Der 28. Februar 1221 war ein Sonntag, als der Spanier Domingo de Guzmán, der in Deutschland Dominikus heißt, mit eigenen Händen die römische Marien-Ikone, die seit jeher dem Evangelisten Lukas zugeschrieben wird, von dem Kloster Sancta Maria in Tempulo rund vierhundert Meter weiter zum Anfang der Via Appia in ein von ihm gegründetes neues Kloster klausurierter Nonnen trug, einem Ort selbst gewählter und lebenslänglicher Abgeschiedenheit, wo sich die Frauen vor allem dem Gebet, dem Gesang und dem Gotteslob widmeten – und wo das Gnadenbild schon lange Advocata genannt wird, als zuverlässige Anwältin der armen und sündigen Christen vor Gottes letztem Richterstuhl. Diese Gemeinschaft existiert bis heute in der Ewigen Stadt. Es ist das Protokloster der Dominikanerinnen in Italien, seit 1221 ist es nur zweimal umgezogen. Seit 1931 befindet es sich in dem Rosenkranzkloster auf dem Monte Mario, wo heute acht Nonnen als Gefangene um Christi willen die kostbare Ikone als unvergleichlichen Schatz in ihrer Mitte hinter Gittern hüten, in einer achthundertjährigen Tradition.

Dominikus ging damals barfuß, als er die Lindenholztafel vor ihnen her in das Kloster trug. Und er kam nachts, damit die Römer nicht merkten, wie ihre liebste Ikone in einer Klausur verschwand, und keinen Aufstand gegen ihn anzettelten, weil er ihnen damit ihr teuerstes Bild der Gottesmutter nahm. Zwei Kardinäle, die Papst Honorius III. für ihn abgeordnet hatte, begleiteten den Gründer des Dominikanerordens und 42 Nonnen, die ihm ebenfalls barfuß folgten. Mit diesem Akt trat die Marienikone in das Licht einer wohldokumentierten Geschichte ein.

Es war die letzte Großtat des heiligen Dominikus gegen Ende seiner rastlosen Pilgerreise, auf der er nur sechs Monate später am 6. August 1221 in Bologna gleichsam verglühte, nachdem er nur 51 Jahre zuvor in Caluerga auf dem spanischen Jakobsweg das Licht der Welt erblickt hatte.

Für die Zeit vor diesem 28. Februar 1221 ist das Schicksal der Lukas-Ikone weitgehend unerforscht und legendär. Sicher ist, dass das Gnadenbild damals in Rom höchst populär war, weshalb diese letzte Übertragung der Lukas-Ikone von einer Obhut in die andere als sensationell empfunden wurde, wo unvergessen geblieben war, dass Papst Sergius III. (904–911) davor als letzter versucht haben soll, die Ikone von der eher schlichten Kirche Sancta Maria in Tempulo in die ehrwürdige Lateran-Basilika zu übertragen. Doch da sei sie einfach nachts wieder "wie ein Vogel durch das Fenster“ zurückgeflogen zu ihrem Ursprungsort. Doch damit befinden wir uns natürlich schon im Raum der Legende.

Nicht legendär ist hingegen, dass sich das unwahrscheinliche Überleben dieser Ikone und ihre Rettung durch Dominikus einer außerordentlichen Krisenzeit der Kirche verdankt und einer faszinierenden Frauenbewegung des Mittelalters. Damals war es, als hätte ein Fieber Europa ergriffen, besonders in Südfrankreich und in Teilen Norditaliens, das immer neue Bevölkerungsteile ansteckte, als unter den Gebildeten jener Zeit eine Art neuer Gegenkirche entstand, in der die jüdischen Wurzeln des Christentums geleugnet wurden und das Alte Testament aus den heiligen Schriften verbannt werden sollte. Armut galt als hohes Ideal. Die Ernährung dieser "Erneuerer“ war fast komplett vegan, und es wurde hier gefastet bis zum sprichwörtlichen Umfallen. Sie sahen sich als eine Gemeinschaft der Vollkommenen (lateinisch: perfecti) oder Reinen (griechisch "katharoi“) mit eigenen Theologen, Priestern, Bischöfen, Sakramenten und sogar Konzilien, und sie nannten sich "gute Christen“ oder "Freunde Gottes“.

