Seit März 2019 mehrten sich die Stimmen vieler treuer Katholiken, irritiert und verunsichert durch die nervös anmutenden, enthusiastischen Botschaften über "synodale Wege" in Deutschland. Der eine oder andere mag an die "Deutsche Messe" von Franz Schubert gedacht haben.

Im Eröffnungslied heißt es: "Wohin soll ich mich wenden?" – vor allem dann, wenn sogar Frauen und Männer der Kirche abgründige Pfade in Aussicht nehmen, die zwar von einer prächtigen Zeitgeistlichkeit illuminiert erscheinen, aber doch nur eine Art kirchlicher Postmodernismus sind. Das Zeitalter der übersättigten Behaglichkeit, der selbstgefälligen Dekadenz, der naturrechtswidrigen Lustbarkeiten und aller Spielarten des Hedonismus versteht man vielleicht am besten, wonnetrunken taumelnd, im Stadium dionysischer Ekstase und bacchantischer Weinseligkeit. Über die "DNA von Babylon" mag aber andernorts nachgedacht werden.

Wer sich also neue Wege vergegenwärtigt, mag auch – lebenswirklich-lebensweltlich orientiert – die Verse der ersten Strophe von "Wohin soll ich mich wenden?" aus der sogenannten "Schubertmesse" bedenken:

"Wohin soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken? Wem künd' ich mein Entzücken, wenn freudig pocht mein Herz? Zu dir, zu dir, o Vater, komm ich in Freud' und Leiden, du sendest ja die Freuden, du heilest jeden Schmerz."

Liturgische Puristen jedoch bleiben skeptisch, wenn das romantische Ich so präsent wird und in aller Freiheit, melancholisch, bedrückt und bekümmert, von inwendig schmerzhaft erfahrener Not, aber auch von der Freude am Glauben sich mitteilt. Gewiss, so mögen wir denken, mein "Ich", ob es seufzt, jammert, sich freut oder dankt, ist nicht so wichtig, wenngleich diese Erfahrung, nüchterner formuliert, doch von vielen Gläubigen geteilt wird.

Oder verhält es sich anders? Verstehen wir heute eigentlich noch Franz Schubert? Der hochsensible Komponist gestattete sich rebellische Freiheiten – in den lateinischen Messen etwa. Beim "Credo" verzichtete er stets auf – "confiteor in unam sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam". In Schuberts letztem Lebensjahr erfolgte die Komposition dieser Gesänge. Johann Philip Neumann gab die Komposition zu den "Gesängen zur Feier des heiligen Opfers der Messe" 1826 in Auftrag. Diese Sammlung geistlicher Lieder ist als "Deutsche Messe" in F-Dur bekannt, war aber ursprünglich nicht als deutsche Fassung des Ordinariums gedacht. Eine Revolution der geistlichen Musik war also nicht beabsichtigt gewesen. Schuberts Lieder wurden zwar kirchlich zugelassen, nicht aber für den kirchlichen Gebrauch bestimmt. Das änderte sich im Lauf der Zeit. Zum 100. Todestag von Schubert wurden diese Gesänge bereits als "Deutsche Messe" seitens der Kirche bezeichnet. Gewiss, Schwermut spiegelt sich zwar in Schuberts Musik, an den kitschigen Popularisierungen ist er schuldlos – die nötigen, hilfreichen Informationen sind leicht zugänglich. Vielleicht sollten wir, um das Lied angemessen zu verstehen, "Wohin soll ich mich wenden?" einfach leise und dezent singen? Vor dem Horizont unserer Erfahrungen gedacht: Verlangt hier nicht ein verzweifeltes, weltlich heimatloses Subjekt, ein ratloses, vereinsamtes Ich mit Neumanns Worten nach der "tätigen Teilhabe", der "participatio actuosa"? Ruft, ja schreit ein frommer Mensch auf diese Weise sehnsüchtig nach Gott, um sich Christus zu übereignen? Zugegeben, das sehnsüchtige Ich ist sehr präsent, auch in der zweiten Strophe. Der Text verfügt auch über eine unverkennbar sentimentale Dimension:

"Ach, wenn ich dich nicht hätte, was wär' mir Erd' und Himmel? Ein Bannort jede Stätte, ich selbst in Zufalls Hand. Du bist's, der meinen Wegen ein sich'res Ziel verleihet, und Erd' und Himmel weihet zu süßem Heimatland."

