7. Januar 2017
Die Kirchen in Deutschland haben so viel Geld und Personal wie nie zuvor, doch die Menschen laufen ihnen davon. Ist der moderne Mensch religiös taub? Oder sprechen Pfarrer und Bischöfe die falsche Sprache?
Als Dietrich Bonhoeffer im Dezember 1944 im berüchtigten Kellergefängnis des Reichssicherheitshauptamtes in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße saß, von Landsleuten und Glaubensbrüdern verraten und verkauft, den sicheren Tod vor Augen, da machte er sich Gedanken über den tieferen Sinn von Advent und Weihnachten. Das menschliche Leben an sich, so Bonhoeffer, gleiche seinem Dasein in der Gefängniszelle: Befreiung kann nur von außen kommen, Advent ist das Warten auf die Ankunft des Erlösers, Weihnachten ist der Moment, in dem der Schlüssel ins Schloss gesteckt wird und sich die Tür zu einem anderen Dasein öffnet – Gott kommt in die Welt und befreit den Menschen. Einfache, ergreifende Gedanken, die den Kern des Weihnachtsfestes und der ganzen christlichen Botschaft illustrieren.
Von allen anderen Religionen unterscheidet sich das Christentum dadurch, dass Gott keine erdachte Idee und kein abstraktes Wesen bleibt, sondern als Mensch in die Welt gekommen ist, um dem Menschen nahe zu sein. Aber wird diese Botschaft noch verstanden? Eigentlich nicht. Immer mehr Menschen denken beim Thema Religion nicht an Befreiung, sondern an Bevormundung. Sie halten Glaube für Spinnerei oder Selbsttäuschung und die christlichen Kirchen für Apparate, die man etwa mit Parteien vergleichen kann, mit Wohlfahrtsverbänden oder internationalen Organisationen. Leute wie Bonhoeffer, Martin Luther King oder Mutter Teresa sind zwar immer noch Vorbild, aber wenn über sie gesprochen wird, wird oft unterschlagen, dass sie die Kraft für ihr Heldentum aus einem tiefen Glauben und einem leidenschaftlichen Gebetsleben schöpften. Unbeugsamkeit, Nächstenliebe und der Kampf für Menschenrechte passen immer noch gut in die Zeit; die Beziehung zu Gott wird dagegen zur Fußnote. Oder schlimmer noch: Der Hochmut der Heutigen schreibt die Gottesbeziehung der Unaufgeklärtheit früherer Generationen zu. Glaube war gestern.
Gehört der Islam zu Deutschland? Die Wirklichkeit ist über diese Frage und alle hitzigen Debatten, die sich daran knüpften, längst hinweggegangen. Richtig muss die Frage heute lauten: Wird das Christentum in Zukunft noch zu Deutschland gehören? Die Antwort ist viel komplizierter als es auf den ersten Blick scheint in einem Land mit 45000 Kirchen, über einer Million kirchlichen Mitarbeitern und 46 Millionen eingetragenen Christen. Es kommt darauf an, woran man das misst: Christsein. Ist die Mitgliedschaft ausschlaggebend oder die gezahlte Kirchensteuer? Die regelmäßige Teilnahme am Gottesdienst oder das Engagement in der Gemeinde? Zählt am Ende vielleicht das, was man tatsächlich glaubt und bejahen kann? Alle Indikatoren weisen seit Jahren nach unten – nur die Einnahmen, kurios genug, steigen vorläufig weiter: Im Jahr 2015 nahmen die beiden großen Kirchen 11,5 Mrd. Euro ein, mehr als je zuvor. Die Konjunkturentwicklung kompensiert einstweilen die schwindende Mitgliederzahl. So kann die Fassade noch eine Weile aufrechterhalten werden.
Politiker und Kirchenvertreter reden sich die Wirklichkeit immer wieder schön und berufen sich, wenn’s eng wird, am liebsten auf "christliche Werte", die angeblich, wenn schon nicht direkt, dann doch irgendwie indirekt, überall in Deutschland wirken und fortleben. Aber stimmt das? Ist das Schlagwort von den "christlichen Werten" nicht längst der kleinste gemeinsame Nenner geworden, auf den man sich gerade deshalb einigen kann, weil damit so viel Gutes angedeutet und so wenig Konkretes gesagt wird?
