So fromm wie im Rosenkranzmonat ging es schon lange nicht mehr her. Der Papst rief beim Angelus zum Gebet gegen die "Attacken des großen Anklägers" auf, der die Kirche spalten wolle. Kardinal Marc Ouellet veröffentlichte am gleichen Tag seinen Brief an Erzbischof Viganò in dem er ihn fragte, wie er überhaupt noch Rosenkranz beten könne, um ihn dann streng zu Umkehr mahnen: "bereue Deine Revolte!" 

Die "Revolte" des Erzbischofs bestand darin, dass er erklärt hatte, er werde nicht länger an einem "Schweigekomplott" Teil haben, durch das Missbrauchstäter wie Kardinal McCarrick geschützt und ein Netzwerk von Wölfen in Hirtenkleidung aufgebaut worden sei. Weil der Papst wissentlich und direkt involviert sei, solle er ein gutes Beispiel geben und gemeinsam mit ihnen zurücktreten. Viganò lieferte Namen und Fakten, von Kardinal Ouellet forderte er, die Akten im Fall McCarrick offenzulegen.

Unter den unmittelbaren Reaktionen war auch zu hören, dass es sich hier um einen kirchenpolitisch motivierten Coup handle. Die Fakten betreffend insistierte Viganò in seiner Antwort, dass Ouellet die zentralen Vorwürfe bestätige und im Detail lediglich Sachverhalte leugne, die er so nie behauptet habe.  Die scharfe persönliche Kritik nahm Viganò gelassen; er akzeptiere gerne jede Zurechtweisung um in "der Liebe zu Christus, zur Kirche und dem Papst voranzukommen". Aber er habe eine Gewissensentscheidung vor Gott gefällt. Als alter Mann müsse er bald vor Gott Rechenschaft ablegen, einem Richter "der, selbst in seiner unendlichen Barmherzigkeit, jedem Menschen Erlösung oder Verdammnis bringen wird, je nach dem was er verdient hat".

Weil Tod, Gericht und Ewigkeit erst die Perspektive schaffen, in der sich die Bedeutung des eigenen Handeln offenbart, legte Johannes Paul den Blick die letzten Dinge nicht nur den alten, sondern vor allem auch den jungen Menschen ans Herz: "In der inneren Wahrheit unserer Taten ist gewissermaßen ständig die Dimension des ewigen Lebens gegenwärtig."

Während die Synode tagte, jährte sich sein Amtsantritt zum vierzigsten Mal, wobei Kommentatoren aus aller Welt an sein Schreiben an die Jugendlichen erinnerten, in dem er sie herausforderte, vor allem die Frage nach dem ewigen Leben zu stellen: Das Gewissen ist der "innere Reichtum, mit dem der Mensch immer wieder sich selbst auf die Ewigkeit hin übersteigt" . Diesen Reichtum, das darin enthaltene Gute und Böse trage der Mensch über die Grenze des Todes hinaus um schließlich, vor dem Angesicht Gottes, die ganze Wahrheit über sein Leben zu erkennen.

Raymond de Souza fiel im britischen Catholic Herald auf, dass dieses bewegende Schreiben auf der Jugendsynode nicht erwähnt wurde. Überhaupt habe man "viel über die Gestaltung der Zukunft geredet, nicht so viel über den Horizont der Ewigkeit."

Tugendpessimismus ist Jugendpessimismus

Die US-amerikanische Fundamentaltheologin Jessica Murdoch kann Gründe dafür liefern. In einem Artikel von 2017 mit dem Titel "Der neue Jansenismus. Ein Pessimismus, der alle heiligspricht" beginnt sie bei der Seminararbeit eines ihrer Studenten über die "Letzten Dinge", Tod, Gericht, Himmel und Hölle.

Der Student argumentierte darin, dass Gott nicht die richtigen Anreize für das Seelenheil biete. Ein geeigneteres Anreizsystem bereits im Diesseits würde es wesentlich einfacher machen die Erlösung der Menschen zu garantieren.

