Vor einigen Jahren entdeckte ich, zu Gast im Regensburger Institut Papst Benedikt XVI., eine kostbare ältere Schrift, ein schmales Bändchen mit geistlichen Texten aus der Feder des damals noch amtierenden Pontifex. Ich wollte mir die neueste Forschungsliteratur vergegenwärtigen und verweilte bei älteren, aber nicht alt gewordenen Texten. Joseph Ratzinger hatte 1972 in jedem Monat eines überdiözesanen Pastoralblattes eine kleine Betrachtung verfasst. 

Die Wirbel, auch die diözesanen Bilderstürme der Nachkonzilszeit zogen damals durch die Lande. In Kirchen, die vom Bombenkrieg verschont worden waren, wurden Altäre zertrümmert. Rebellische Geister fanden Beachtung. Die Bewegung der 1968er hatte erst die Gemüter bewegt, dann die Straßen vieler Städte und manche Hörsäle erobert – und ihre Angehörigen marschierten nun in die Institutionen. Die "Fridays for Future"-Bewegung von damals hieß "Club of Rome": Wissenschaftler verkündeten die Grenzen des Wachstums, nur ein charismatisches Mädchen wie Greta war noch nicht in Sicht. Papst Paul VI. hatte zum Apostelfest am 29. Juni vom "Rauch Satans" gesprochen, der in die Kirche eingezogen sei. Die Würzburger Synode tagte auch schon. Das katholische Milieu fürchtete vielerorts um seinen Fortbestand. Doch Professor Ratzinger, just nach Regensburg berufen, sprach und schrieb, behutsam, klar und vorausschauend – über die Hoffnung des Senfkorns (vgl. Joseph Ratzinger: Die Hoffnung des Senfkorns, Kyrios Verlag, Meitingen 1973, 23–25). Er nimmt exegetische Deutungsversuche wahr und fragt sich, was der Herr uns heute mit dem Gleichnis vom Senfkorn sagen möchte. Aus dem armseligen Korn sei ein mächtiger, stolzer Baum emporgewachsen, der sich über die ganze Erde ausbreitete. Triumphierte die Kirche? Vielleicht, aber nun scheint Resignation um sich zu greifen, zu Beginn der 1970er-Jahre in Europa – und auch heute ist die Stimmung bedrückt, missmutig und trübe. Engagierte Kirchenpolitik verdrängt die Gottesfrage. Sehnsüchtige werden übersehen, Gläubige auch. Aus dem Senfkorn Hoffnung wuchs einst ein großer Baum. Ratzinger merkt an: "Er steht noch da, aber er scheint uns herbstlich müde und entlaubt." 

Verhält es sich heute nicht ähnlich? Diskurse, Dialogprozesse und Manifeste finden öffentliche Beachtung. Der Papst schreibt den Katholiken in Deutschland. Alle freuen sich, doch wer hat den Brief wirklich aufmerksam gelesen?

Der Baum der Kirche, so Ratzinger, scheint zu verdorren. Die Vögel des Himmels fliegen fort: "Allerlei seltsame Vögel nisten gespenstisch in ihm und lassen ihn eher unheimlich erscheinen." Es scheint, als sei der Baum nicht für die Ewigkeit gepflanzt. Auch die Kirchenreformer werden ihm nicht neues Leben einhauchen können. Joseph Ratzinger sagt, die "herbstliche Stunde des Verdorrens" sei gekommen: "Der Baum steht da, aber er scheint ohne Verheißung. Hoffnungslos."
Wir sehen Talkshowgäste. Wir sehen vielleicht Theologen, die Rezepte zur Kirchenreform vorschlagen. Etablierte Politiker äußern sich besorgt und mahnend: Die Kirche muss die Zeichen der Zeit erkennen und sich verändern. Wir hören Stimmen von Experten und bekommen Statistiken vorgesetzt. Arbeitshilfen erscheinen. Papiere werden vorbereitet. Von einem epochalen Wandel sprechen einige – und die Ideen von gestern gelten als Visionen von heute. Joseph Ratzinger spricht 1972 von dem entlaubten Baum. Die Hoffnung aber liege auf dem Senfkorn. Er schreibt hellsichtig: "Die Kirche bleibt Senfkorn ihre ganze Geschichte hindurch. Sie lebt immer von der Kraft des Heiligen Geistes und nie von der inzwischen erreichten Macht ihrer Organisation. Vielleicht ist es der Segen dieser Stunde, daß wir genötigt werden, dies neu zu erkennen. … Vielleicht mußten wir, mußte die Kirche in »starke Bedrängnis« hineingeführt werden, um neu zu wissen, wovon sie lebt – auch heute von der Hoffnung des Senfkorns, nicht von der Kraft ihrer Pläne und ihrer Strukturen."

Ständig wird von Kirchenprotesten berichtet. Ständig hören wir Neues über den "Synodalen Weg". Ständig werden kirchenpolitische Themen wiederholt. Doch wovon lebt die Kirche? Warum wird nicht über neokatechumenale Gemeinschaften berichtet? Warum hören wir in den amtlichen Medien nie etwas Positives über das segensreiche Apostolat der Petrusbruderschaft? Warum erfahren wir so wenig vom treuen Engagement ganz normaler Katholiken in den Pfarreien vor Ort?

Wenn Sie sonntags zur Kirche gehen, so glaube ich, sehen Sie keine Protestbanner, sondern betende Menschen. Sie suchen die sakramentale Gegenwart des Herrn. Sie alle sind Boten der Freude am Glauben und Gesandte der Hoffnung. Sie alle sind Zeugen des auferstandenen Herrn Jesus Christus. Sie wollen einfach beten. Sie möchten nur glauben, hoffen und lieben. Sie möchten Dank sagen. Sie möchten in der Kirche des Herrn zu Hause sein. Auch so viele Suchende sind noch immer unterwegs. Sie suchen nichts anderes als das Brot des Lebens und niemand anderen als den lebendigen Gott. Noch immer erinnere ich mich dankbar und ohne jede Nostalgie an mein Kindergebetbuch. Es erzählt von der Schönheit des Glaubens. Auch heute lese ich noch immer so gern darin Worte wie diese: "Wir beten bei der heiligen Kommunion: Jesus, ich bin dein; Jesus du bist mein; bleibe immer bei mir."

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