Fellini und Pasolini hätten sich den Film nicht besser ausdenken können. Der Set: das etruskische Calcata. Der Ort aus einem einzigen Tuffklotz herausgeschnitten. Ein Städtchen ohne Gärten, das sich aus einem Urwald empor in die Höhe streckt. Ein Ort von einem anderen Stern.

In der Trattoria zur Schwarzen Katze

So kam es Ende der 1960er Jahre auch der italienischen Regierung vor. Calcata sei zu unhygienisch – et cetera. Also verfügte sie einen Neubau der Stadt auf einem Nachbarhügel, in den alle Bewohner umgesiedelt wurden. Das alte Calcata aber blieb danach nicht lange unbewohnt. Freaks und Hexen und Männer mit hennahroten Pferdeschwänzen übernahmen nach den Urbewohnern die Höhlen der Siedlung, als Hippiehausen on the hill. Ein "Künstlerdorf" mit 70 Einwohnern, darunter viele Ausländer, und nur einem einzigen Eingang. In der Trattoria "Zur schwarzen Katze" werden Hochzeiten ebenso ausgerichtet wie "Trennungsfeiern". Hinter der "Kirche vom allerheiligsten Namen Jesu" hängt in der Bar ein Michelangelo-Poster, wo Gott Adam nach seiner Erschaffung als Erstes einen Joint hinreicht. Keine Kifferphantasie ist es jedoch, dass direkt daneben, in der Kirche, für Jahrhunderte die Reliquie des "Sanctum Preputium" verwahrt und verehrt wurde, die "allerheiligste Vorhaut" Christi. Das ist das Ende vom ersten Akt dieses Films.

Die Reliquie war nämlich nicht mit in die Neubaukirche der Neustadt umgezogen. Jedes Jahr einmal wurde sie weiter feierlich durch Calcata getragen, mit einer Prozession der Freaks und Hippies hinter sich her, durch einen Korridor glasiger Augen und wallender indischer Saris, mit der letzten Nachhut des christlichen Abendlands – bis zum Jahr 1983. Dann wurde das "Sanctum Preputium" geraubt und tauchte bis heute nie mehr auf.

Angelo Barbieri von der Gemeindeverwaltung, der 1.200 alte Fotos zur Geschichte des Städtchens zusammen getragen hat, hat darunter nur zwei, auf denen diese Prozession zu sehen ist, darunter eins vom 17. September 1933, wo die Faschisten des Ortes ihre Arme zum "römischem Gruß" vor der Heiligen Vorhaut erhoben haben. Vom Reliquiar selbst ist da nichts zu erkennen. Viel klarer ist hingegen die Geschichte der Reliquie, zunächst in den letzten 500 Jahren, dann zurück bis zum Jahr 800.

Das Geschenk der Kaiserin

Ihr Anfang aber ist mehr etwas für Dichter. Der portugiesische Nobelpreisträger José Saramago erzählte die Geschichte 1991, als sei er dabei gewesen, wie Joseph "am achten Tag nach der Geburt Jesu seinen Erstgeborenen zur Beschneidung in die Synagoge trug, wo ein Priester dem weinenden Säugling mit einem groben Messer die Vorhaut abschnitt" – quasi als Pergament seines Romans. Denn der "blutende kleine Hautring" habe im 8. Jahrhundert "unter Papst Paschalis I. eine großartige Heiligung" erfahren und könne "heute in der Pfarrei von Calcata besichtigt werden". Da war aber, wie gesagt, die Reliquie schon längst verschwunden. Samarago hatte versäumt, beim Pfarrer in Calcata anzurufen.

Nach den Annalen des Vatikans hingegen tauchte die Vorhaut Christi als Geschenk der byzantinischen Kaiserin Irene zuerst am Hof Karls des Großen in Aachen auf, der sie anlässlich der ersten Kaiserkrönung durch den Papst am Weihnachtstag 800 in Rom an Leo III. weiterschenkte. Rom war die Stadt der Reliquien. Die Katakomben hatten die Gebeine hunderter und tausender Märtyrer und Heiliger aufbewahrt. Die Hauptstadt der christlichen Welt bezog ihre Legitimation nicht mehr von Romulus und Remus, sondern von den Gräbern und Überresten der Apostelfürsten Petrus und Paulus in und vor ihren Mauern.