Das erschien ihr typisch für einen pessimistischen Katholizismus der Gegenwart, der davon ausgehe, dass das christliche Leben zu mühsam sei und ein Leben ohne schwere Sünden eigentlich nicht denkbar sei. Diese Sicht traue der transformierende Liebe Gottes im Leben jedes Einzelnen nicht viel zu. Die Forderungen Jesu können nur als "Ideale" verstanden werden, weil sie für einen Großteil der "Menschen von heute" keine realistische Möglichkeit seien. Weil Gott das schließlich selbst so eingerichtet hat ist er irgendwie auch selbst an diesen Sünden schuld und tut gut daran die Menschheit mit einem allgemein diffusen Erbarmen zu erlösen, vor dessen Hintergrund die Entscheidungen jedes Einzelnen nicht weiter relevant sind.  Das klinge zunächst ermutigend, meint Murdoch, doch in Wahrheit sei "ein Pessimismus, der alle heiligspricht, nur eine Schattierung weniger pessimistisch als einer der alle in die Hölle verdammt".  

Diese Verdammung aller fürchtete der alte Jansenismus. Dagegen stemmten sich damals die Jesuiten mit der Herz Jesu Verehrung.  Das flammende Herz sollte dabei bildlich ausdrücken, dass die Versuchung der Kleinmütigkeit und Verzweiflung an der Sünde nicht mit einem Gott zu vereinbaren sind, der selbst menschliche Natur angenommen hat. Jesus mit dem brennenden Herzen liebt so, dass wer in diese Liebe eintaucht selbst entflammt.  

Das ist freilich starker Tobak für "normale Menschen". In einer Talkshow zum Thema Homosexualität und Kirche ist mit solchen Sprüchen wohl kaum zu Punkten, doch die Schlussfolgerung Murdochs ist auch für Nicht-Fanatiker verständlich: So oft sei zu hören, wie schwer das christliche Leben sei, mit seiner erdrückenden Moral und harten Forderungen. "In Wahrheit befinden wir uns inmitten einer Krise der Liebe".

Auch die 22-jährige Studentin Avera Maria Santo kann sich mit einem Tugendpessimismus nicht abfinden. Sie beschreibt sich als junge katholische Frau, die gleichgeschlechtliche Anziehung empfindet. In einem Offenen Brief sagte sie den Bischöfen der Jugendsynode:  "Mir zu sagen, dass mein Kreuz der gleichgeschlechtlichen Anziehung zu schwer ist, dass ich nicht so lieben kann wie Christus es von mir möchte, ist nicht nur herabsetzend, es ist auch eine Lüge!" 

Ein Katholizismus der B-Klasse

Selbst auf den Seiten des konservativ-libertären Amerikanischen Politmagazins "National Review" staunte man über die Tatsache, dass unter der Leitung des Papstes aus  "Sünde" nun "das objektive Ideal nicht gänzlich leben" geworden sei und dabei gesellschaftliche Konventionen die Christliche Lehre als Maßstab ersetzten. Das mag vorhersehbar "konservativ" klingen, doch der Autor Michael Brendan Dougherty interessiert sich vor allem für die Logik dieser Transformation. Wenn aus normativen Geboten Ideale würden, die nur bis zu einem gewissen Grad realisiert werden müssen, dann gebe es keine Sünden mehr, sondern nur noch "Halbtugenden". Dougherty sieht darin einen B-Klasse Katholizismus.

In dieser vom Papst propagierten Version des Glaubens sei Gott nicht wirklich barmherzig, sondern eher nachgiebig und indifferent. Ein Gott, der dem Stereotyp des Baby-Boomer-Papis zum Verwechseln ähnlich sieht: er erwarte sich weniger von seinen Kindern, die können sich aber umgekehrt auch weniger von ihm erwarten. So ein Gott wäre freilich nicht in der Position zu richten - und Erlösung wäre er uns geradezu schuldig, wenn er denn ein lieber Gott sein soll. Erst recht, wenn er die Kirche bis vor Kurzem mit den Qualen einer nicht lebbaren Moral in die Irre hat laufen lassen.

