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Hugh O’Flaherty: Der Lebensretter vom Friedhof der Deutschen im Vatikan

Hugh O’Flaherty

Im Campo Santo Teutonico neben dem Petersdom organisierte Msgr. Hugh O’Flaherty vom 10. September 1943 bis zum 4. Juni 1944 das Projekt seiner sogenannten „Escape-Line“, mit der er in den knapp zehn Monaten der deutschen Besatzung Roms ganz allein über 6.000 Menschen vor den Mordkommandos der SS und der Gestapo rettete. Darüber redet Paul Badde im Campo Santo für den Sender EWTN mit Msgr. Stefan Heid, dem Chefhistoriker und Leiter der Görres-Gesellschaft in Rom.

Der Film mit dem vollständigen Interview wird in den kommenden Monaten von dem Sender EWTN in Deutschland ausgestrahlt werden. CNA Deutsch veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Vatican-Magazins vorab eine Abschrift.

Professor Heid, können Sie den Campo Santo Teutonico ein wenig vorstellen?

Der Campo als Institution ist ein deutscher Friedhof im Besitz der Erz-Bruderschaft der schmerzhaften Muttergottes, die diesen Ort seit fast 600 Jahren betreut. Doch seit fast 150 Jahren füllt ein Priester-Kolleg den Komplex mit Leben.

Dieses Kolleg hat große Wissenschaftler hervorgebracht. Der größte Sohn des Kollegs war aber kein Deutscher, sondern ein Priester mit dem Namen Hugh O’Flaherty.

Ja, er war bis heute die bedeutendste Persönlichkeit und kein Deutscher, sondern Ire, der 1898 geboren wurde und 1938 hier in das Kolleg kam.

In den 90er Jahren spielt Gregory Peck diesen Mann in dem Film „im Zeichen des Kreuzes“. Da spielt der Campo Santo so gut wie keine Rolle. Sie haben jetzt eine Schrift verfasst, in der sie die Rolle des Campo Santo für O’Flahertys Hilfswerk darstellen.

Ja, denn tatsächlich wurde bisher kaum wahrgenommen, dass er von hier aus unglaublich viele Menschen vor den Nazis retten konnte. Er war am Heiligen Offizium in der Nachbarschaft ein sogenannter Minutant, wo er von dem späteren Kardinal Ottaviani 1938 den Auftrag bekommen hatte, die deutsche politische Szene zu beobachten. Er wohnte also hier und konnte in zwei Minuten zu seiner Arbeitsstelle. Vor 1938 war er im Dienst des Heiligen Stuhls in Ägypten und der Tschechoslowakei und auf Haiti. Darum hat Ottaviani ihm wohl auch gesagt: Geh jetzt mal ins deutsche Kolleg. Das setzt voraus, dass er da schon einigermaßen Deutsch konnte.

Am 8. September 1943 haben die Italiener mitten im Krieg das Bündnis mit Deutschland gekündigt. Unmittelbar danach besetzte die deutsche Wehrmacht Rom. Fünf Wochen später, am 16. Oktober 1943, verschleppte die SS in einer Razzia über 1000 Juden von Rom nach Auschwitz. War dieses Ereignis prägend für O’Flaherty?

Mit Sicherheit. Mit der deutschen Besatzung hatte er begonnen, sein Hilfswerk aufzubauen, von dem lange wahrgenommen wurde, dass es Deserteuren und entflohenen Kriegsgefangenen galt. Doch er war auch sehr aktiv für die Juden, für die er viele Taufzeugnisse fälschte, um sie zu schützen. In der katholischen Kirche ist das Taufzeugnis aber das wichtigste Dokument überhaupt, das über Personen angelegt wird. Und wenn man das stillschweigende Plazet des Papstes dazu hat, diese Zeugnisse zu fälschen, ist das außerordentlich bemerkenswert.

Normale Pilger halten den Vatikan, der knapp 100 Jahre alt ist, für uralt. Was hat die besondere Konstruktion dieses Campo Santo damit zu tun, dass er für O’Flaherty zu einem Hauptquartier des Widerstands wurde?