Von Christus selbst waren – da er ja nach seiner Auferstehung in den Himmel aufgefahren war, was zum Kern des christlichen Credos gehört – nur die Leidenswerkzeuge übrig geblieben, die Nägel, das Kreuzesholz, sein letztes Hemd, die Leichentücher. Seine zu Lebzeiten abgeschnittenen Fuß- und Fingernägel und Haare waren unidentifizierbar in die Materie Galiläas und Judäas übergegangen. Die mumifizierte Vorhaut des Säuglings musste deshalb seit ihrem Auftauchen als plastisch konkreter und einzig übrig gebliebener materieller Ausweis der Menschwerdung Gottes in Jesus verstanden werden.

Die Urkatastrophe und ein Geheimnis

Die katholische Kirche hat ab dem 6. Jahrhundert jeweils am 1. Januar – acht Tage nach dem Fest der Geburt Christi – das "Fest der Beschneidung des Herrn" zuerst in Frankreich gefeiert und seit dem 9. Jahrhundert auch in Rom, wo die Reliquie gleich in den Lateran, zum Reliquienschatzhaus der Päpste ging. Hier blieb sie Jahrhunderte. Als aber ein Heer deutscher und spanischer Landsknechte am 6. Mai 1527 die Stadt im "sacco di Roma" stürmten, ging auch diese Reliquie verloren. Tausende Paläste gingen in Flammen auf. Die Söldner schleppten tonnenweise Gold und Silber in ihre Zelte. Der Schleier der Veronika, die Kronreliquie der Päpste, ging verloren. Es war das Ende der Welt, es war eine Urkatastrophe aus Raub, Folter und Vergewaltigungen.

Über 90 Prozent der mobilen Schätze Roms wechselten den Besitzer, in einem Gewaltrausch der führungslosen Soldateska, von denen ein Söldner auch das Reliquiar mit dem Sanctum Preputium an sich brachte.

Mit der Beute hastete er über die hügelige Via Flamina nach Norden zurück. Es soll ein Soldat namens Lanzichenecco gewesen sein, in dem sich bis jetzt eine Verballhornung des deutschen "Landsknecht" heraushören lässt. Rund 50 Meilen nördlich von Rom wurde er von Söldnern des Grafen Anguillara ergriffen und in Calcata in den Kerker der bemoosten Burg geworfen, wo er das Schmuckstück im lehmigen Tuff des Bodens verbarg, damit ihm nicht deswegen der Prozess gemacht würde. Er kam frei, kehrte nach Rom zurück und starb rund 20 Jahre später in der Nähe von Sankt Peter, wo er einem Priester vor seinem Tod das Versteck der verlorenen Reliquie verriet.

"Hier liegt die allerheiligste Vorhaut"

Davon erfuhr auch der Papst. Doch die Vesuche des Vatikans scheiterten, die delikate Reliquie nach Rom zurück zu bekommen. Stattdessen brachen nun Pilger von Rom nach Calcata auf, zu der Vorhaut Christi in einem Reliquiar über dem Hochaltar. Einmal im Jahr, am Fest der Beschneidung Christi, wurde es auch unter einem kostbaren Seidenbaldachin mit Weihrauch und zum Gesang gregorianischer Litaneien durch das Bergstädtchen getragen, um in ihm das Wunder zu verehren,dass Gott Mensch geworden war, richtig, ohne Tricks, ohne Theater. Im Grunde gab es kein intimeres und Bindeglied zwischen Judentum und Christentum als das Sanctum Preputium und dieses Fest am 1. Januar, das 1969 abgeschafft wurde. Die Heilige Vorhaut aber hatte auch die Abschaffung des Festes überlebt – um genau 14 Jahre.

Es waren die Jahre, als nur noch die Hippies und Hexer Calcatas hinter der Reliquie her taumelten. Dreißig Jahre nach dem Verschwinden der Reliquie ist die Kirche des "Heiligsten Namens Jesu" während die Woche verriegelt und verrammelt. Auf der Piazza streiten zwei alte Freaks. Daneben singen zwei betrogene Liebhaberinnen  im Chor ihren Verflossenen nach:  "Parole, parole, soltanto parole tra noi." Der Rest ist Stille in dem Städtchen. An einer abgeblätterten Wand ein Graffito: "Sono felice ma soffro" (Bin glücklich, aber leide). Hier und da Musik aus den Fenstern. Spachtelkratzen, wo vor den offenen Türen Schränke auf der Straße restauriert werden. Der Zeiger der Kirchturmsuhr zeigt schon längst keine Zeit mehr an und hängt schlapp auf halb sechs. Der Putz fällt ab, Moos überzieht den Tuff, die Türen sind die ganze Woche über verrammelt. Die Piazza gleicht dem Set für einen Tarkoswski-Film.