Die Befunde der Säkularisierung, oder besser: der tiefgreifenden Entfremdung zwischen den christlichen Kirchen und den Menschen sind durchaus messbar. Umfragen zeigen, dass ein radikaler Atheismus zwar vorläufig ein Minderheitenphänomen ist, die meisten Deutschen aber die zentralen Inhalte des Christentums nicht mehr akzeptieren. Zwei Drittel glauben nicht an ein ewiges Leben. Selbst von denen, die formal noch in der Kirche sind, glaubt nur eine Minderheit an die Auferstehung der Toten – aber steht und fällt nicht gerade damit der christliche Glaube? Jeder sechste Konfirmand in Deutschland glaubt gar nicht an Gott. Von den allermeisten Christen abgelehnt wird die Vorstellung von einem "Jüngsten Gericht", auch wenn gerade der Glaube an eine nachgeordnete Gerechtigkeit den Menschen über Jahrtausende Trost und Hoffnung gespendet hat. Heute dagegen wird dergleichen als Drohung und Einschüchterungsversuch empfunden. Religion muss schon, wenn überhaupt, ein vorbehaltloses Heilsversprechen beinhalten. Kein Wunder, dass Jesus zu Weihnachten am populärsten ist, solange er als Baby in der Krippe liegt. Denn da lächelt er stumm. Macht er erst einmal den Mund auf, fordert Umkehr, Selbstaufgabe und bedingungslose Liebe, ist es mit seiner Beliebtheit schnell vorbei.
Wie reagieren die Kirchen darauf, dass sich der Glaube förmlich in Luft auflöst? Der finanzielle Reichtum und die spirituelle Armut führen immer häufiger zu einem blindwütigen Aktionismus, der auf gesellschaftspolitischen Nebenkriegsschauplätzen den Boden gutmachen will, der auf dem zentralen Schlachtfeld des Glaubens verloren gegangen ist: Man arbeitet sich also am "integrierten Klimaschutzkonzept der Evangelischen Kirche" ab und macht sich, weil man katholischerseits nicht nachstehen will, auf zu einem "Pilgerweg für Klimagerechtigkeit". Man fordert unentwegt "gesellschaftliche Teilhabe" und "faire Löhne". Im Auftrag der EKD haben sich "geschlechterbewusste Exeget_innen" die Bibeltexte kritisch angeschaut und die Frage aufgeworfen, ob die zwölf Jünger wirklich Männer waren. Und der Bund der Deutschen Katholischen Jugend hat die christliche Botschaft neu formuliert: "Jede*r wird von Gott so angenommen, wie er*sie ist." Im Vatikan hat eine Studienkommission zum Diakonat der Frau ihre Arbeit aufgenommen. Eine andere Kommission ist fertig und hat eine neue Bibelübersetzung unter Dach und Fach gebracht. So ist aus Brüderlichkeit Geschwisterlichkeit geworden, Paulus wird die Anrede "Brüder und Schwestern" in den Mund gelegt, was er zwar so nicht gesagt hat, aber bestimmt hätte meinen wollen. Maria wird zeitgemäß "schwanger" statt ein Kind zu "empfangen", und aus den Wundern Jesu werden "Machttaten", damit nicht jemand auf die Idee kommt, sich echte Wunder vorzustellen - denn weiß der Himmel, ob der Lahme, bevor er geheilt wurde, wirklich lahm war. So wollen die Kirchen in Deutschland den Anschluss an die Moderne finden. Nicht all diese Intentionen sind grundfalsch. Aber glaubt jemand ernsthaft, dass man so die Menschen in ihren Fragen und Nöten erreicht, dass hier der Funke des Glaubens überspringen könnte?
So sehr sich auch beide Kirchen darin überbieten, dem Zeitgeist nachzulaufen, die Abwärtsbewegung haben sie nicht stoppen können. Allein seit der Jahrtausendwende haben die großen Kirchen in Deutschland rund acht Millionen Mitglieder verloren. Die Menschen laufen in Scharen davon. "Ich habe den Eindruck, der Säkularisierungsschub ist so groß, dass das Ende der Talsohle noch nicht erreicht ist", sagt der Passauer Bischof Stefan Oster. Vor allem in der jüngeren Generation beobachtet er eine Entfremdung, die früher oder später dazu führt, dass auch die letzte, nämlich nur noch formale Bindung an die Kirche gekappt wird. Oster spricht von einem Exodus und meint damit nicht nur die Kirchenaustritte, sondern auch die große Zahl derjenigen, die sich innerlich verabschieden, auch wenn sie aus Tradition, Gleichgültigkeit oder letzter Verunsicherung noch Kirchenmitglieder bleiben.