Es ist in der Tat für viele verwunderlich, dass dieser Zwergen-Staat „Vatikanstadt“ erst 1929 gegründet wurde. Aber dieser Winzling hat dazu geführt, dass wir ein Staatsgebiet des Vatikans im strengen Sinne haben und ein exterritoriales Gebiet, auf dem der Campo Santo Teutonico liegt. Hier gelten vatikanische Gesetze, der Boden gehört zu Italien. Diese Konstruktion hat dazu geführt, dass der Campo über längere Zeit frei zugänglich war von außen, weil es eben nicht der Staat selbst war. Beide, das exterritoriale Gelände des Campo Santo und der Vatikanstaat trennt und verbindet eine gemeinsame Grenze durch das offene Friedhofstor. Dieses komplexe Rechtssystem hat es O’Flaherty möglich gemacht, von hier aus sein Hilfswerk durchzuführen. Denn vom Friedhof kann man durch das Tor in den Vatikanstaat gehen. Damals hatten wir aber auch noch eine Hintertür, durch die O’Flaherty von seiner Dienststelle im Heiligen Offizium unbeobachtet von Polizei oder Schweizergarde in den Campo Santo gelangen konnte. Man kann also heute noch genau sagen, welche Wege er gehen musste, um auf sein Zimmer zu gelangen. Hier war die Schaltzentrale. Hier hatte er auch einzelne Personen tageweise auf seinem Zimmer versteckt. Hier wurde er sogar von den Schwestern der christlichen Liebe, den Mallinckrodt Schwestern, mit Essen versorgt, wenn es nötig war. Wenn er heimliche Gäste hatte, wussten die Schwestern das. Aufgrund dieser Exterritorialität konnte er das hier relativ leicht organisieren.

War der Campo Santo ein Glücksfall des Widerstandes?

Absolut. Für mich ist O’Flaherty das gute Gewissen des deutschen Kollegs, wo er als Ire und Vertreter eines neutralen Landes in einem deutschen Kolleg Verfolgte vor den Deutschen rettete.

War es nicht eher das schlechte Gewissen der Deutschen? Oder wie erklären Sie, dass diese unglaubliche Heldengeschichte so wenig bekannt ist?

Weil man damit nicht hausieren geht. Deshalb haben wir das nie an die große Glocke gehängt. Es ist eher von irischer Seite an uns herangetragen worden. Er ist ja nicht ein deutscher Held. Es ist ein irischer Held. Und das ist ja gerade das, was einen so bewegt, dass es eines irischen Priesters bedurfte, der in einem deutschen Kolleg die Verfolgten vor den Deutschen rettet. Rektor Hermann Maria Stöckle aus München hat damals meines Erachtens das Beste gemacht, was er machen konnte mit den anderen deutschen Kollegiaten. Die wussten über alles Bescheid und haben den Mund gehalten und O’Flaherty machen lassen. Jeder wusste, dass die Nazis draußen über Spitzel bestens informiert waren über das, was hier lief. Doch hier haben ihn alle gedeckt.

(Die Geschichte geht unten weiter)

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Mit heldenhaftem Schweigen?

Ja, in dem Sinne war das ein hilfreiches Verhalten. Die Aktivisten unter ihnen waren die Schwestern. Sie haben O’Flaherty auch am höchsten gelobt – wie einen Heiligen. Die Schwestern kannten ihn und wussten genau, welche Risiken er auf sich nahm. Die waren enorm tapfer. Die haben überall weggeguckt, die wussten, dass da Leute sind, die hier nicht sein dürfen.

Sie haben Ottaviani erwähnt. Wusste denn auch Papst Pius XII. Bescheid?

Natürlich. Die katholische Kirche ist hierarchisch, im Behördengang ist im Vatikan alles hierarchisch. Das heißt, die Spitze wusste selbstverständlich über alles Bescheid.

War er denn ein Instrument Pacellis? Hatte er für ihn gearbeitet?

