Im Vorwort zur Jesus-Trilogie bat Papst Benedikt XVI. für seine Darlegungen um den "Vorschuss an Sympathie", der ein wirkliches Verständnis erst gestattet. Kritische, sachlich begründete Einwände wünschte er sich in gleicher Weise. Wir wissen alle, wie sehr es uns in Kirche und Welt an jenem "Vorschuss an Sympathie" mangelt. Im Gespinst unserer Vorurteile befangen, überschätzen wir unsere Begabungen und verkennen unsere Schwächen. Um den "Vorschuss an Sympathie", um ein wirkliches Zuhören hat Benedikt XVI. oft gebeten – und nun, sieben Jahre nach dem Amtsverzicht, steht er, der demütige Emeritus, der zeitlebens nie im Mittelpunkt stehen oder Papst werden wollte, aufgrund eines zurzeit der kollektiven Empörung gänzlich unbekannten Aufsatzes zum Priestertum im Kreuzfeuer medialer und auch theologischer Kritik. Wer sich Benedikt XVI. verbunden weiß, den verstören diese Meldungen und Meinungen. Auch viele, die der katholischen Kirche nicht angehören, sind sehr verwundert darüber: Hören Sie ruhig mal genau zu, wenn Sie protestantische Mitchristen oder auch Atheisten treffen. Ich greife nur ein beiläufig geäußertes Wort auf: "Was ist bei euch in der Kirche eigentlich los? Habt ihr etwas gegen den guten alten Benedikt?"

Sachlich und nüchtern hat Dr. Christian Schaller, der stellvertretende Direktor des Regensburger Instituts Papst Benedikt XVI., erklärt, dass der Aufsatz in keiner Weise für kirchenpolitische Interpretationen tauge: "Es handelt sich dabei um einen theologisch-wissenschaftlichen Grundlagentext über das Priestertum. Dass darin auch der Zölibat vorkommt, ist nur logisch. … Der Text ist aber keinesfalls als Beitrag zu irgendwelchen aktuellen kirchenpolitischen Diskussionen zu verstehen.". Genau das ist der Fall. Benedikts theologisches Denken zu verstehen und seine Überlegungen zu vertiefen, erfordert Zeit und Muße. Es handelt sich mitnichten – im Gegensatz zu den meisten Kommentare dieser Tage – um ein bloß tagesaktuelles Statement. Nehmen wir uns alle Zeit für die Lektüre? Für eine behutsame Reflexion? Dasselbe gilt, um nur einen wertvollen Text der letzten Jahre zu nennen, für Franziskus' Nachsynodales Apostolisches Schreiben "Amoris laetitia". Wie viele von jenen Kritikern, die sich über die berühmt gewordene Fußnote 351 empörten, haben dieses Schreiben wirklich mit einem "Vorschuss an Sympathie" vollständig gelesen und bedacht? Wie viele von jenen, ob Theologen oder Weltchristen, die nun in diesen Tagen meinen, den vermeintlich so modernen Papst Franziskus gegen seinen Amtsvorgänger verteidigen zu müssen, haben dessen Brief an die deutschen Katholiken vom 29. Juni 2019 wirklich gelesen und den beherzten Aufruf zur Neuevangelisierung wahrgenommen – und anschließend die eigene Agenda für den nun beginnenden "Synodalen Weg" kritisch überdacht?

Nur wenige Aspekte aus Benedikts reichhaltigem Beitrag seien kurz benannt. Er spricht gewissermaßen über die Lebenswirklichkeit der katholischen Kirche heute, also über den Mangel an Berufungen, wenn er schreibt: "Es ist in jeder Generation von neuem Hoffnung und Sorge der Kirche, Berufene zu finden. Wie sehr dies gerade heute Sorge und Auftrag der Kirche ist, wissen wir nur allzu sehr." Benedikt erinnert an die Notwendigkeit des Gebetes. Wer von uns betet eigentlich noch für Berufungen? Sodann spricht er von der priesterlichen Existenzweise: "Für die Priester der Kirche Jesu Christi war die Situation durch die regelmäßige oder in vielen Teilen tägliche Eucharistiefeier grundsätzlich verändert. Ihr ganzes Leben steht in der Berührung mit dem göttlichen Geheimnis und verlangt so eine Ausschließlichkeit für Gott, die eine andere, das ganze Leben umgreifende Bindung wie die Ehe neben sich ausschließt. Aus der täglichen Eucharistiefeier und aus dem umfassenden Dienst für Gott, der darin mitgegeben ist, ergab sich die Unmöglichkeit einer ehelichen Bindung von selbst. Man könnte sagen, die funktionale Enthaltsamkeit war von selbst zu einer ontologischen geworden. Damit war von innen her ihre Begründung und Sinngebung verändert. Heute drängt sich dagegen sofort der Einwand auf, daß es sich dabei um eine negative Einschätzung des Leibes und der Sexualität handle. Der Vorwurf, der priesterlichen Ehelosigkeit liege ein manichäisches Weltbild zugrunde, wurde schon im 4. Jahrhundert erhoben, aber von den Vätern sofort mit Entschiedenheit zurückgewiesen und ist dann auch für einige Zeit verstummt. Eine solche Diagnose ist schon deshalb falsch, weil in der Kirche die Ehe von Anfang an als eine von Gott im Paradies geschenkte Gabe betrachtet wurde. Aber sie nahm den Menschen als ganzen in Anspruch und der Dienst für den Herrn beanspruchte ebenfalls den Menschen ganz, so dass beide Berufungen zugleich nicht realisierbar erschienen. So war die Fähigkeit, auf die Ehe zu verzichten, um ganz für den Herrn da zu sein, zu einem Kriterium für den priesterlichen Dienst geworden."