Die Musik erinnert zudem an Gottes gute Schöpfung, die aber nicht freigegeben ist zu beliebiger Gestaltung, sondern ein temporäres "Heimatland" – eine gastliche Stätte auf Erden – nur sein kann, wenn die Gläubigen der Lehre Christi treu sind, die in der bleibend gültigen Ordnung der Kirche aller Zeiten und Orte gegenwärtig ist, und nicht, wie das Sprichwort sagt, in aller Freiheit ihr eigenes Glück schmieden, sich selbst gestalten oder verwirklichen wollen. Wir würden das heute anders formulieren – aber wer wollte bestreiten, dass wir ohne Gott dem Zufall preisgegeben wären und dass ohne den Herrn jeder Ort auf dieser Welt ein "Bannort" wäre? Ja, wir sind Sünder, wir sind unwürdige Diener, wir sind Bettler vor Gott. Davon erzählt auch die "Schubertmesse". Im Anhang dieser findet sich "Das Gebet des Herrn". Daraus sei noch kurz zitiert:

"Anbetend deine Macht und Größe versinkt im Nichts mein bebend Ich. Mit welchem Namen, deiner würdig, du Unnennbarer, preis' ich dich? Wohl mir! Ich darf dich Vater nennen, nach deines Sohnes Unterricht; so sprech' ich denn zu dir, mein Schöpfer, mit kindlich froher Zuversicht. …Will die Versuchung uns verlocken, gib Kraft, o Herr, zum Widerstand! So vor der Seele höchstem Übel, vor Sünde schütz' uns Deine Hand! Send' uns Geduld und Trost in Leiden! Und kann's zu unser'm Heil gescheh'n, so lass durch Deine Vatergüte den bittern Kelch vorübergeh'n!"

Wenn ich Neumanns Worte lese, so weiß ich ganz sicher: Das ist nicht meine Sprache, nicht die Sprache, die ich wählen würde, wenn ich Worte dafür suchte, um auszudrücken, wie ich geistlich lebe, denke und auch empfinde. Dennoch teile ich die Erfahrung, gerade in diesen Tagen, von der Johann Philip Neumann spricht, wenn er fragt: "Wohin soll ich mich wenden …?"

Was immer auf den "synodalen Wegen" besprochen, beschlossen und verfügt werden mag, ich halte es mit Papst Benedikt XVI., der am letzten Ostersonntag seines Pontifikats auch auf diese Frage geantwortet hat:

"Wenn Jesus auferstanden ist, dann – und nur dann – ist etwas wirklich Neues geschehen, das die Lage des Menschen und der Welt verändert. Dann ist er – Jesus – jemand, dem wir unumschränkt vertrauen können, nicht nur seiner Botschaft, sondern ihm selbst, denn der Auferstandene gehört nicht der Vergangenheit an, sondern er ist gegenwärtig, heute, und lebt. Christus ist Hoffnung und Ermutigung besonders für die christlichen Gemeinschaften, die aufgrund des Glaubens am meisten unter Diskriminierung und Verfolgung zu leiden haben."

Vielleicht steht einigen von uns noch die Erfahrung bevor, mitten in der katholischen Kirche wegen unseres Glaubens und unserer Treue zu Christus ausgelacht, verhöhnt und sogar verfolgt zu werden? Die Antwort auf die Frage "Wohin soll ich mich wenden?" möge für uns alle immer das "Credo" bleiben und durch das Zeugnis unseres Lebens sichtbar sein.

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Dr. Thorsten Paprotny lehrte von 1998 bis 2010 am Philosophischen Seminar und von 2010 bis 2017 am Institut für Theologie und Religionswissenschaft an der Leibniz Universität Hannover. Er publizierte zahlreiche Bücher im Verlag Herder. Gegenwärtig arbeitet er an einer Studie zum Verhältnis von Systematischer Theologie und Exegese im Werk von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. Er publiziert regelmäßig in den "Mitteilungen des Instituts Papst Benedikt XVI.".  

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Hinweis: Meinungsbeiträge spiegeln die Ansichten der Autoren wider, nicht unbedingt die der Redaktion von CNA Deutsch. Zuerst veröffentlicht am 23. März 2019.