„Warum hast Du so große Augen?“ – Fast jedes Kind kennt die Frage, die Rotkäppchen an den als Großmutter verkleidete Wolf richtet, und jeder weiß, dass die Antwort – „Damit ich Dich besser sehen kann“ – das Mädchen nicht erkennen lässt, wer da wirklich vor ihm im Krankenbett liegt, sondern es, wie in einem unheimlichen Bann bindend, nur verwirrt stehen lässt. Das hämische Funkeln der gelb-grünen Pupillen des Raubtieres treibt das Kind nicht in die Flucht, sondern lässt es – sei aus naiver Neugierde oder ihm selbst unerklärlich bleibender Faszination – noch weitere Fragen stellen, obwohl doch die spitzen, dunkel behaarten Ohren unter der Schlafhaube und die in das Bettlaken gekrallten Pfoten schon längst deutlich gemacht haben, das hier keine alte Frau, sondern ein böses und gefährliches Monster liegt. Im Märchen freilich stirbt das Mädchen nicht, als es mit der letzten Antwort des Ungeheuers verschlungen wird, sondern wird samt der lieben Oma vom guten Jäger aus dem Bauch des Tieres gerettet. Und wenn es nicht gestorben ist, so lebt es noch heute – das dumme Mädchen, das in die Augen des tödlichen Feindes starrt, ohne die eigenen wirklich zu öffnen. „Warum bist Du so blind, Rotkäppchen?“ müssten Mutter und Jäger das Kind fragen, das sich auf einen Dialog mit dem Raubtier einlässt.

Die gleiche Frage, die im Märchen nicht auftaucht, stellen Mutter und Jäger uns heute, die wir wie kleine Mädchen pfeifend durch einen Wald hüpfen, der voller Gefahren ist. Wir kneifen die Augen zu, wenn ein Sonnenstrahl durch die Gipfel dringt und uns im ersten Moment blendet. Erst im Umkreis des Risikos verlangsamen wir neugierig den Schritt. Das, was da in dem rosaroten Himmelbett liegt, kann keine tödliche Gefahr sein! Das, was sich dort auf dem Laken vor mir ausbreitet, so fremd es auch ist, scheint weitaus interessanter als die liebe Oma, der wir ein Stück Kuchen bringen sollen. Der Geruch von Freiheit und Abenteuer lockt mehr als alter Kaffee. Wilder Moschus statt Morphium der Hospize! Wenn wir Düfte besonders gut riechen wollen, so schließen wir die Augen. Wir wollen den Wolf im Daunenbett nicht sehen, aber das reizvolle Aroma seines wilden Lebens in freier Natur atmen wir tief ein. Wir wollen große Augen, die uns bewundern; große Ohren, die hören, was wir zu sagen haben; große Hände, die uns liebkosen, beschützen und beschenken. Wenn wir die Augen schließen, wollen wir Freunde eines Wolfes und nicht einer demenzkranken und vielleicht inkontinenten Frausein, die nicht mehr zu geben scheint als ein Lächeln und ein paar gute Worte.

Wie heißt das Rotkäppchen eigentlich wirklich?

Die Gebrüder Grimm verraten uns nicht – wie so oft im Märchen – den wahren Namen Rotkäppchens. Wahrscheinlich aber heißt sie Eva, denn das, was das Mädchen erlebt ist die Geschichte unserer Stammeltern. Als die erste Frau der Menschheitsgeschichte pfeifend durch den Paradiesgarten hüpft, macht sie Halt vor dem einen Baum, von dessen Früchten Gott verboten hat zu essen. Mit geschlossenen Augen atmet sie den Duft des „lieblichen und süßen“ (vgl. Gen 3, 6) Obstes ein und hört auf die Schlange, anstatt vor ihr zu fliehen. Adam tut das Gleiche. Und erst dann – nach dem die „Fressenden“ selbst zum Fraß des Raubtieres geworden sind – „gehen ihnen die Augen auf“ (Gen 3, 7). Jetzt erst sehen Adam und Eva; doch es ist zu spät!