Anschließend folgt eine Bemerkung zum Zölibat. Es handelt sich um eine kirchengeschichtliche Notiz: "Zur konkreten Gestalt des Zölibats in der alten Kirche ist noch anzumerken, dass verheiratete Priester die Weihe empfangen konnten, wenn sie sich zur sexuellen Abstinenz verpflichteten, das heißt eine sogenannte Josefsehe eingingen. Dies scheint in den ersten Jahrhunderten durchaus normal gewesen zu sein. Es gab offenbar eine genügende Zahl von Menschen, die eine solche Weise zu leben in der gemeinsamen Hingabe an den Herrn für sinnvoll und lebbar empfanden." Diese Beschreibung eines kirchengeschichtlichen Faktums – einer längst vergangenen Epoche – ist erkennbar nicht auf Interpretationen ausgelegt. Wer mit einer ganz anderen Hermeneutik an diesen Text herantritt, wird möglicherweise zu kreativen Überlegungen über "Viri probati" an sich gelangen. In dem Text selbst steht nichts davon.

Benedikt XVI. meditiert zum Schluss über seinen eigenen Weg als Priester: "Mitsein mit Gott bedeutet das Aufsprengen des bloßen Ich ins Ganze von Gottes Willen hinein. Diese Befreiung vom Ich kann aber sehr schmerzlich sein und ist nie einfach zu Ende vollzogen. Mit dem Wort "heilige" kann aber auch ganz konkret die Priesterweihe verstanden werden, die eben die radikale Beanspruchung des Menschen durch den lebendigen Gott und für seinen Dienst meint. Wenn nun im Text gesagt wird, "Heilige sie in der Wahrheit", so bittet der Herr den Vater, die Zwölf in seine Sendung mit einzubeziehen, sie zu Priestern zu weihen. "Heilige sie in der Wahrheit." Ganz leise scheint darin auch der Ritus der alttestamentlichen Priesterweihe angesprochen. Der zu Weihende wurde in einem Vollbad physisch gereinigt und dann neu eingekleidet. Beides zusammen will sagen, dass der so Gesandte ein neuer Mensch werden soll. Was im alttestamentlichen Ritual symbolisch dargestellt wird, wird aber in der Bitte Jesus überschritten in die Realität hinein. Das Bad, das allein die Menschen wirklich verwandeln kann, ist die Wahrheit, ist Christus selbst. Und er ist auch das neue Gewand, das in der kultischen Bekleidung äußerlich angedeutet wird. "Heilige sie in der Wahrheit." Das bedeutet: Tauche sie ganz in Jesus Christus ein, daß damit für sie gilt, was Paulus als die Grunderfahrung seines Apostolats ausgedrückt hat: "Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir" (Gal 2, 20). So ist mir an jenem Abend tief in die Seele gedrungen, was Priesterweihe über alle Zeremonien hinaus in Wahrheit bedeutet: das immer neue Gereinigtwerden und Durchdrungenwerden von Christus, so dass ER in uns spricht und handelt, immer weniger nur wir selbst. Und es ist mir klar geworden, dass dieser Prozess des Einswerdens mit ihm und der Überwindung des bloß Eigenen ein Leben lang andauert und immer auch schmerzliche Befreiungen und Erneuerungen in sich schließt. In diesem Sinn ist mir das Wort von Joh 17, 17f in meinem ganzen Leben eine Wegweisung geblieben."

Niemand, der diesen theologisch tiefgründigen wie meditativen Aufsatz, aus dem Benedikts priesterliche Demut hervorleuchtet als Zeugnis für Christus und die Schönheit des Glaubens in unserer Zeit, wird in irgendeiner Passage oder auch nur in einem Halbsatz einen Hauch von Widerspruch gegen Papst Franziskus erkennen können. Im Gegenteil: Der Heilige Vater wird diese Betrachtungen gewiss in Freude und tiefer Verbundenheit studieren. Anders als viele Kritiker kennt Papst Franziskus seinen lieben Vorgänger und dessen unverbrüchliche Treue. Benedikt XVI., verborgen vor der Welt lebend, im Gebet für die Kirche mit uns in Christus verbunden, hat uns allen mit diesem Text einen geistlichen Schatz geschenkt. Wir alle dürfen ihm dafür von Herzen dankbar sein.

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