"Ist das nicht der Sohn des Zimmermanns?" – Diese etwas abschätzige Frage stellten die Einwohner Nazarets, die über Jesu Weisheit staunten (Mt 13,54–55). Konnte der Zimmermannssohn aus dem abgelegenen winzigen Flecken Nazaret in Galiläa lesen und schreiben? 

Die Frage  stellt sich vielleicht der moderne Leser des Evangeliums, zumal wenn er bedenkt, dass "Zimmermann" nicht das ist, was wir heute unter Zimmerleuten verstehen, sondern eher ein einfacher Handwerker. Geht man in unserem mitteleuropäischen Kulturraum nur wenige Generationen zurück, so ist es gar nicht selbstverständlich, dass ein einfacher Handwerker lesen und schreiben konnte. Es ist also nicht weit hergeholt, diese Frage zu stellen.

Das Zeugnis der Evangelien

Dass Jesus lesen konnte, steht für den Evangelisten Lukas außer Frage:

"So kam er (Jesus) auch nach Nazaret, wo er aufgewachsen war, und ging, wie gewohnt, am Sabbat in die Synagoge. Als er aufstand, um aus der Schrift vorzulesen, reichte man ihm das Buch des Propheten Jesaja. Er schlug das Buch auf und fand die Stelle, wo es heißt: ,Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.’ Dann schloss er das Buch, gab es dem Synagogendiener und setzte sich." (Lk 4,16–20)

Der Evangelist zitiert zwar nicht den hebräischen Text aus dem Alten Testament, den Jesus gelesen hatte, sondern, da er griechisch schreibt, dessen griechische Übersetzung. Aber es ist klar: Jesus liest. Dagegen schreibt der ältere Evangelist Markus, der diese Begebenheit viel kürzer wiedergibt, nur, dass Jesus sprach (Mk 1,15).

Diese Erzählung des Lukas ist zwar die einzige Stelle in den Evangelien, die ausdrücklich erwähnt, dass Jesus las. Aber aus ihr geht hervor, dass er "wie gewohnt" am Sabbat in die Synagoge ging. Der Hauptteil des Synagogengottesdienstes am Sabbat war, damals wie heute, die Lesung eines Abschnittes aus der Tora und eines weiteren aus den Propheten. Jeder erwachsene männliche Jude konnte und kann diesen Teil des Gottesdienstes übernehmen.

Schwieriger als die Frage nach dem Lesen ist die nach dem Schreiben zu beantworten. Es gibt zwar antike Schriften, die den Titel "Brief Jesu an XY" tragen. Diese sind aber mehrere Jahrhunderte nach dem irdischen Leben Jesu entstanden. Sie gehören zu den so genannten apokryphen Schriften, das sind Schriften, die in der Antike biblischen oder sonstigen bedeutenden Autoren zugeschrieben wurden, ohne tatsächlich von ihnen stammen zu müssen. Sie scheiden als Zeugnisse aus.

Das einzige Zeugnis der Evangelien, dass Jesus schrieb, ist die Erzählung von der Begegnung Jesu mit der Ehebrecherin, die gesteinigt werden sollte – ein Abschnitt aus dem Johannesevangelium, der wahrscheinlich nicht auf den Evangelisten zurückgeht, sondern nachträglich in dieses Evangelium eingefügt worden ist. Dort heißt es, etwas rätselhaft: "Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde" (Joh 8,6). Wir wüssten zu gerne, was Jesus da schrieb. Das Evangelium schweigt dazu. Aber Jesus schrieb. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, Jesus hätte nur etwas gekritzelt oder gezeichnet. Er wird den Schriftgelehrten und Pharisäern, die als selbstgerecht dargestellt werden, eine Lehre erteilt haben, möglicherweise mit einer passenden Bibelstelle, die leider nicht überliefert ist.

Lesen und Schreiben in der damaligen Gesellschaft

War es außergewöhnlich, dass ein einfacher Handwerker vom Lande lesen und schreiben konnte? Wir wir bereits gesehen haben, gehörte zum Synagogengottesdienst das Lesen aus der Heiligen Schrift. Aber dagegen könnte man einwenden, dass das doch nicht unbedingt jeder können musste. Schließlich gab es die in den Evangelien öfters erwähnten Schriftgelehrten. Wir wissen auch aus anderen Quellen, dass das Lesen damals nichts Außergewöhnliches war. Das Johannesevangelium erzählt im Rahmen der Passion Jesu:

"Pilatus ließ auch ein Schild anfertigen und oben am Kreuz befestigen; die Inschrift lautete: Jesus von Nazaret, der König der Juden. Dieses Schild lasen viele Juden, weil der Platz, wo Jesus gekreuzigt wurde, nahe bei der Stadt lag. Die Inschrift war hebräisch, lateinisch und griechisch abgefasst. Die Hohenpriester der Juden sagten zu Pilatus: Schreib nicht: Der König der Juden, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der König der Juden. Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben" (Joh 19,19–22).

Ausdrücklich heißt es dort, dass auch viele Juden das Schild lasen (und daran Anstoß nahmen). Deshalb war die Inschrift an erster Stelle auf Hebräisch geschrieben, der Sprache, die den Juden aus dem Synagogengottesdienst geläufig war. Lateinisch dagegen war die Sprache der Militärverwaltung, während Griechisch für jeden verständlich war – auch wenn nicht gesagt ist, dass auch alle griechisch lesen konnten; drei verschiedene Sprachen bedeutet nämlich auch, dass die Inschrift in drei verschiedenen Schriften geschrieben war.