Aus heutiger Sicht dürfen wir sie wohl vor allem als frühe totalitäre Sekten begreifen und als eine Verführung, die die Christenheit immer begleitet hat. Jedenfalls waren diese oft auch rabiaten Katharer oder Albigenser erbitterte Feinde der römischen Kirche und umgekehrt. Recht hilflos ließen Papst Innozenz III. und dessen Nachfolger sie deshalb zunächst in regelrechten Kreuzzügen mit Feuer und Schwert verfolgen.

Dominikus hingegen, der spanische Zeitgenosse des heiligen Franz von Assisi, erkannte wie kaum einer sonst, dass die starke Anziehung dieser Bewegungen nur durch eine innerkirchliche Reformbewegung gebrochen und überwunden werden könnte, niemals aber durch Gewalt. Er stammte aus der Nähe von Burgos in Kastilien, hatte Philosophie und Theologie studiert, war eine Zeit lang Mitglied des Domkapitels in Osma, mit einer besonderen Hinwendung zu den Armen und – vor allem – mit einer auffälligen Liebe zu Maria, zum Gebet, zur Betrachtung und zum Studium. Sein Charme und seine Sprachgewalt als Prediger erstaunten bald viele, und seine Reiselust durch ganz Europa, wo er sich ein genaues Bild der abendländischen Gesellschaft des Mittelalters verschaffte.

Dabei war Dominikus auch aufgefallen, dass die Frauen bei den Katharern des Languedoc eine überragende Hauptrolle spielten. Sie richteten die Versammlungsorte her, sorgten sich um die (schwarze) Bekleidung, organisierten die Aufnahme der Novizen, und waren überhaupt die eigentlichen Hüterinnen der neuen Riten und Regeln der "Ketzer“, wie die Katharer bald von den Katholiken genannt wurden. Da gründete Dominikus zusammen mit Diego de Acebo im Jahr 1206 in den Ruinen des Dörfchens Prouille in der Nähe von Fanjeaux zwischen Carcassonne und Toulouse – also mitten im Hoheitsgebiet der rebellischen "Vollkommenen“! – mit einigen Augustinerinnen ein erstes kontemplatives Frauenkloster als Zuflucht für Frauen, die sich von den Katharern lösen und wieder zur römisch-katholischen Kirche zurückkehren wollten, mit weißem Ordensgewand.

Es war gleichsam ein Kraftwerk des Gebets, das seiner Gründung des Prediger-Ordens nach der Regel des heiligen Augustinus im Jahr 1215 vorausging, dem er als Hauptaufgabe vorschrieb, durch Wort und Beispiel die Irrgläubigen zu bekehren. Der Orden wurde 1216 von Papst Honorius III. bestätigt, der auch die Regeln der Franziskaner und Karmeliter absegnete.

Doch anders als im Carmel mit seinen späteren großen Frauengestalten von Teresa von Avila bis zu Edith Stein, oder als beim heiligen Franziskus, dessen Charisma in der heiligen Klara gleichsam ein weibliches Gegenüber fand, oder dem heiligen Benedikt, der in Scholastika eine Schwester fand, die ihn auf weiblicher Seite ergänzte, muss bei Dominikus unbedingt der Zauber erwähnt werden, den er selbst auf Frauen ausübte. Als einen "Womanizer“ im heutigen Sinn darf man ihn sich deshalb nicht gerade vorstellen. Er war keusch wie ein Minnesänger. Dennoch war er ein heiliger "homme des femmes“, dem die Damen und Mädchen scharenweise zuliefen. Als Dominikus am 8. August 1221 starb, soll er sich von seinen Mitbrüdern mit den Worten verabschiedet haben: "Ich habe in allem nach Vollkommenheit gestrebt. In manchem habe ich sie erreicht. In einem aber bin ich unvollkommen geblieben. Denn viel lieber als mit euch, geliebte Brüder, habe ich mich stets mit jungen Frauen unterhalten.“ Hundert Jahre später nannte Catharina von Siena ihn "nostro dolce Spagnolo“: unseren süßen Spanier, dessen strenger Orden ihr "wie ein Garten“ erschien, "unermesslich schön, voll Duft und guter Laune.“