Ganz kleine Kinder können mit geschlossenen Augen durch die Wohnung hüpfen, weil die Arme der Mutter über ihnen schweben. So Adam und Eva im Paradies. In der gefallenen Welt, in der wir ohne diese innige Vaterbeziehung zu Gott leben, springen die pfeifenden Rotmützen dem Wolf in den Rachen. Er muss nur daliegen und warten. Das tut er: Ob auf der Leinwand oder im Ballsaal, ob im Sitzungssaal oder im Fitnesscenter; räkelnd auf rosaroten Kissen gähnt der Feind, dem wir neugierig in den Rachen blicken. Das ist die Dynamik von Sünde und Versuchung. Das ist unser Leben in dieser Welt.

Wenn Mund und Augen weit offen stehen

Das Lieblingstier der Tschechen ist die Eule. In fast allen Geschäften kann man Produkte – von der Tasse bis zum Geschirrspüler – mit dem Motiv des Nachtvogels finden. Es ist das Tier der Göttin Athene und damit Symbol der Weisheit. Die Eule kann in der Nacht sehen, weil sie so große Augen hat. Sie erkennt selbst im Dunkeln die Wirklichkeit und kann die Schatten unterscheiden. Sie weiß, wer Freund oder Feind ist; wo sie sicher ruhen kann oder vor Gefahr fliehen muss. An Weihnachten werden die Tage länger, und die Dunkelheit schwindet, und doch „schickt“ uns die Kirche nicht beim ersten Sonnenstrahl zur hl. Messe, sondern mitten in der Nacht. Sie ist die Mutter, die ihren Kindern den Weg zutraut und zumutet; auch deshalb, weil sie um den göttlichen Jäger weiß, der den Seinen in Not und Gefahr zu Hilfe kommt, wenn sie ihn rufen. Er ist der Schlangentöter und Wolfbezwinger. Weil er Wache hält, kann ein kleines Kind getrost den Weg zu einer kranken Frau wagen, um ihr im Korb Kuchen und Wein zu bringen. Das ist der Auftrag der Mutter an das Kind: den Schwachen besuchen und ihnen – eine vielleicht gewagte Interpretation des Märchens – Christus zu bringen; süße Speise und berauschender Trank, der stark und froh macht. Hier ist nicht der Ort, um weiter nachzusinnen, wer denn die Mutter der Mutter sei, zu der das Kind gehen soll. Es könnte die Synagoge sein. Sie und das Kind – Juden und Heiden also – werden verschlungen und brauchen die Rettung des Jägers. Aber darum geht es hier nicht. Wichtig für unsere Überlegungen ist zunächst nur, dass das nette Rotkäppchen ihren Auftrag nicht erfüllt! Wird die Großmutter gefressen, weil sie, die alt, schwach und wehrlos daniederliegt, vom treulosen Mädchen an den Feind verraten wird, so das Kind, weil es dumm und ungehorsam ist.

