„Poetische Pilgerorte“ – der Titel des Buches der Journalistin und Schriftstellerin Barbara Wenz klingt ein wenig wie aus der Zeit gefallen. Wen interessieren schon Pilgerorte, dazu auch noch poetische? Und im Untertitel wird es für den Leser noch geheimnisvoller, da es heißt, dass es um „Reisen ins mystische Mittelitalien“ gehe. Klingt das alles nicht ein wenig weltfremd oder sogar verschroben?

Fragen wir zunächst danach, was der Begriff „poetische Pilgerorte“ meinen könnte. Vielleicht denken wir an einen schönen Ort, der uns irgendwie geistig beeindrucken oder poetisch vorkommen könnte; denken wir an eine ganz konkreten Stelle, einen ganz bestimmten Platz, mit dem wir uns verbunden fühlen. Heute gibt es Menschen, die sagen, dass ihnen ihre Gegenwart an einem ganz bestimmten Ort geistige Kraft oder Lebenskraft geben würde. Sind poetische Pilgerorte also Kraftorte? 

Ganz bestimmt aber sind poetische Orte Stätten, an denen sich über die Oberflächlichkeit hinaus weitere Bedeutungen eröffnen. Vielleicht ist es nur ein Staunen, oder ein Verwirrtwerden, vielleicht der Anfang eines neuen Nachdenkens oder ein spezielles, gar ein anderes Lebensgefühl. Viele verschieden Empfindungen mögen von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein.

Es geht sicherlich um Faszination, und es geht um Erinnerung. Oft genug auch darum, an diesem bestimmten Ort zur Ruhe kommen zu können.

Die Autorin lässt immer wieder die Poesie der Sprache aufscheinen. Auch wenn sie in einer Übersetzung von Rainer Maria Rilke den Dichter, Schriftsteller und Altphilologen Giacomo Leopardi (1798-1837) zu Wort kommen lässt, der von einem Hügel aus „in das unendliche Blau des Adriatischen Meeres“ schaute und notierte:

 

Immer lieb war mir dieser einsame

Hügel und das Gehölz, das fast ringsum

ausschließt vom fernen Aufruhn der Himmel

den Blick. Sitzend und schauend bild ich unendliche

Räume jenseits mir ein und mehr als

menschliches Schweigen und Ruhe vom Grunde der Ruh.

Und über ein Kleines geht mein Herz ganz ohne

Furcht damit um. Und wenn in dem Buschwerk

aufrauscht der Wind, so überkommt es mich, daß ich

dieses Lautsein vergleiche mit jener endlosen Stillheit.

Und mir fällt das Ewige ein

und daneben die alten Jahreszeiten und diese

daseiende Zeit, die lebendige, tönende. Also

sinkt der Gedanke mir weg ins Übermaß. Unter-

gehen in diesem Meer ist inniger Schiffbruch.

 

Nach zehn Jahren ist der Mittelitalien-Führer „Poetische Pilgerorte“ wieder erschienen. Durch den allzu frühen Tod des Aachener Verlegers Michael Müller, in dessen MM-Verlag das Buch zum ersten Mal erschienen ist, konnte ihm keine weitere Auflage folgen. Nun hat es im vergangenen Jahr  der fe-Medienverlag übernommen, dieses wunderbare Buch wieder zu veröffentlichen.   

Eigentlich hätte es schon 2020 den Italien-Reisenden, Pilgern und Besuchern poetischer Orte Italiens Anleitung und Hilfe sein sollen, bei der Vorbereitung ihrer Reise und als Handbuch vor Ort. Es kam anders als gedacht. Regierungen weltweit riefen eine Pandemie aus und verordneten den Menschen hier wie da den Lockdown und Reiseverbote. Ob in diesem Jahr, nach Ostern oder nach Pfingsten, jedenfalls im Sommer, wieder Reisen erlaubt sein werden, wird sich zeigen. Doch ein jeder kann sich bereits heute mit jenen poetischen Pilgerorten beschäftigen, die er gerne einmal besuchen und betrachten würde, wenn er zu diesem Buch von Barbara Wenz greift.

Viele Menschen, auch viele gläubige Menschen, sehnen sich nach Italien. Nicht vielleicht zuerst wegen Rom, denn auch Loreto mit dem Haus der heiligen Familie aus Nazaret ist ein Reiseziel, oder ein Besuch in Norcia beim heiligen Benedikt, oder auch das Antlitz Christi in Manoppello sowie die heilige Rita in Cascia. 

Was das Buch auszeichnet

Was dieses Buch besonders auszeichnet ist die Verbindung der Orte mit einem heiligen Geschehen, einem besonderen Ereignis, das mit heiligen Menschen im Zusammenhang steht. Wenz gelingt es tatsächlich, mit ihrer poetischen Sprache ihre Leser hinzuführen zu geheimnisvollen Quellen christlicher Ursprünge und frommen Lebens. So erleben sie nicht nur Pilgerorte, sondern werden hineingenommen in die Begegnung mit zahlreichen bekannten und unbekannten Heiligen und verehrungswürdigen Bildern. Doch keine Angst, es wird weder langweilig noch werden Frömmeleien verbreitet. Es handelt sich um ein Buch voller Spannung, das auf jeder Seite neues zu ergründen sucht. 