Dougherty meint, hier sei die innere Kohärenz des katholischen Glaubens bedroht. Diese Bedrohung habe das Potential sich auf alle Christen auszuwirken.

Das mag sein, aber wer sich der neuen Sicht verschrieben hat muss sich um eine Begegnung mit dem Richter der Welten keine Sorgen machen. 

Doch kann ein Papst wirklich die Kirche ändern?

Pater Thomas Rosica, der die katholische Medienstiftung "Salt & Light" leitet, hat sich als einer der fleißigsten Apologeten für den Reformkurs des Papstes etabliert. Pater Rosica war Mitglied der Informationskommission der Synode und von den 36 Jugendvertretern, die an der Synode teilnahmen, waren vier bei "Salt & Light" angestellt.

In einem Aufsatz erklärte Rosica im September: "Papst Franziskus bricht mit katholischen Traditionen wann immer er will, denn er ist frei von ungeordneten Anhänglichkeiten. Unsere Kirche ist tatsächlich in eine neue Phase eingetreten: mit der Ankunft des ersten Jesuiten-Papstes wird sie unverkennbar von einer Einzelperson regiert statt durch die Autorität der Schrift allein, oder auch die Vorschriften ihrer Tradition plus der Schrift."

Natürlich lässt sich Pater Rosica als Enthusiast einstufen. Aber muss man den Papst tatsächlich als nur als Hüter der Lehre verstehen, oder beinhaltet seine Vollmacht nicht auch das Brechen mit der Tradition?

Das Erste und Zweite Vatikanische Konzil legten ausdrücklich fest, dass der Papst Hüter der überlieferten Lehre ist und gerade nicht Orakel einer neuen Doktrin.

Die Macht eines Papstes endete bisher dort, wo das Vorbild Christi, die Praxis der Apostel und die Lehre der Kirche ein einheitliches Bild ergeben. 

Weil sich päpstliche "Unfehlbarkeit" auch auf die definitiven Lehramtlichen Aussagen der Vorgänger im Amt bezieht, hindert dies einen regierenden Papst daran seine persönlichen Vorstellungen über den Konsens seiner Vorgänger hinweg durchzusetzen.

Um dieses Hindernis für den Reformkurs aus dem Weg zu räumen sind verschiedene Langzeitstrategien denkbar.

Von den getrennten Geschwisterkirchen abgeschaut: Synodalität

Die Bedeutung des Papstamtes zu mindern kann dabei kollegial und bescheiden wirken, hat aber auch den reformfreundlichen Effekt die Amtshandlungen der Vorgänger  in ihrer Bedeutung zu relativieren.

Aus der Kirchengeschichte lässt sich jedoch lernen, dass Entwicklungen dort stattfinden wo es einheitliche Sicht und klare Mehrheit gibt. Mit Hintertür-Taktiken lässt sich das schwer erreichen. Die Familiensynode wurde diesbezüglich zum Fiasko. Kritiker sahen in ihr einen stark choreographierten Bischofsreigen, der "Synodalität" suggerieren sollte,  während das gezielte Einschleusen eines Widerspruchs zu Schrift und Tradition bereits vor Beginn abgemachte Sache gewesen sei. Egal ob sie Recht haben oder nicht: Die Prognose, dass die kleine Fußnote in Amoris Laetitia als Trojaner entpuppen würde der das ganze System infiziert, hat sich allerdings bestätigt.

Prinzipiell kann Synodalität als Kirchenmodell durchaus die Flexibilität schaffen die notwendig ist um Widersprüche zur bisherigen Lehrtradition der Kirche einzuschleusen, ohne einen Autoritätsverlust zu riskieren.