Im Dunkeln weiten sich reflexartig die Pupillen. Wer nachts aufsteht, reibt sich die kleinen Augen, die schnell groß werden, weil sie das wenige Licht einfangen wollen. Ganz anders als der starrende Blick auf das glitzernde Licht des Bösen und Verbotenen, das in der Versuchung lockt, ist das schauende Suchen in der Nacht. Große Augen bekommt wer diesen Blick wagt, ja vielleicht wagen muss. Der Blick auf das Leid weitet die Augen und das Herz. Es ist nicht leicht, dieses Schauen auszuhalten und nicht – mit einem Glas Whiskey oder einer Schlaftablette Betäubung suchend – wieder die Decke über den Kopf zu ziehen. Leiden zu sehen, ohne vielleicht helfen zu können, aber doch nicht wegzuschauen, öffnet, weitet die Augen. Das Foto des Jahres 2017, auf dem Muhamed Muheisen das Gesicht eines syrischen Mädchens festhält, zeigt uns kein Rotkäppchen, sondern ein fünfjähriges Kind, dessen schöne Augen erschreckend viel gesehen haben. Es ist der reine Blick eines Unschuldigen, der am eigenen und fremden Leid so weit und tief geworden ist, dass sich der Betrachter ihm kaum entziehen kann. Das ist der Kinderblick – nicht der tumben rotgemützten Göre, die mit dem Feuer spielt – in dem Weihnachten, mitten im Dunkel des Leids, aufleuchtet. Das ist der Blick, den wir – keine unschuldigen Kinder mehr – liebend und leidend lernen können, wenn wir des Nachts aufstehen und die heimelige Wärme unseres Bettes verlassen, um Christus zu suchen – in den Ärmsten der Armen. Wollen wir solch große Augen haben, die liebend Leid sehen ohne wegzublicken und leidend nach Liebe Ausschau halten? Nein! – Wir ziehen uns, gerade in diesen Tagen, buchstäblich die rote Mütze an, die der Coca Cola Weihnachtsmann sich aufgesetzt hat. Der neuheidnische Clown hat das Christkind verdrängt. Ihm schreiben die Kinder heute Briefchen, und die Erwachsenen schenken lachend in seinem Namen, was die Kleinen sich wünschen. Die weißbärtige Rotmütze verspricht mehr Spaß und Unterhaltung als das arme Kind in der Krippe, vor dem Hirten ihre Filzhüte ziehen. Ihrer sind es an Weihnachten wenige, Rotkäppchen dagegen viele.

Um das Kind in der Krippe zu finden braucht es die großen Augen einer Eule, die suchend über das Land fliegt und sich nicht vom Licht der Herbergen locken lässt. Wohl deshalb ist sie nicht nur das Lieblingstier der Tschechen, sondern auch der hl. Teresa von Avila und mit ihr der Karmeliten. Berühmt ist „die dunkle Nacht“ des hl. Johannes vom Kreuz. Nur die Eule fliegt noch in solcher Finsternis und Traurigkeit, um das geliebte Kind zu finden. Nur große Augen weisen stolpernden Füßen, die in Leid, geistlicher Trockenheit und Zweifel, den Weg nicht wissen, den nächsten Schritt. Aus Holz oder Ton gefertigte Eulen sollten an unseren Christbäumen hängen, damit wir daran erinnert werden, die Augen aufzumachen (und die roten Mützen wegzuwerfen), damit wir nicht in die Falle tappen, damit wir auch im Dunkeln den Weg zu gehen wagen und damit wir dann schauend den genießen, den wir in der Krippe finden.

„Warum hast Du so große Augen?“ könnten Eltern in der Heiligen Nacht auch ihre kleinen Kinder fragen, wenn sie vor dem Christbaum stehen und seinen Glanz bewundern. Bei uns allen – ob gläubig oder nicht – schleicht sich dieses „Weihnachtsgefühl“ ein, wenn wir am Heilig Abend „große Augen“ bekommen. Bei vielen bleiben es in Wahrheit fast verschlossene Sehschlitze, durch die nur das Blitzen von Brillianten oder der Scheinwerfer modernster Minidrohnen dringt. Doch auch sie erkennen sich als Beschenkte und sind – für einen Moment! – glücklich; in Weihnachtsstimmung. Je größer unsere Augen, je aufrichtiger unser Staunen, umso gelungener ist das Fest der heiligen Nacht. Die Engel, die Gott am nächsten stehen, sind voller Augen – denn sie wollen seine Schönheit schauen und sich daran berauschen. Ja, es ist vor allen Dingen die Schönheit, die unsere Augen wachsen und groß werden lässt. Es ist kein Zufall dass dann, beim Anblick wahrer Schönheit, Augen und Mund offen sind; nicht, weil man irgendetwas sagen könnte, sondern weil Zunge und Gaumen auch Organ des Geschmacks sind. Was man da sieht, will man kosten und verkosten, schmecken und genießen. Das göttliche Kind in der Futterkrippe von Ochs und Esel erfüllt genau das. Es lässt sich finden im Geheimnis der Eucharistie, um in der Kommunion wahrhaft genossen zu werden. Und dann braucht es keine Worte mehr.

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