Untersuchungsbericht zu Missbrauch im Bistum Münster: "Deutliches Führungsversagen"

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Bei der Untersuchung der Missbrauchsfälle im Bistum Münster zwischen 1945 und 2018 haben Wissenschaftler der Bistumsleitung "deutliches Führungsversagen" attestiert. Dies geht aus einem Zwischenbericht hervor, den ein fünfköpfiges Forscherteam der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) gestern in Münster präsentierte.

Die Untersuchung wurde am 1. Oktober 2019 in Auftrag gegeben und ist auf zwei Jahre angelegt.

Für die Untersuchungen hat das Bistum 1,3 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, neben den fünf Wissenschaftlern begleitet ein achtköpfiger Beirat die Forschung, der "die Beachtung wissenschaftlicher und juristischer Standards sowie die Zusammenarbeit von Bistum und Universität" gewährleisten soll. Das Bistum hat dazu seinen "Interventionsbeauftragten", die Universität ihre Ethik-Beauftragte entsandt. Auch drei Vertreter von Betroffenen, darunter der Initiator einer Selbsthilfegruppe, sind vertreten.

Wie die Universität Münster am Mittwoch mitteilte, haben die Forscher vollständigen und ungehinderten Zugang zu allen Akten, zu laufenden Untersuchungen und zu den Beständen des Bistumsarchivs. Auch das bischöfliche Geheimarchiv steht ihnen offen. Darüber hinaus führen sie Interviews mit zahlreichen Betroffenen.

"Sexuelle Revolution" und Missbrauch: Hat Benedikt XVI. Recht?

Im Zwischenbericht hat das Forscherteam aufgedeckt, dass im Zeitraum von 1945 bis 2018 rund 200 Priester des sexuellen Missbrauchs beschuldigt wurden. Die Analyse einer Stichprobe von bisher 49 Beschuldigten habe 82 Betroffene ergeben, die zu 90 Prozent männlich und zum Zeitpunkt des ersten erfahrenen Übergriffs durchschnittlich elf Jahre alt waren. Die Dauer des erlebten Missbrauchs ersteckte sich von einmaligen Übergriffen bis zu Zeiträumen von über zehn Jahren. In der Mitteilung der Universität heißt es wörtlich:

"Im zeitlichen Verlauf zeigt sich eine Häufung von Missbrauchstaten in den 1960er und 1970er Jahren."

Erst im Februar vergangenen Jahres hatte der emeritierte Papst Benedikt XVI. in einem Aufsatz, den CNA Deutsch in voller Länge veröffentlicht hat, auf einen möglichen Zusammenhang zwischen der Zunahme von sexuellen Skandalen innerhalb der Kirche und der "sexuellen Revolution" in den 1960er und 1970er Jahren hingewiesen.

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Wie CNA Deutsch berichtete, beschreibt der emeritierte Papst die "Physiognomie der 68er Revolution", zu der "auch Pädophilie als erlaubt und als angemessen diagnostiziert wurde."  Unabhängig davon habe sich in derselben Zeit ein Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie ereignet, der "die Kirche wehrlos gegenüber den Vorgängen in der Gesellschaft machte", so der Pontifex. Benedikt XVI. wörtlich:

"Man kann sagen, dass in den 20 Jahren von 1960 – 1980 die bisher geltenden Maßstäbe in Fragen Sexualität vollkommen weggebrochen sind und eine Normlosigkeit entstanden ist, die man inzwischen abzufangen sich gemüht hat."

Ausführlich widmet sich Benedikt der Frage der Pädophilie und des kirchenrechtlichen Umgangs mit Straftätern in Fällen sexueller Gewalt, auch seiner eigenen Rolle während seiner Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation und als Papst. Er warnt vor einem überzogenen Schutz von mutmaßlichen Tätern, betont, dass sexuelle Gewalt sich "in der Kirche und unter Priestern ausbreiten konnte, muss uns in besonderem Maß erschüttern".

Universität Münster: Kein Zusammenhang zur "sexuellen Revolution"

Warum genau die Zahl der sexuellen Straftaten durch Mitarbeiter der Kirche während dieses Zeitraums noch einmal zugenommen haben, konnten die Wissenschaftler der Universität Münster bislang nicht erklären. Vorsorglich wies Klaus Große Kracht als Teil des Forscherteams jedoch einen Zusammenhang zu den gesellschaftlichen Folgen der "sexuellen Revolution" zurück.

Stattdessen sei die Kirche dem "gesellschaftlichen Wertewandel" ausgeliefert gewesen. Der "sexuellen Revolution" eine Mitschuld zu geben, sei "zu einfach". Der Professor wird in der Pressemitteilung vom Mittwoch mit den Worten zitiert:

"Aber es wäre zu einfach, diesen Anstieg auf die sogenannte sexuelle Revolution zurückzuführen. Vielmehr traf der gesellschaftliche Wertewandel die Kirche unvorbereitet. Auf die neue gesellschaftliche Situation konnte sie keine Antwort geben."