Auch Papst Franziskus hat den deutschen Bischöfen sein Entsetzen über die "Erosion des Glaubens in Deutschland" mitgeteilt und sie aufgefordert, "die lähmende Resignation zu überwinden". Franziskus sieht in Deutschland eine Tendenz zum bürokratischen Überbau ohne Glaubensfundament: "Es werden immer neue Strukturen geschaffen, für die eigentlich die Gläubigen fehlen." Deutsche Bischöfe, so Franziskus, setzten zu großes Vertrauen "auf die Verwaltung, auf den perfekten Apparat". Auch Benedikt XVI. meldete sich in diesem Jahr aus seiner Klause zu Wort und warnte sein Heimatland vor einem "Überhang an ungeistlicher Bürokratie".
Der Verlust der christlichen Identität führt immer wieder zu Schreckmomenten. Dann hält es auch die Kanzlerin, die sonst nicht zum predigthaften Ton neigt, für nötig, ihren Landsleuten ins Gewissen zu reden: "Wenn Sie mal Aufsätze in Deutschland schreiben lassen, was Pfingsten bedeutet, dann würde ich mal sagen, ist es mit der Kenntnis übers christliche Abendland nicht so weit her. Und sich anschließend zu beklagen, dass sich Muslime im Koran besser auskennen, finde ich irgendwie komisch." Wohl wahr! Die Kanzlerin fordert mehr christliches Selbstbewusstsein: "Haben wir doch auch den Mut zu sagen, dass wir Christen sind." Doch der Schrecken führt selten zu der Erkenntnis, dass Kultur nicht einfach nur bestaunt werden kann, sondern aktiv gelebt und entschlossen weitergetragen werden muss: Entweder man sorgt dafür, dass das Feuer weiterhin brennt, oder man steht irgendwann vor einem Haufen Asche. Als Angela Merkel zu Beginn des Advent 2016 auf einer Parteiversammlung forderte, als christliche Partei solle man doch auch mal christliche Lieder singen, wurde sie von ihren Parteifreunden ausgelacht. "Ich meine das ernst", sagte die Kanzlerin verlegen.
Wenn es darum geht, als Christ Farbe zu bekennen, dienen die obersten Vertreter der christlichen Kirchen in Deutschland nicht immer als Vorbild. Beim gemeinsamen Besuch in Jerusalem legten der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Marx, und der EKD-Vorsitzende Bedford-Strohm in diesem Herbst ihre Brustkreuze ab – aus "Respekt" vor den moslemischen Gastgebern. Der Grund ist ehrenwert, aber die Botschaft verheerend: Das Kreuz im Dienste der Toleranz verstecken? Wo liegt hier die Grenze zwischen Respekt und Selbstverleugnung? Das kann unmöglich zum christlichen Selbstvertrauen beitragen, das jetzt sogar die Kanzlerin fordert. Nur eine durch und durch verkopfte Kirche bringt solche Fehlentscheidungen hervor.
Natürlich steckt in der Makroperspektive, im Blick auf die führenden Köpfe, auf Zahlen und Trends, immer schon ein Denkfehler. Denn das Christliche ist gerade nicht Massenveranstaltung, sondern eine intime, auf personale Beziehung angelegte Sache. So verkennt der Blick auf das große Ganze, was im Kleinen an geistlicher Kraft wirkt. Hilfe im Alltag macht keine Schlagzeilen; Orte des Gebets sind für die Medienwelt kein Thema. Die Arbeit an Kranken- und Sterbebetten findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Dass die Franziskanerinnen von Maria Stern in Augsburg seit 1937 ihre eucharistische Anbetung bis heute fortsetzen, die damals als stiller Protest gegen Hitler begann, ist eigentlich eine grandiose Geschichte. Dass junge französische Ordensleute mitten im Kölner Innenstadtrummel die verwaiste Kirche Groß-St. Martin wieder zum Kloster gemacht haben, ist ein ermutigender Aufbruch mitten im Niedergang der deutschen Volkskirchen. Dass überall in Deutschland junge Menschen einmal im Monat zum "Night Fever" zusammenkommen, nicht als fromme Eiferer, sondern als ehrliche Suchende, dokumentiert die Leuchtkraft des Christentums viel mehr als ein neue Aktionswoche. Die Entwicklung ist voller Ungleichzeitigkeiten, es gibt nicht die eine Krise und die eine Lösung, sondern Trends und Gegentrends, Abbrüche und Aufbrüche.