Und, das Buch ist manchmal höchst aktuell. So etwa, wenn es um die Geschichte der heiligen Märtyrin Maria Goretti geht. Der Mörder des zwölfjährigen Mädchens, das lieber Sterben wollte als eine Sünde zu begehen, verbüßte eine lange Gefängnisstrafe. Danach wurde er Laienbruder in einem Kapuzinerkloster, wo er im Alter von 88 Jahren starb. In einem geistlichen Testament, das man nach seinem Tod unter seinen wenigen Habseligkeiten fand, warnte er „vor dem Konsum von erotischen und pornografischen Zeitschriften“. Jahre danach haben sich Katholiken aus den Vereinigten Staaten „zu einer Initiative zusammengeschlossen, die Pornosüchtigen helfen möchte“. 

Wunder begegnen wir in diesem Buch zuhauf. Und so ist auch dieser Satz der Autorin nicht verwunderlich: „Dieses Verströmen von paradiesischem Duft ist ein Phänomen, das häufig im Zusammenhang mit unverweslichen Heiligen geschildert wird. Skeptiker weisen darauf hin, dass dies nur seine Ursache in aromatischen Kräutern oder Essenzen haben kann, mit denen die Körper einbalsamiert wurden. Tatsächlich ist es so, dass dies bei einigen Fällen geschehen ist.“

Doch das Profane kommt nicht zu kurz. Wobei – ist es profan, wenn der Italien-Urlauber auch etwas Dolce Vita mitbekommen will? Also nicht nur Heiligengeschichten und altes Gemäuer – auch ein wenig Genuss muss sein. In Norcia scheint es ihn zu geben, den besten Metzger, und Wurstwaren vom Schwein, die als Spezialitäten über den Thekentisch gehen. Dabei scheut sich Wenz nicht, von der „Anatomie von Schweinen“ auf „eine relativ große Ähnlichkeit mit der des Menschen“ zu kommen. Doch das an dieser Stelle zu erörtern würde nun doch etwas zu weit führen.

In Matelica lebte die selige Mattia Nazzarei – bis heute

Die Erzählungen von wundersamen Heiligen sind für die Augen der ach so aufgeklärten und nüchternen Deutschen manchmal schon sehr mysteriös. Da ist die Geschichte des Kindes Mattia. Das Mädchen wollte ihr Leben ganz Jesus Christus weihen. Doch der Vater hatte anderes mit ihr vor. 

Täglich ging das Mädchen zum Kloster der Klarissen und betete in ihrer Kapelle. Sie wollte selbst eine Klarissin werden, wurde aber von der Äbtissin nach Hause geschickt. Eines Tages blieb Mattia standhaft. „Sie weigerte sich, die Kirche zu verlassen, verharrte dort vor dem gemalten Kruzifix im Gebet, schnitt sich die blonden Zöpfe ab und bat Gott inständig um Hilfe.“

Die Äbtissin nahm die Aristokratentochter als Postulantin auf, die nun die niedrigsten Arbeiten zu verrichten hatte und ohne Unterlass betete. „Häufig wachte sie die Nächte durch, um sich auf den Tag vorzubereiten, an dem sie ihre ewigen Gelübde ablegen und ihr ganzes Leben dem Herrn weihen würde.“

Eines Tages wurde sie selbst Äbtissin, deren Aufgabe es war, „sie auf dem Pfad der inneren Reinigung, der Entsagung und der Vertiefung in die Leiden Christi“ anzuleiten. Gott schenkte ihr die Gabe von Heilung und lies sie noch andere Wunder vollbringen. 

Dante Alighieri, der berühmte italienische Dichter und Philosoph, dessen 800. Todestag in diesem Jahr begangen wird, hat in dem Fegefeuer-Teil seines berühmten Opus der Göttlichen Komödie Mattia verewigt.

Eines Tages, kurz nach Weihnachten 1319, kündigte Mattia ihren Klarissen-Schwestern von Matelica ihren Heimgang an: „In dieser Nacht, zur Zeit der Matutin ist die letzte Stunde meines Lebens. Jetzt ist es Zeit, zum Vater zu gehen.“ Sie ermahnte sie „weiter im Gehorsam, der Armut und der Keuschheit zu leben und vor allem die Nächstenliebe zu beachten, die über allem“ stehe.

Nach ihrem Tod „setzten großartige Wunderheilungen ein“. Über die folgenden Jahrhunderte hinweg „half sie den Schwestern ihres Klosters, heilte Lähmungen, wies durch Klopfgeräusche auf eine Säule im Chor der Kirche hin, die einsturzgefährdet war, rettete Arbeiter, die das Kloster renovierten, vor tödlichen Unfällen“.

Als im Jahre 1855 eine Choleraepidemie ausbrach, riefen die die Menschen der Gegend die selige Mattia an und hielten Gebetswachen. Und sie blieben vor Unheil verschont. „Ob Tumore, Epilepsie, Lungenerkrankungen, Mattia hat vielen Menschen geholfen.“ Auch in der jüngsten Geschichte sind Heilungswunder bezeugt.

Am 19. März 1991 betete Papst Johannes Paul II. „in der Kirche Beata Mattia Nazzarei vor dem Schrein der Klarissin und ehrte sie als große Kontemplative und Mystikerin“. „Im Jahre 2008 wurden neue Akten an die Kongregation für Heiligsprechung übergeben. Vielleicht hat über kurz oder lang Matelica eine Heilige, eine Santa.“

Solche und viele andere Geschichten erzählt Barbara Wenz an zahlreichen mittelitalienischen Pilgerorten. Dabei ist ihr Buch mit vielen Farbfotos versehen, die den guten und informativen Eindruck noch verstärken. Ein Buch, das auch und gerade während der Pandemie die Neugierde weckt und vielleicht – hoffentlich – auch die Sehnsucht nach dem Heiligen.

Barbara Wenz, "Poetische Pilgerorte – Reisen ins mystische Mittelitalien", ist im FE-Medienverlag erschienen und hat 220 Seiten.

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