Warum wird gegenwärtig in Kirche und Theologie eigentlich so oft von "Klerikalismus" gesprochen? In seinem Interview mit "Spiegel Online" äußerte sich der Hildesheimer Bischof Dr. Heiner Wilmer am 15. September 2020: "Klerikalismus bedeutet, dass es eine quasiautokratische, losgelöste Macht im System gibt. Um dies zu vermeiden, müssen wir Macht aufteilen und klare Kontrollmechanismen pflegen. Dazu gehört auch, getauften Frauen und Männern Verantwortung zu übertragen."

Was Bischof Wilmer hier benennt, ist graduell zutreffend, weil er den Begriff "Klerikalismus" dankenswerterweise vom sakramentalen Amt des Priesters trennt. Nur der Begriff selbst passt dann aber nicht mehr. Korpsgeist wäre sehr viel treffender. Man könnte auch von Seilschaften oder Netzwerken sprechen, von Macht- wie Abhängigkeitsverhältnissen, die es nicht nur, aber auch in der Kirche gibt. Einzelne Personen werden zu Straftätern. Mit dem Sakrament der Priesterweihe und der Rolle des Priesters im Verständnis der Kirche hat diese Erscheinungsform nicht das Geringste zu tun. Dass auch geweihte Priester – in einem vollständigen Verkennen ihres Amtes oder ihrer Aufgabe – Befugnisse missbrauchen und Macht ausüben, ja verbrecherisch tätig werden können, ist schändlich, ja skandalös. Aber ob die Installation von Gremien und die Vermehrung von Ämtern für Weltchristen dem entgegenwirkt? Immer wieder warnt Papst Franziskus vor dem Klerikalismus. Immer wieder mahnt er, dass Weltchristen nicht klerikalisiert werden sollen. Warum hört ihm eigentlich so gut wie niemand wirklich zu?

In den gegenwärtigen Diskussionen im Umfeld des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche und Korrekturen am Priesterbild wird immer wieder das Repertoire der Analysen des bekannten französischen Soziologen Michel Foucault (1926-1984) bemüht: Wer über "Klerikalismus" und "Pastoralmacht" sich äußert, verweist direkt oder indirekt auf dessen folgenreiche Arbeiten. Warum eigentlich? Unberücksichtigt bleibt dabei, dass sich der prominente Denker verständnisvoll über die vor allem in der griechischen Antike geäußerte Praxis der Päderastie äußerte. Der Philosoph Christoph Horn hat sich vor knapp 20 Jahren in einem Sammelband über Foucault dazu geäußert. In der hellenischen Antike habe die Frau monogam leben müssen, während der Mann weitere sexuelle Beziehungen habe unterhalten dürfen, auch – wie Foucault ausführe – um die "Besonnenheit" und die "männliche Selbstbeherrschung" zu lernen. Horn erinnert daran, dass gleichgeschlechtlichen Partnerschaft eine hohe Wertschätzung entgegenbracht worden sei, nicht im Sinne von "Lebenspartnerschaften", sondern von "eng befristeten Verbindungen". Foucault interpretiere die "Knabenliebe" ebenso "pointiert" wie "gewagt". Der erwachsene Mann sei "unwürdig", das "begehrte Objekt" zu sein. So legt Horn dar: "Die Lösung dieses Problems liege in der Knabenliebe, da der Heranwachsende als Mann ein angemessenes Sexualobjekt abgebe und als junger Mensch zugleich problemlos die untergeordnet-passive Rolle ausüben könne. Ob diese Rekonstruktion zutrifft, mag dahingestellt bleiben; mit Recht beruft sich Foucault allerdings auf die besondere Wertschätzung, die die Päderastie etwa bei Platon genießt. Und es ist bekanntlich Platon, der von der Knabenliebe ausgehend eine Konzeption des philosophischen Eros entwickelt. … Foucault legt großen Wert darauf herauszustellen, daß diese Transformation der Päderastie zur Philosophie keine Geringschätzung der ersteren impliziert." Im Gegenteil, so zitiert Horn den französischen Soziologen, gehe es darum, die Knabenliebe "»zu stilisieren und sie also, indem man ihr Form und Gestalt gab, aufzuwerten«" (Christoph Horn: Ästhetik der Existenz und Selbstsorge, in: Marcus S. Kleiner: Michel Foucault – eine Einführung in sein Denken, Frankfurt/Main 2001, 143-145).

Foucaults Denken mag vielleicht in Geistes- und Sozialwissenschaften eine gewisse Bedeutung zukommen. Für die katholische Theologie, für das Verständnis des Priesteramtes und für die Erneuerung der Kirche in Christus scheint mir die Ausrichtung an seinen Überlegungen in keiner Weise hilfreich und nützlich zu sein. Auch darum hat Kardinal Rainer Maria Woelki vollkommen recht mit seiner grundsätzlich formulierten Kritik: "Irritiert hat mich dagegen eher, dass das von drei Theologen vorgelegte Impulspapier zu der Corona-Pandemie als Herausforderung für den Synodalen Weg dazu herhalten sollte, den Kampf gegen den sogenannten »Klerikalismus« und – unter Rückgriff auf einen Begriff des französischen Philosophen und Soziologen Michel Foucault – der »klerikalen Pastoralmacht« den Kampf anzusagen. Ich finde, ein solcher Sprach- und Gedankenduktus wird weder dem Evangelium noch den existenziellen Fragen der Menschen angesichts von Krankheit und Tod gerecht." Nicht die Orientierung an Foucaults Gedankenwelt, sondern die Besinnung auf das Evangelium Jesu Christi und die Lehre der Kirche aller Zeiten und Orte sind angezeigt und nötig.

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