Davon ist mit Sicherheit auszugehen. Im Vatikan geht es gar nicht anders. Der Behördenleiter des Heiligen Stuhls ist über jeden Vorgang informiert, besonders über die brisanten Entwicklungen. Pacelli war ja Nuntius in Deutschland gewesen. Er interessierte sich extrem für die deutschen Vorgänge. Selbstverständlich wurde ein Mann wie O’Flaherty nicht auf die Deutschen angesetzt, ohne dass Pacelli das wusste.

Wie würden Sie den Mann charakterisieren?

Es war erst einmal völlig angstbefreit. Ich stelle mir auch vor, dass er ein super dickes Fell hatte. Er ging mit Leuten um, die extreme Zyniker waren. Das hat ihm nichts ausgemacht. Der kam mit jedem klar. Der wurde hier von allen geschätzt. Es gibt keine Stimme, die ein kritisches Wort gegen O’Flaherty erhebt. Und das ist in einem Kolleg eine außergewöhnliche Sache. Er wird von allen gelobt und war eine absolute Respektsperson. Der Mann brauchte nicht im Rampenlicht zu stehen. Er war körperlich groß gewachsen, kräftig. Als junger Mann hat er in Irland Hurling gespielt, das ist eine der brutalsten Sportarten, die es überhaupt auf der Welt gibt. Das kannst du nicht mit einem kleinen Jungen spielen. Er war einer, der Dinge einfach erledigte. Er fragte nicht: Wie muss ich das jetzt tun? Er tat es einfach. Als man in dem damaligen Speisesaal in zwei oder drei Schichten essen musste, also für 50 Flüchtlinge, und 20 bis 30 weitere Personen, für die eigentlich gar kein Platz war, haben die Schwestern das Essen beigeschafft. Die hatten aber keine Kartoffeln, kein Gemüse, die hatten nichts, weil es alles nur auf Kärtchen gab. Aber es gab für Flüchtlinge keine Kärtchen, die gab es nur für Registrierte. Als die Schwestern ihm zum Beispiel sagten: „Wir haben hier keine Kartoffeln mehr“, dann hat O’Flaherty die Sachen auf dem Schwarzmarkt besorgt. Das hat er einfach gemacht. Kein Wunder, dass die Nonnen ihm das Essen auch aufs Zimmer gebracht haben. Es war ja auch für ihn gefährlich rauszugehen, ohne von den Schergen des Kommandanten Kappler ergriffen zu werden.

15 Jahre nach diesen Ereignissen hat O’Flaherty Herbert Kappler, den ehemaligen Sturmbannführer der SS aus Rom, persönlich getauft und in die katholische Kirche geführt.

Ja, O’Flaherty ist zwar 1947 aus dem Kolleg ausgezogen, aber blieb in Rom und wohnte dann im heiligen Uffizium nebenan und nahm dabei auch Kontakt zu Kappler auf, der im Krieg sein gefährlichster Gegenspieler gewesen war. In Zusammenarbeit mit den Faschisten hatte Kappler im Gefängnis in der Via Tasso Folterungen vorgenommen und war für schwere Verbrechen verantwortlich wie an dem Massaker in den Ardeatinischen Höhlen. Dafür wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt. Und im Gefängnis in Gaeta bei Neapel hat O’Flaherty ihn aufgesucht und Kontakt mit ihm gehalten. Dort hat Kappler sich von ihm auch taufen lassen.

„Wer einen Menschen rettet, rettet die ganze Welt“, heißt es im Talmud. O‘Flaherty hat über 6.000 Menschenleben gerettet. Dass er ein Held war, ist keine Frage. Aber wie sieht es mit seiner Heiligsprechung aus?

Da gibt es keine Bestrebungen. Das braucht man auch nicht. Er hat das getan, was eigentlich jeder hätte tun müssen.

Der Mann ist mir trotzdem ein Rätsel. Geht es Ihnen nicht auch so?

Rätsel wäre für mich das falsche Wort. Er ist eigentlich klar wie eine Glaskugel. Der Mann hat einfach geholfen.

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