

  1. Um dies zu vermeiden, ist es heilsam, oft daran zu erinnern, dass es eine Hierarchie der Tugenden gibt, die uns einlädt, das Wesentliche zu suchen. Der Vorrang kommt den göttlichen Tugenden zu, die Gott zum Gegenstand und Beweggrund haben. In ihrem Zentrum steht die Liebe. Das, was wirklich zählt, sagt der der heilige Paulus, ist »der Glaube, der durch die Liebe wirkt« (Gal5,6). Wir sind aufgerufen, die Liebe aufmerksam zu pflegen: »Wer den andern liebt, hat das Gesetz erfüllt […] Also ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes« (Röm13,8.10).