Und es gibt, was Karl Rahner die "anonymen Christen" nannte, eine wachsende Zahl von Menschen, die sich von der Kirche verabschiedet haben oder nie dort zuhause waren, und dennoch ein christliches Leben führen, weil sie sich in ihrem Alltag oft selbstlos für andere aufopfern, auch wenn sie sich nicht mehr Christen nennen. Das ist einerseits ermutigend, birgt aber andererseits auch die Gefahr, die Rückbindung an das gemeinsame kulturelle Erbe zu verlieren. Christsein heißt nicht nur, das Gute zu tun, sondern auch, die befreiende Botschaft des Evangeliums weiterzutragen. Das geht nicht in der Anonymität, sondern nur im Bekenntnis.
Ist der moderne Mensch taub geworden für diese Botschaft? Haben die Kirchen keine Chance mehr? Dagegen spricht überall auf der Welt der Erfolg der heranwachsenden Freikirchen und Pfingstbewegungen. Ihr Aufstieg zeigt, dass auch der moderne Mensch immer wieder auf die existentiellen Fragen des Daseins zurückgeworfen wird, auf das Woher und Wohin, auf die eigene Sterblichkeit und – nicht zuletzt – auf die Erfahrung der Liebe. Die traditionellen Kirchen werden die Deutungshoheit über diese Fragen verlieren, wenn sie nicht zu einer neuen religiösen Sprache finden, die die Gotteserfahrung überzeugend in Worte und Bilder fasst.
Entscheidend dürfte sein, ob es den Kirchen gelingt, eine Erfahrung der Transzendenz zu vermitteln oder ob all ihre Bemühungen im Sozialen und Kulturellen, also in Diesseitigkeit, im Jetzt und Hier, verhaftet bleiben. Die Kirche in Deutschland garantiert diese Transzendenzerfahrung immer weniger. Im Gegenteil, oft wird das Sakrale kulturell erlebt, während die Kultur sakral geworden ist. Anders gesagt: Genau das, worum es im Glauben geht, nämlich den Versuch, sich einer transzendenten Realität anzunähern, die Grenzen von Raum und Zeit zu überschreiten – "wie ins Leere hinein, aber doch schon überschreiten" (Rahner) - genau diese Erfahrung wird heute in der Kirche immer seltener und in den Ersatzformen Kunst, Kultur, Liebe, Sport und Selbstverwirklichung immer häufiger gemacht: Wer verliebt ist, ist im siebten Himmel, der Film ist göttlich, das Erlebnis im Stadion überirdisch; der Gottesdienst dagegen ist eine Versammlung guter Absichten.
Erst die Berührung mit der Jenseitigkeit öffnet die Schleusen für ungeahnte Kräfte, die im Menschen schlummern: "Es ist ein großes unsichtbares Reich, in dem man lebt und an dessen Realität man keinen Zweifel hat", notierte Bonhoeffer in der Todeszelle. Er fand so viel Kraft in diesen Gedanken, dass er im Angesicht des Grauens ganz hoffnungsvoll schreiben konnte: "Von guten Mächten wunderbar geborgen..." Die Zeilen aus dem Dezember 1944 wurden zum bedeutendsten geistlichen Lied des 20. Jahrhunderts und haben bis heute nichts von ihrer Strahlkraft eingebüßt.
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Schluss mit der Suche nach katholischen Nachrichten – Hier kommen sie zu Ihnen.
Dies ist die erweiterte Fassung eines Textes, der zuerst in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 25.12.2016 erschien.
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Die Welt soll Jesus sehen! @FlorianKolfhaus über die Kirche als Antlitz Christi in der Welt https://t.co/RgpIwEvPPe pic.twitter.com/TV87U7c7E4
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