Die Verantwortung für Kernfragen des Glaubens würde dabei allerdings von dem alle Zeiten überdauernden Kollektiv der Päpste auf Gruppen von Bischöfen abgegeben, die nur ihr Hier und Jetzt vertreten.  Aus nationalstaatlich organisierten Bischofssynoden können sich so unterschiedliche, stark von politischen Umständen und gesellschaftlicher Statusangst geprägte Splitterkirchen entstehen, für die der Papst nicht mehr Garant der Einheit ist, sondern nur noch Symbolfigur.

Hintertüren und Synodenparanoia

Kritiker der Familiensynode sahen in ihr einen stark choreographierten Bischofsreigen, der "Synodalität" suggerieren sollte, während das gezielte Einschleusen eines Widerspruchs zu Schrift und Tradition bereits vor Beginn abgemachte Sache gewesen sei. Egal ob sie Recht haben oder nicht, die Prognose, dass die kleine Fußnote in "Amoris laetitia" als Trojaner das ganze System betreffen würde hat sich bestätigt.

Das führte zur Paranoia: zu welchem Ende sollte die Jugendsynode orchestriert werden?  Um das Vertrauen in die Synodalität wiederherzustellen, durfte diesmal gerade nicht der Eindruck entstehen, dass Jugendliche instrumentalisiert werden und Reformen mit dem "Geruch nach Schafen" parfümiert werden, obwohl sie aus einem ganz anderen Stall stammen.  Es war also besonders wichtig, diesmal geschickter vorzugehen. Dass auch brillante Denker und tiefgläubige Hirten wie Bischof Anthony Fisher und Kardinal Sarah zu Wort kamen, konnte die Paranoia bei den Kritikern des Reformkurses allerdings nur zum Teil eindämmen.

Viele warteten gespannt auf eine Inklusion des Akronyms LGBT, das trotz mehrheitlicher Ablehnung immer wieder in Entwürfen auftauchte. Mit dem Escheinen des Entwurfs des Abschlussberichtes scheint es nun, dass das ein falscher Alarm war.

Ohne Drama und unter Einbeziehung einiger Kritiker des Reformkurses die allerdings zahlenmäßig kaum ins Gewicht fielen, war diesmal wohl eine Rehabilitation des Synodenprozesses selbst der wichtigste Beitrag zum Reformprogramm des Pontifikates. Tatsächlich enthielt der Entwurf für den Abschlussreport Passagen über die Synodalität, obwohl dieses Thema in der Jugendsynode kaum zur Sprache gekommen war.  Der Kolumnist Ross Douthat von der "New York Times" twitterte ironisch: "Synodalität. Die Jugend will Anglikanismus".

Zersplitterung und die Frage ob es so kommen muss

Die Realität einer anglikanischen Zersplitterung in essentiell unterschiedliche Teilkirchen bahnt sich aufgrund des synodalen Selbstbewusstseins einzelner Bischofskonferenzen und Bischöfe  auch in der katholischen Kirche längst an. Die Deutsche Bischofskonferenz zum Beispiel scheint sich darauf vorzubereiten, dass gleichgeschlechtliche Partnerschaften und Menschen, die lieber ohne sakramentale Ehe zusammenleben, ihre Partnerschaften mit Segnungsfeiern auch in katholischen Kirchen besiegeln können – während es in einige Diözesen in Kanada bereits möglich war, den Suizid auf Verlangen mit einer Kommunionfeier zu verbinden.

Wen das schmerzt, der kann wie Erzbischof Viganò dankbar die Mahnung Kardinal Ouellets entgegennehmen, und zum Heiligen Erzengel Michael beten, der mit dem Namen "Wer ist wie Gott" das Widerspruchsprinzip des Glaubens personifiziert und all das bekämpft, was Gott den Rang abspricht. Über die Jahrhunderte hinweg ruft ihn die betende Kirche um Hilfe, als "Bollwerk des Glaubens" und  "Herold des ewigen Urteilspruches", der "uns lehrt für den Himmel Schätze zu sammeln und die ewigen Güter den zeitlichen vorzuziehen".

Zuerst erschienen im VATICAN-Magazin, Ausgabe 11 / 2018. Veröffentlicht bei CNA Deutsch mit freundlicher Genehmigung. 

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