Am Samstag hingegen steht die Tür der einschiffigen Kirche weit auf, das Weihwasserbecken ist frisch gefüllt, die Bänke sind billig gezimmert und verkratzt. Doch der alte Hochaltar, der Marmor, der Stuck, der ganze Chorraum leuchtet in eigenartig fremder Pracht in dem billigen Gotteshaus. Don Enrico, der hier am Samstag und Sonntag zwei Messen liest, hat ein Tonband mit gregorianischen Chorälen eingeschaltet und beantwortet gern jede Frage. Er betreut die Pfarrei seit Jahren und fährt seit Jahrzehnten einmal jährlich nach Lourdes. Samstagnachmittags und Sonntagfrüh liest er in Calcata die heilige Messe. Da sind drei Einwohner dabei und Laufkundschaft aus der Menge der zahlreichen Touristen, die Calcata an Wochenenden aufsuchen. Er zeigt hoch über dem Altar auf eine lateinische fast unlesbare Inschrift in grünen Marmor, wo es heißt: HIC RECONDIT SACRATISSIMUM DIVINI NOSTRI IESU CHRISTI PREPUTIUM (Hier liegt die allerheiligste Vorhaut unseres göttlichen Jesus verborgen).

Hat der Vatikan sie beiseite geschafft?

In dem offenen Tabernakel mit der ausgerissenen Tür darunter, ist jetzt noch die alte rot-goldene Brokatverkleidung zu sehen, aber vor allem das Porträt Christi, das er da hinein gestellt hat. In diesem Tabernakel war das Reliquiar verborgen.

Doch auch der Tabernakel darunter ist leer, in dem in katholischen Kirchen die konsekrierten Hostien aufbewahrt werden. Auch hier ist die Tür abgerissen, und die Brokatvorhänge davor, die noch an den Vorhang des Tempels in Jerusalem vor dem Allerheiligsten, sind zur Seite geschlagen. Das Goldinnere leer, das ist für jeden zu sehen, hier brennt kein ewiges Licht mehr vor der Gegenwart Gottes. Nein, sagt Don Enrico, es gehe nicht mehr, hier noch geweihte Hostien aufzubewahren. Calcata sei esoterisch geworden. Die Angst vor dem Diebstahl der Hostien zu wohl begründet. Es seien keine Gerüchte, die hier von schwarzen Messen redeten, in denen Hostien geschmäht und geschändet würden.

Resignation? Kennt er nicht. Lieber zeigt er stolz zu den Stukkaturen hoch, die diesen Altar doch immer noch auf einzigartige Weise schmücken würden. Da, links! Die Ankündigung der Geburt durch den Erzengel Gabriel an Maria, darüber die Geburt Christi, im Scheitel ein Bild des Auferstandenen, dann daneben die Beschneidung Christi und darunter seine Darbringung vor den Propheten und Heiligen Israels im Jerusalemer Tempel.

Links neben dem Altar ist auf einer alten Fahne die einzige Abbildung der Reliquie zu sehen, die in der Kirche übrig geblieben ist. Der heilige Cornelius und der heilige Cyprianus, der eine ein Papst, der andere ein Bischof, beide Schutzpatrone der Stadt, stehen da unter einem geöffneten Himmel, wo zwei Engel so etwas wie eine Krone tragen, über einem Band mit der lateinischen Inschrift "Signa Circumcisionis D.N.I.C" (Die Zeichen der Beschneidung unseres Herrn Jesus Christus). "Nein," sagt der Pfarrer, "die Reliquie musste weg. Hier war für sie kein Bleiben mehr. Wahrscheinlich hat der Vatikan sie geschickt beiseite schaffen lassen, um einer letzten Schändung zuvor zu kommen."

Skeptik am Maschendrahtzaun

Der Raub der Vorhaut durch den Vatikan ist in Calcata allgemeine Annahme. Auch im Internet wird die Theorie kaum je ernsthaft bezweifelt. "Nein, nein, und nochmal nein", sagt hingegen Don Dario in Nuova Calcata im Vorgarten seines Pfarrhauses neben dem gewagten Kirchenneubau, der hier schon beim Richtfest als Moulinex verspottet wurde. Doch eigentlich will er gar nichts sagen. 