In der judäischen Wüste, am Westufer des Toten Meeres hat man seit etwas mehr als einem halben Jahrhundert eine ganze Reihe von antiken Dokumenten gefunden, die mehr oder weniger aus der Zeit Jesu stammen. Die berühmten Qumran-Rollen gehören dazu. Diese sind aber im hiesigen Kontext wenig aussagekräftig, da sie von einer religiösen Sondergruppe stammen. Deren Sitten und Gebräuche können nicht ohne weiteres auf die allgemeine jüdische Bevölkerung der damaligen Zeit übertragen werden.

An anderen Orten hat man dagegen auch Dokumente aus dem Alltagsleben gefunden: Verkaufsverträge, Quittungen, Schuldscheine, Lieferscheine, Briefe, Eheverträge, Scheidungsurkunden und ähnliches. Das Interessante daran ist nicht nur, dass solche Dokumente auch von Jesus erwähnt werden, zum Beispiel "Wer seine Frau aus der Ehe entlässt, muss ihr eine Scheidungsurkunde geben" (Mt 5,13), oder "Da sagte er (der ungetreue Verwalter) zu ihm: Nimm deinen Schuldschein, setz dich gleich hin und schreib ,fünfzig’ " (Lk 16,6).

Hunderte solcher Dokumente wurden entdeckt, die meisten von ihnen in schwer zugänglichen Höhlen in der Wüste. Dorthin hatten sich Flüchtlinge in Zeiten von Aufständen und Kriegen zurückgezogen. Die Flüchtlinge konnten dabei nur das Nötigste mitnehmen, und dazu gehörten eben auch Dokumente, wie Personenstands- oder Besitzurkunden.

Meistens wurden solche Urkunden von professionellen Schreibern geschrieben, die der kompliz ierten Verwaltungssprache mächtig waren. Daher sagen die Dokumente an sich noch nichts darüber aus, wie weit Lesen und Schreiben tatsächlich verbreitet waren. Unter solchen Urkunden oder auf deren Rückseite gibt es aber regelmäßig eine Liste von Unterschriften. Manchmal unterzeichnet ein Schreiber, der seiner Unterschrift hinzufügt: "hat dies geschrieben". Daneben unterzeichnen die Vertragspartner und zwei oder drei Zeugen. Diese Unterschriften sind im hiesigen Zusammenhang aussagekräftig. Man kann nämlich an den verschiedenen Handschriften erkennen, dass sie tatsächlich von unterschiedlichen Personen geschrieben wurden. Und die meisten der Handschriften sind nicht ungelenk, so dass man meinen könnte, die Person konnte gerade einmal ihren Namen kritzeln. Außerdem kann man davon ausgehen, der Unterschreibende konnte auch wirklich lesen, was er unterschrieb. Und ein weiteres Detail ist interessant: Manchmal sind einzelne Unterschriften nicht in der Sprache des Dokumentes (hebräisch, aramäisch, griechisch oder nabatäisch), sondern in einer anderen Sprache (und Schrift) geschrieben, der Sprache eben, in der der Vertragspartner oder Zeuge am geläufigsten schreiben konnte. Dagegen finden sich nur vereinzelt Unterschriften in der Handschrift des Schreibers des Dokumentes, der der Unterschrift hinzufügt "nach seinem Wort", also stellvertretende Unterschriften für Personen, die nicht selbst unterschreiben konnten oder wollten.

Es konnte also wohl nicht jeder schreiben, aber doch ein guter Teil der männlichen Bevölkerung. Und auch Unterschriften von Frauen finden sich. Als Zeugen waren sie nicht voll aussagekräftig, wie etwa das Beispiel eines Vorwurfs aus dem ausgehenden 2. Jah. n. Chr. zeigt, der gegen die junge Christengemeinde gemacht wurde: Die Wahrheit ihrer Lehre (das Zeugnis der Auferstehung) ruhe auf den schwachen Schultern von Frauen. Aber natürlich waren sie beteiligt bei Eheangelegenheiten, bei Unterhalts- und Erbfragen oder auch bei Käufen und Verkäufen. Nicht selten unterschrieben sie die entsprechenden Dokumente selbst.

Noch eine weitere Art von "Dokumenten" wurde gefunden, meistens nicht, wie viele andere Texte, auf teurem Papyrus oder Pergament geschrieben, sondern auf Ostraka (Tonscherben): Alphabete. Natürlich wollte das Schreiben gelernt und geübt sein. Solche antiken Schreibübungen hat man verschiedentlich entdeckt, zum Beispiel ein Ostrakon, das in den 1960er-Jahren bei den Ausgrabungen der Franziskaner auf Herodion gefunden wurde und sich heute im Museum des Studium Biblicum Franciscanum in Jerusalem befindet. Auf diesem hat ein Schreiber nicht nur zweimal das hebräische/aramäische Alphabet geschrieben, sondern auch noch seinen Namen: Ahasja. Dass Jesus lesen konnte, geht aus den Evangelien klar hervor. Dass er schreiben konnte, ist sehr wahrscheinlich. Er unterschied sich darin nicht von der Mehrheit seiner jüdischen Zeitgenossen.

Die verbreitete Fähigkeit der Juden, lesen und schreiben zu können, gab es übrigens nicht nur in biblischer Zeit, sondern sie war auch für das mittelalterliche Europa typisch, wo unter der christlichen Bevölkerung Lesen und Schreiben fast ausschließlich Geistlichen und hohen Beamten vorbehalten war. Dieser Fähigkeit verdankten die Juden, dass sie bis in die beginnende Neuzeit in manchen Berufen besonders erfolgreich waren, wie im Handel, der Verwaltung und der Medizin.

Pater Dr. Gregor Geiger OFM ist Professor am Studium Biblicum Franciscanum in Jersualem. Erstveröffentlichung am 3. Mai 2017.

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