Ein Argument, das Moore heranzieht, um das Identifikationsverbot von “gut” mit einer empirischen Eigenschaft zu verteidigen, ist das sogenannte “Argument der offenen Frage”. Es hat nahezu dieselbe Berühmtheit erlangt wie der naturalistische Fehlschluss selber. In der letzten Folge habe ich es der Sache nach bereits benutzt, allerdings in verfremdeter Form, nämlich dort, wo ich den Anspruch herausstelle, mit dem jede naturalistische Definition des Wortes “gut” kollidiert. Wenn ich jemandem sage, dass Lust gut sei, dann beanspruche ich, ihm mit diesem Satz etwas mitzuteilen, was einen Informationswert hat. Dieser kann aber nur dann gegeben sein, wenn die Erklärung mehr ist als die Tautologie Lust sei lustvoll. Damit scheidet aber “lustvoll” als Definiens für “gut” aus, denn jede korrekte vollständige Definition müsste das Definiendum durch das Definiens substituierbar machen und folglich das Urteil “Lust ist gut” in eine Tautologie verwandeln. Die Auffassung, das Urteil “Lust ist gut” sei tautologisch, ist aber kontraintuitiv bzw. widersprecht unserer Sprachpragmatik. Genau dieser Umstand nun macht die Frage, ob Lust gut sei, sinnvoll. In der Sinnhaftigkeit dieser Frage besteht Moores “Argument der offenen Frage”: Wer fragt, ob Lust gut ist, fragt nicht bloß, “ob Lust lustvoll ist” (Principia Ethica, S. 48). Allgemein formuliert: Wenn ich “gut” durch Identifizierung mit einer natürlichen Eigenschaft x definieren könnte, müsste die Frage “Ist x gut?” als tautologisch empfunden werden. Sie wäre nicht offen, sondern durch x selber bereits beantwortet. Wenn dem aber nicht so ist, so kann das nur daran liegen, dass das Wort “gut” gegenüber x einen Bedeutungsüberschuss besitzt. Niemand hält Fragen wie “Ist es gut, nach Lust zu streben?”, “Ist es gut, dem Nächsten zu helfen?”, “Ist es gut, auf das Überleben im Rahmen des survival of the fittest aus zu sein?”, “Ist es gut, das größte Glück der größten Zahl anzustreben?” für sinnlos und überflüssig. Egal, welcher Identifikationskandidat im naturalistischen Fehlschluss angeboten wird: Er kann nicht beanspruchen, die Frage überflüssig zu machen. Diese bleibt offen und der moralphilosophischen Diskussion unterworfen.

Als Gegenbeispiel können wir eine echte Tautologie nehmen. Wenn wir einer Person B mitteilen, dass ein Junggeselle ein unverheirateter Mann sei, dann hat diese Aussage keinen Informationswert, es sei denn, B kenne nicht die Bedeutung des Wortes “Junggeselle”. Im letzteren Falle wäre der zuständige Fachmann für die erkenntniserweiternde Auskunft weder der Philosoph noch der Anthropologe noch der Naturwissenschaftler, sondern der Lexikograph. Dies explizit zu leugnen, ist übrigens die Voraussetzung für die scheinbare Plausibilität, die Quine in seinem berühmten Aufsatz Zwei Dogmen des Empirismus erzeugt, um die Unterscheidung zwischen synthetischen und analytischen Urteilen in Frage zu stellen und so den Weg zu bahnen, den Rorty weitergeht, um den Erkenntnisbegriff des commons sense vollends zu zerstören und die Philosophie zu entsorgen. Wir können uns den Unterschied zwischen synthetischen und analytischen Urteilen klar machen, wenn wir folgende zwei Situationen vergleichen: (1) Wir sagen zu B: “Titus ist ein Junggeselle, aber ich weiß nicht, ob er unverheiratet ist.” (2) Wir sagen zu B: “Es macht Lust, sich ab und zu einen Seitensprung zu erlauben, aber ich weiß nicht, ob das gut ist.” Im ersten Fall könnte B erwidern: “Wenn du nicht weißt, ob er unverheiratet ist, dann weißt du auch nicht, ob er ein Junggeselle ist. Wenn du ihn trotzdem einen Junggesellen nennst, dann offensichtlich in Unkenntnis darüber, was dieses Wort bedeutet.” Eine Diskussion zwischen den beiden würde durch einen Blick in den Duden entschieden. Im zweiten Fall dagegen könnte sich durchaus eine Sachdiskussion über die Frage der Bewertung eines Seitensprungs und seiner Lust entspannen, etwa zwischen einem Hedonisten, dem Lust der einzige Wert ist und der die Institution der Ehe mit ihren Verpflichtungen für eine zu überwindende bürgerliche Konvention hält, und einem Verteidiger der ehelichen Treue. Dass trotz des Konsenses über die Frage, ob der Seitensprung lustvoll sei, die Frage, ob er auch gut sei, immer noch offen ist, zeigt die Unhaltbarkeit des naturalistischen Fehlschlusses, der in diesem Fall “gut” mit “lustvoll” identifiziert. Da würde es auch nichts nützen, eine solche Definition in den Duden aufzunehmen. Es handelt sich um eine Sachdiskussion, die nicht durch einen linguistischen oder semantischen Gewaltstreich beendet werden kann.

