Mit großer Aufmerksamkeit wurde 2007 der erste Band der Jesus-Trilogie von Papst Benedikt XVI. bedacht und wahrgenommen. Bereits vor dem Pontifikat hatte Kardinal Joseph Ratzinger Gedanken und Notizen dazu gesammelt. Er hatte einen ruhigen Lebensabend für sich erwartet und erhofft, begleitet von dem Wunsch, noch einige theologische Überlegungen vorlegen zu können. Wir wissen alle, dass der Herr für den Präfekten der Glaubenskongregation nach dem Tod Johannes Pauls II. anderes vorgesehen hatte. Gleichwohl arbeitete Benedikt XVI. weiter an seinem Vorhaben, um Zeugnis zu geben für seine lebenslange Suche nach dem Antlitz des Herrn. 

Über den "wirklichen Hirten" spricht er in dem ersten Jesus-Buch, den er als Gegensatz zu den Machthabern dieser Welt vorstellt, die "die Schafe als eine Sache" ansehen, als Besitztum. Wir hoffen auf den guten Hirten – und sehen das Walten eines anderen, der in dem johanneischen Bild als "Dieb" porträtiert wird: "Ihm geht es nur um sich selbst, alles ist nur für ihn da. Umgekehrt der wirkliche Hirte: Er nimmt nicht Leben, sondern gibt es: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Joh 10,10)." (Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. Erster Teil. Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung. Freiburg im Breisgau 2007, 323)

Der gute Hirte ist erfüllt von der Sorge um seine Schafe. Den Dieb treiben Ehrgeiz, Machtverlangen und Herrschsucht. Er täuscht die Schafe. Benedikt XVI. spricht von der "großen Verheißung", die Jesus verkündet – und die über das hinausreicht, was in der griechischen Philosophie etwa "Eudämonie", also Glückseligkeit, genannt ist. Verheißen wird "Leben in Fülle", das Leben also, das sich jeder Mensch wünsche. Benedikt fragt sodann: "Aber was ist das? Wo finden wir es? Wann und wie haben wir »Leben in Fülle«? Wenn wir so leben wie der verlorene Sohn – die ganze Mitgift Gottes verprassen? … Wovon die Schafe leben, wissen wir; wovon aber lebt der Mensch?"

Diese Frage stellt sich Christen zu allen Zeiten, von den Jüngern Jesu bis heute. Hüten wir, was uns anvertraut ist? Achten wir den Schatz des Glaubens? Lieben wir die Kirche des Herrn? Leben wir nach den Weisungen, die uns geschenkt sind? Oder wollen wir uns davon befreien, emanzipieren und losmachen? Die "Nahrung des Gotteswortes", so Benedikt, ist uns gegeben. Von der Liebe Gottes lebt der Mensch. Er ist gewollt, gebraucht, vom ersten Moment an bejaht, bis in die Sterbestunde hinein. Das Evangelium soll uns helfen, um die Zeichen der Zeit zu deuten und auf gute, rechte Weise als Kinder Gottes gemäß der Lehre der Kirche in dieser Welt zu leben und zu bestehen. Benedikt schreibt: "Der Mensch lebt von der Wahrheit und vom Geliebtsein, vom Geliebtsein durch die Wahrheit. Er braucht Gott, den Gott, der ihm nahe wird und der ihm den Sinn des Lebens deutet und so den Weg des Lebens weist. Gewiss: Der Mensch braucht Brot, braucht die Nahrung des Leibes, aber er braucht im Tiefsten auch das Wort, die Liebe, Gott selber. Wer ihm das gibt, der gibt ihm »Leben in Fülle«. Und so macht er auch die Kräfte frei, durch die er die Erde sinnvoll gestalten, für sich und für die anderen die Güter finden kann, die wir nur im Miteinander haben können." (ebd., 323 f.)

In jungen Jahren stellen wir die Frage nach dem Sinn, später werden wir bisweilen auch selbst danach gefragt. Vorsicht scheint angeraten zu sein, eine solche Frage nicht leichthin zu beantworten. Auch in der Philosophie wird die Frage nach dem Sinn, nach dem guten Leben gestellt. Alle Weisheitslehren dieser Welt können uns die Antwort darauf nicht schenken. Benedikt XVI. zeigt mit einfachen und doch sehr anschaulichen Worten, dass unsere Wege dunkel bleiben, wenn wir nicht auf den Spuren Gottes, nicht unter der Führung des guten Hirten in dieser Welt unterwegs sind. In der Nachfolge des Herrn entdecken wir, Schritt für Schritt, worin dieser Lebenssinn liegt – in der Liebe. Von Gott her sehen wir diese Wege zuweilen vielleicht in lichter Klarheit. Wir erkennen auch das Kreuz, das wir tragen müssen. Schmerz und Leiden sind in diese Lebenswege eingezeichnet, Erfahrungen, die manche zweifeln und einige verzweifeln lassen. Wir sehen etwa das bittere Leid unserer lieben Angehörigen und Mitmenschen – und ihr Schmerz verwundet auch uns. Unser Kreuz ist, dass wir die Kreuze jener Menschen, die wir von Herzen lieben, nicht auf unsere Schultern nehmen können. Wir begleiten sie, und sie begleiten uns. So denken wir dann vielleicht an die tröstenden Wort Jesu an seine Jünger: "So habt auch ihr jetzt Trauer, aber ich werde euch wiedersehen; dann wird euer Herz sich freuen und niemand nimmt euch eure Freude. An jenem Tag werdet ihr mich nichts mehr fragen." (Joh 16,22-23) Das ist unsere Hoffnung.

Von der Wahrheit leben wir, so sagt Benedikt, und wir verzehren uns nach der Wahrheit, nicht nach Täuschungen und Illusionen. Jesus Christus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben (vgl. Joh 14,6). Wer sich dem guten Hirten anvertraut, im Leben und im Sterben, der folgt nicht einer Weltanschauung oder einer Philosophie, sondern Gott. Wir haben der Liebe geglaubt, das ist der Grundentscheid des Christen. Es gibt auch Augenblicke, in denen Worte von Wilhelm von Saint-Thierry, den Benedikt XVI. sehr schätzt, treffend ausdrücken, was wir von innen her empfinden: "Wenn du mich heute wie damals den Petrus fragen würdest: »Liebst du mich?«, so könnte ich es nicht wagen zu antworten: »Du weißt, dass ich dich liebe.« Aber frohen Gewissens könnte ich dir sagen: »Du weißt, dass ich dich lieben möchte.«"   

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