Don Dario ist der alte Pfarrer Calcatas, der am Neujahrstag 1983 morgens verkündete, die Prozession müsse leider ausfallen, weil die Reliquie gestohlen worden sei. Schon damals fiel der Verdacht sogleich auf ihn selbst. Don Dario war 1983 fünfzig Jahre alt. 43 Jahre hat er in Calcata verbracht. Er verweist leidenschaftlich auf ein Dekret des Vatikans von 1900, nach der über die Reliquie von Katholiken gar nicht mehr geredet werden sollte und bittet dafür um Respekt. Er schaut uns skeptisch über den Maschendrahtzaun vor seinem Haus an. Ein Schlaganfall scheint seine rechte Lippe und seinen rechten Arm angegriffen zu haben, doch an den Tag des Diebstahls erinnert er sich noch haargenau. "Es waren ordinäre Diebe. Es war ein Pärchen", sagt er, "und ich bin überzeugt davon, dass sie es nach einem Programm betrieben haben. Ja, es war eine Frau dabei, und sie waren mir vorher schon aufgefallen, weil sie mich ausspionieren wollten. Und dann sind sie da vorne, durch dieses Fenster, bei mir eingestiegen und haben die Reliquie gestohlen, als ich gerade einiger Erledigungen wegen in Rom war." Er zeigt auf den Bungalow aus unverputzten Tuffziegeln hinter ihm, der sein Pfarrhaus ist. In einem weißen Schuhkarton verpackt und getarnt, hatte er den Schatz in seinem Schrank versteckt. Doch warum war die Reliquie überhaupt hier?

"Weil ich sie in Sicherheit bringen wollte. Es hatte vorher schon Versuche gegeben, sie zu stehlen. Hier wird dauernd gestohlen. Erst vor kurzem, vor drei Monaten, ist in der alten Kirche wieder eine Tür vom Tabernakel gestohlen worden, einfach so." Und wie sah das Reliquiar aus? "Es war klein. Zwei Engelchen, die zusammen eine Eichel hielten, wie wir sie als Kinder immer in den Wäldern gesammelt haben, als Futter für die Schweine. In diesem winzigen Gefäß befand sich die Reliquie selbst." War das Gefäß aus Gold? "Nein, es war versilbert, mit ein paar kleinen Edelsteinen, von denen aber einige schon herausgefallen waren."

Don Dario ist nicht sehr sorgfältig rasiert. In seinem sandfarbenem Pulli sieht man ihm den alten Priester nicht an, der in ihm steckt, höchstens an seinen skeptischen Augen hinter der Hornbrille. Die allerheiligste Vorhaut unseres Herrn und Erlösers ist weg, gestohlen, und er kann es nicht ändern und hofft nur, dass kein Schindluder mit ihr betrieben wird. Dass sie jemals wieder auftauchen könnte, kann er sich nicht vorstellen. Sie war aber doch schon einmal gestohlen und für Jahrzehnte verschwunden, bevor sie wieder auftauchte! Er winkt ab. Tempi passati.

Das Sanctissimum Preputium darf also als endgültig verschwunden gelten. Die keuscheste Reliquie der Welt, die sich vorstellen lässt, die Vorhaut eines acht Tage alten Säuglings, die es substanziell wohl nie gegeben hat, gibt es seit 1983 auch de facto nicht mehr. Mein Freund Hannes in New York, der sich in solchen Dingen auskennt, schwört allerdings, dass Vorhäute im Judentum nach ihrer Entfernung wie "Müll" behandelt und entsorgt werden. "Moment mal", sagt meine Frau dazu, "wenn wahr ist, dass wir glauben, das Maria genau wusste, wen sie ausgetragen und geboren hat, müssen wir dann nicht zwingend annehmen, dass sie auch das kleine Häutchen ihres Sohnes aufgehoben hat. Gerade so, wie viele Eltern bis vor kurzem noch die erste abgeschnittene Locke ihrer Tochter aufgehoben haben? Sie wusste doch, wer er war!"

Ich schaue sie skeptisch an. Der Gedanke ist plausibel, auch faszinierend, allein mir fehlt der Glaube. Wie auch immer. Ultimativer als in der frommen Verehrung dieses göttlichen Hautkringels ist am Glauben an der Menschwerdung Gottes nie festgehalten worden. Einzigartiges Garantiesiegel der jüdischen Herkunft Christi und der Gesetzestreue seiner Eltern. Mit dem Fest der Beschneidung hatte es immer das Bewusstsein wach gehalten, dass Jesus von Nazareth ein Jude war. Es war unerhört. Eine Zumutung. Diese sollte jedoch auch und gerade heute die Kirche sich wieder "zumuten". Die Courage wird dringend gebraucht – und dieser Feiertag, ob zum 1. oder 3. Januar, wie jüngst wieder diskutiert, wäre ein Beitrag für den so dringend gebrauchten Frieden. 

Zuerst veröffentlicht im VATICAN Magazin (9/2012). Aktualisiert und publiziert bei CNA Deutsch mit freundlicher Genehmigung.

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