Auf dieselbe Weise könnten wir bezüglich aller anderen Fälle verfahren, in denen “gut” per naturalistischem Fehlschluss definiert wird. Noch deutlicher könnten wir uns die Unhaltbarkeit des naturalistischen Fehlschlusses vor Augen führen durch die Überkreuzsubstitution der Definienten bei konkurrierenden Definitionsversuchen.

Das Argument der offenen Frage lässt sich auch in die Logik des Humeschen Gesetzes transformieren (Wir erinnern uns: Der naturalistische Fehlschluss ist immer auch ein Verstoß gegen das Humesche Gesetz, nicht aber umgekehrt): Jede deskriptive Aussage, die den Grund einer Norm anzugeben vorgibt, lässt sich wiederum sinnvollerweise der Frage nach dem Grund des Gesolltseins unterwerfen. Ebenso, wie ich fragen kann, ob Lust gut sei, kann ich auch fragen, ob (und warum) ich nach Lust streben soll.

Hier ist es wichtig, den Stellenwert des Arguments der offenen Frage zu erkennen. Die Sinnhaftigkeit der offen bleibenden Frage ist einsichtig nur auf dem Hintergrund jener Intuition, von der schon Kant geleitet wurde, nämlich dass Neigung keine moralische Norm begründen kann - ebenso wenig wie jeder andere Sachverhalt, der nicht schon von vorne herein normativ aufgeladen ist. Im Gegenteil: Es muss eine moralische Norm existieren, die mir das Nachgeben gegenüber der Neigung überhaupt erst gestattet. Nicht Neigung, sondern Pflicht ist es, was mein Handeln zu einem moralischen macht in dem Moment, in dem es zu seinem Beweggrund wird. So wie der Begriff des Guten im Sinne Moores ein letzter, undefinierbarer Begriff ist, so ist auch das moralische Sollen ein letztes, irreduzibles Phänomen, ein nicht weiter ableitbares “Faktum der Vernunft” (Kant). Die Frage nach dem Grund des Sollens kommt erst in der Erkenntnis des Guten zur Ruhe. Jede andere Antwort kann nur eine vorläufige sein und hält die Frage nach dem letzten Grund offen. Das Argument der offenen Frage hat deshalb nur eine heuristische Funktion, um uns zur prise de conscience des moralischen Phänomens zu verhelfen, kann diese selber aber nicht ersetzen und wird unverständlich, wenn sie vollständig fehlt. So wie erst die Evidenz des Guten die Frage nach der Gesolltheit beantwortet, so kann diese Evidenz wiederum nicht durch etwas anderes als durch das Gute selbst erzeugt werden. Das Gute selber ist die letzte Rechtfertigungsinstanz, die selber keiner Rechtfertigung mehr bedarf oder auch nur fähig ist. Die moralische Frage bleibt so lange offen, so lange sie durch etwas Anderes als das Gute selbst beantwortet wird. So ist es kein Wunder, dass Moores Argument der offenen Frage ebenso umstritten bleibt wie seine These von der Undefinierbarkeit des Guten. Erst wenn ich Letztere eingesehen habe, verstehe ich auch den eigentlichen Sinn des Arguments der offenen Frage. Dieses Argument soll den je eigenen Vollzug moralischer Intuition erleichtern, kann ihn aber nicht ersetzen.