Diese gegenseitige Anziehung drückte sich aber eben auch darin aus, dass er neun Jahre vor seinem berühmten Predigerorden zuerst ein Frauenkloster in Frankreich gegründet hatte, bevor er auch in Rom in dem alten Kloster Santa Maria in Tempulo eine Gemeinschaft von Frauen fand, die er von dem Sinn des kontemplativen Lebens hinter Gittern überzeugen konnte, als erste Dominikanerinnen bei den Gräbern der Apostelfürsten. Doch im letzten Moment sagten sie das Unternehmen ab. Warum? Sie hätten in ihrem Haus eine alte Ikone, erklärten sie Dominikus, von der es hieß, der heilige Lukas habe sie gemalt. Die könnten sie unmöglich alleine lassen. Gut, beschied ihnen da der Reformer, dann müsse eben auch die Ikone mit ihnen in den neuen Konvent kommen. So trug er am Abend des 28. Februar 1221 das Gnadenbild dann höchstpersönlich vor ihnen her in sein neues Kloster. Seit diesem Tag bilden die Dominikanerinnen Roms mit der Advocata eine unzertrennliche Gemeinschaft des Gebets und der Verehrung, als pulsierendes Herz einer Bewegung, die später auch das Gebet des Rosenkranzes in der Christenheit verbreitete.

In seinem männlichen Predigerorden hingegen legte Dominikus wie nirgendwo sonst im Abendland Wert auf die gründliche und jahrelange Bildung und Ausbildung des Klerus. In diesem Sinn wurden die Dominikaner so etwas wie die Jesuiten des Mittelalters. Der lateinische Begriff VERITAS (Wahrheit) leuchtete über ihren Bemühungen wie der Polarstern für Seefahrer in unbekannten Meeren und Tiefen. Bald sollten die Dominikaner die Wissenschaft des Mittelalters in allen Gebieten revolutionieren.

Vor allem aber wurde der neue Orden des heiligen Dominikus eine Schule der Heiligkeit und der Heiligen. Thomas von Aquin war Dominikaner. Der "Doctor Angelicus“ galt als der größte Gelehrte des Mittelalters, für den feststand, dass für den Glauben der Christen nicht nur die Heilige Schrift, sondern auch die Überlieferung eine wesentliche Rolle spielte, wobei er als besonderes Beispiel authentischer Traditionen auf die von Lukas gemalte Ikone hinwies. Auch sein Albertus Magnus, der Lehrer Thomas‘, war ein Sohn des heiligen Dominikus. Dominikanerinnen oder Dominikaner waren später auch Catharina von Siena, Meister Ekkehart, Heinrich Seuse, Bartolomé de las Casas, Rosa von Lima oder Papst Pius V., der Verteidiger Europas, der sein dominikanisches Ordenskleid erstmals als weißen Habit der Päpste wählte – bis hin zu Johann Tetzel, dessen flammende Ablasspredigten Dr. Martin Luther leider so unglücklich herausforderten. In den großen Konfliktlinien des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit finden wir Dominikaner oft in den vordersten Gräben, unter ihnen viele Säulen der Geistesgeschichte. "Die größte Freundlichkeit, die wir einem Menschen erweisen können, besteht darin, ihn vom Irrtum zur Wahrheit zu führen,“ lehrte Thomas von Aquin, der vier Jahre nach dem Tod des Ordensgründers geboren wurde.

Was aber ist die Wahrheit des Ursprungs der Lukas-Ikone? Vor ihrer Übertragung durch Dominikus in die Hand seiner Schwesterngemeinschaft wurde sie in Rom auf Griechisch auch Hodegetria (die Wegweisende) genannt oder Hagiosoritissa, nach der zerstörten Kirche auf dem alten Kupfermarkt in Konstantinopel, wo bis zu den Wirren des Ikonoklasmus neben dieser Ikone auch ein "Tonkrug“ (griechisch: soros) verehrt worden war, in dem sich der Gürtel der Gottesmutter befand, den sie bei ihrer Aufnahme in den Himmel in ihrem Grab am Fuß des Ölbergs zurückgelassen hatte. Kommt die Ikone der Advocata also auch aus Jerusalem? Vieles spricht dafür.