Zusätzlich habe es "eine spezifische katholische Schamkultur" gegeben, die verhindert habe, dass Missbrauchsopfer über das erlittene Leid sprachen. "Wenn sie es taten, reagierte das familiäre und soziale Umfeld häufig mit Unglaube und Abwehr. Diese Sprachgrenzen blieben lange Zeit bestehen und wurden erst mit dem Bekanntwerden des Missbrauchsskandals im Jahr 2010 durchbrochen", heißt es im Zwischenbericht.

Vertuschung auf höchster Bistumsebene

Erst kürzlich wurde im konkreten Fall des Priesters A., der trotz wiederholter Verurteilung weiterhin in den Bistümern von Köln, Münster und Essen eingesetzt wurde, Kritik an der Münsteraner Bistumsleitung laut. Wie CNA Deutsch berichtete, war der Fall dem Bistum bereits länger bekannt.

Im November 2019 betonte der Münsteraner Bischof Felix Genn in einem offenen Brief an die Gläubigen seines Bistums, dass ihm "bewusst" sei, dass er als Bischof "letztlich für das verantwortlich" sei, "was im Bistum geschieht". Bei der Frage nach persönlicher Schuld verwies der Hirte jedoch auch auf mögliche "Systemfehler" und schrieb wörtlich:

"Welche Schwächen und Fehler gibt es in unserem 'System', dass ein Bischof nicht weiß, wenn ein Priester mit einer solchen Vorgeschichte in einer Gemeinde tätig ist? Haben wir diese systemischen Schwächen heute wirklich beseitigt? Und zentral ist natürlich die Frage, wie es überhaupt sein konnte, dass ein Priester, der mehrfach verurteilt wurde, von Bistum zu Bistum versetzt wurde? Auf diese Fragen habe ich keine einfachen Antworten. Ich weiß nur, dass ich als Bischof von Essen damals Verantwortung trug und deshalb alle um Entschuldigung bitte, die sich jetzt hintergangen oder betrogen fühlen. Insbesondere gilt diese Bitte ausdrücklich denen, die der Priester missbraucht hat und die nicht verstehen können, dass er weiter als Priester tätig sein durfte."

Auch im Bezug auf die bisher untersuchten Missbrauchsfälle im Bistum Münster im Zeitraum von 1945 bis 2018 deckten die Forscher zahlreiche Fälle von Vertuschung auf. Gerade bei "Intensiv- und Langzeittätern", die "bis zu 25 Jahre lang Minderjährige missbrauchten", habe die Bistumsleitung oftmals "schweigende Arrangements" getroffen. "Zum Teil auch in Verletzung des kircheneigenen Regelwerks verzichteten die Verantwortlichen auf ein kirchenrechtliches Verfahren oder die Suspendierung des Täters", heißt es im Bericht.

Die beschuldigten Priester wurden stattdessen aus der Gemeinde genommen, sie kamen übergangsweise in eine stationäre oder ambulante Therapie und wurden nach einer gewissen Karenzzeit wieder in der Seelsorge eingesetzt. Thomas Großbölting - ebenfalls Mitglied der Forschergruppe - betont, dass Betroffene zumeist übergangen wurden. Der Historiker wörtlich: 

"Wir sehen darin ein deutliches Führungs- und Kontrollversagen der Bistumsleitung, das sich nicht auf Einzelfälle begrenzt, sondern über Jahrzehnte zu beobachten ist."

Bistum Münster: Handeln der Verantwortungsträger macht fassungslos

Im Pressegespräch am Mittwochabend bezeichnete der Interventionsbeauftragte des Bistums Münster, Peter Frings, die Zwischenergebnisse der Forschergruppe als "nicht überraschend, aber doch erschreckend". Besonders schockierend sei es, dass den Verantworlichen "die Fortführung der priesterlichen Existenz und das Bild der Kirche nach außen" wichtiger gewesen sei als die Aufklärung der Missbrauchsfälle. "Das bleibt für uns heute unverständlich und lässt uns fassungslos zurück", so Frings wörtlich.

In Hinblick auf den Abschlussbericht, der in der ersten Jahreshälfte 2022 vorgestellt werden soll, betonte Frings, dass "viele Fragen sicherlich gestellt, aber auch beantwortet werden müssen". Dabei hoffe man sehr, "dass uns Betroffene und kritische Christinnen und Christen begleiten; denn nur zusammen kann man dieses bedrückende Kapitel der Bistumsgeschichte bewerten."

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