Moore schreibt in § 13, in dem er das Argument der offenen Frage ausführt: “Jeder versteht sehr wohl die Frage ‘Ist dies gut?’ (...) Sooft er an ‘inneren Wert’ oder ‘eigentlichen Wert’ denkt oder von etwas sagt, dass es ‘existieren soll’, hat er das Einzigartige vor Augen - die einzigartige Eigenschaft von Dingen -, was ich mit ‘gut’ bezeichne. Jedem ist dieser Begriff stets gegenwärtig, obwohl er sich vielleicht nie vergegenwärtigt, dass er von anderem ihm bewußten Begriffen verschieden ist. Aber für eine rechte ethische Erörterung ist es äußerst wichtig, dass er sich dieser Tatsache bewusst wird” (S. 48).

Hier finden wir bei Moore selber die beschriebene Korrelation zwischen dem Sollensbegriff und dem Begriff des Guten. Sowohl diese hier bei Moore auftauchende Korrelation wie auch die von ihm ins Feld geführte Relevanz für eine ethische Erörterung begründen die Annahme, dass er bei dem erwähnten “inneren Wert” an den moralischen Wert denkt - entgegen seinem sonstigen Sprachgebrauch, der den Begriff des Guten nicht auf diesen Wert beschränkt. Träger des moralischen Wertes sind Handlungen und Willensakte, nicht aber alle möglichen Dinge, von denen “gut” prädiziert werden kann, auch nicht die Lust, die Moore im selben Abschnitt als Beispiel für etwas Gutes abhandelt.

Diese mangelnde Unterscheidung zwischen dem moralischen und außermoralischen Guten macht verständlich, warum viele Interpreten Moores an einer klaren Erkenntnis des wahren Kerns seiner Thesen gehindert werden. J. L. Mackie dagegen, der berühmteste Vertreter der Irrtumstheorie in der Ethik, sah klar, dass Moores Argument nur “auf sittliches (und möglicherweise auch ästhetisches) Gutsein anwendbar” sei (Ethik, Stuttgart 1981, S. 62). Ebenso sieht Julian Nida-Rümelin die Korrelation des Mooreschen Begriffs des Guten, soweit er für die Schlüssigkeit des Arguments der offenen Frage relevant ist, mit dem des moralischen Sollens: “Wenn moralische Tatsachen nichts anderes wären als natür li che (physikalische, biologische oder auch sozial wissen schaftlich (behavioristisch) beschreibbare), dann gäbe es die se nicht. Die Welt der moralischen Tatsachen ist normativ verfasst, das ist der Kern des Mooreschen Arguments der offenen Frage” (Unaufgeregter Realismus, Paderborn 2018, S. 134). Eine naturalistische Ethik, die statt Kriterien des Guten Definitionen anbietet, bringt folglich die moralische Norm zum Verschwinden, indem sie sie durch Fakten ersetzt. “Einen naturalistischen Realismus kann es nicht geben”, meint Nida-Rümelin zurecht. Damit nimmt er die exakte Gegenposition zu Peter Schaber ein, der gerade durch eine naturalistische Position den moralischen Realismus zu retten versucht. Konsequenterweise hält Schaber das Argument der offenen Frage für problematisch (Naturalistischer Fehlschluss, in: Düwell/Hübenthal/Werner, Handbuch Ethik, Stuttgart 2011, S. 455). Sein mangelndes Verständnis zeigt sich darin, dass er, ähnlich wie Putnam oder Harman, eine Definition des Guten als Ergebnis einer empirischen Untersuchung für möglich hält. Doch zu erwarten, dass aus einer Untersuchung rein deskriptiv beschreibbarer Sachverhalte ein normativer Begriff erzeugt werden könnte, ist so abwegig wie die Erwartung, aus geometrischen Operationen, die in einer Ebene verbleiben, einen dreidimensionalen Körper konstruieren zu können. Der Clou des Arguments der offenen Frage besteht - um im Bild zu bleiben - darin, immer dann die dritte Dimension ins Spiel zu bringen, wenn zweidimensional beschrieben zu werden versucht wird, was nur dreidimensional gedacht werden kann.

Die Serie "Um eine Philosophie des Guten" erscheint alle 14 Tage am Dienstag um 9 Uhr bei CNA Deutsch. 

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