Wer jetzt in Rom aber im Altarraum der Kirche des Rosenkranzklosters vor der Ikone steht, sitzt oder kniet, kann kaum umhin, in ihrem unergründlichen Silberblick ein Spiegelbild der Wahrheit selbst zu erkennen. Doch in Rom kennen geschätzte 98 Prozent der Bevölkerung die Advocata wohl bis heute überhaupt nicht, und auch kaum ein Pilger. Hier ist sie eine der unbekanntesten Ikonen überhaupt geworden. In der Hauptstadt des Erdkreises ist das Gnadenbild damit auch zu einem Spiegelbild göttlicher Verborgenheit selbst geworden, wo sie fast so verborgen ist, wie es der Allmächtige bei seinen großen Heilstaten war, von seiner "Überschattung“ der Gottesmutter bis zur Geburt seines Sohnes in einer Höhle vor Bethlehem. Fast alle anderen Ikonen Roms sind bekannter. Zur Advocata hingegen öffnen die Dominikanerinnen nur morgens zur heiligen Messe um 7.30 Uhr die Türen des Klosters, wenn Pilger noch gern in ihren Hotelbetten liegen.

Zum Bild des "Salus Populi Romani“ in der Basilika Santa Maria Maggiore kommt Papst Franziskus nach jeder seiner Reisen zu einem Dankgebet. Touristen und Pilger sehen Marien-Ikonen auf dem Ara Coelineben dem Capitol und in vielen anderen Basiliken Roms, wo die ältesten von ihnen auf merkwürdige Weise verwandt scheinen mit der "Advocata“. Doch so beseelt wie der brunnentiefe Blick des Originals scheint kein gemaltes Bild eines Menschen aus der Tiefe der Zeit auf uns zuzukommen.

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Das Lindenholz der Advocata ist so zerfressen, dass sich das Alter nicht bestimmen lässt. Dennoch gibt es viele gute Gründe, die Tafel als älteste Ikone der Welt zu begreifen. Sie alle zu erzählen, verlangt aber ein Buch und keinen Artikel, auch nicht für dieses Magazin, deren Patronin die Advocata seit unserer ersten Ausgabe ist. "Wie das Herz das Blut zirkulieren lässt und den ganzen Leib am Leben erhält“, erklärte Papst Benedikt XVI. am 24. Juni 2010 den Nonnen des Konvents bei seinem Besuch, "so trägt euer verborgenes Leben mit Christus im Gebet dazu bei, die Kirche zu stützen. Ihr seid im mystischen Leib Christi die Herzmitte der Kirche und ein Werkzeug des Heils für alle Menschen, die der Herr mit seinem Blut erlöst hat."

Von den dreizehn Nonnen, denen er das damals hier sagte, sind inzwischen sechs gestorben, bevor die junge Schwester Catarina aus Sizilien hier im letzten Jahr ewige Treue zu ihrer Nachfolge des heiligen Dominikus gelobte. Seit dem 7. Januar aber ist das Kloster geschlossen, weil alle Schwestern an Covid erkrankten. Davon haben sie sich wieder erholt, doch große Not wie eh und je haben sie immer noch, besonders auch durch den Verlust aller Pilger. Dennoch erzählen sie sich einmal jährlich in ihrer Mattutin weiter die schöne Legende, wie die zwölf Apostel nach Christi Himmelfahrt Lukas beauftragt haben sollen, für sie ein Gemälde der Jungfrau herzustellen. Warum die Ikone aber seit ewiger Zeit dem Evangelisten zugeschrieben wurde, lässt sich auch anders beantworten. Die Advocata hat eine dritte und vierte und fünfte Dimension. Sie ist in sich evangelisch und göttlich schön.

Zuerst erschienen im "Vatican Magazin" (2/2021). Veröffentlicht bei CNA Deutsch mit freundlicher Genehmigung.

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