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Das etwas andere Sonnenwunder

Madonne vom Montevergine

Wer ernsthaft nach der Marien-Ikone des heiligen Lukas sucht, kommt an dem Heiligtum von Montevergine in Kampanien nicht vorbei, und deren Ikone aus Konstantinopel, die auch dem Evangelisten zugeschrieben wird, obwohl völlig unersichtlich ist, dass auf dieser Bildtafel ein gekrönter und in Purpur gekleideter Sohn auf dem Schoß der Madonna thront, wenn die Ikone doch zur Lebenszeit Mariens auf dem Zionsberg von Lukas gemalt worden sein soll, als ihr Sohn schon längst nicht mehr auf der Erde weilte.

Sie ist bei weitem nicht die einzige Lukas-Ikone in Süditalien, wo es bis heute eine ganze Reihe heiliger Bilder gibt, die beanspruchen, mit diesem Gnadenbild identisch zu sein. Griechische Mönche sollen sie in verschiedenen Krisen Konstantinopels auf abenteuerliche Weise über das Meer vom Osten in den Westen gebracht haben, wo sie in jeweils verschiedenen Orten auf wunderbare Weise „gestrandet“ und gerettet wurden, etwa in den Städten Bari, Messina, Scanno, Nepi oder Rom.

Gemeinsam ist ihnen vor allem der Name der „Wegweiserin“, als Madonna Hodegetria oder – abgekürzt – Madonna d’Itria. Es ist kaum möglich, all diese Ikonen einzeln aufzusuchen oder auch nur auseinander zu halten. Eigentlich wollte ich diese Ikonen aus Konstantinopel bei meiner Recherche nach dem Ursprung der Advocata deshalb auch vernachlässigen. Es gibt in Apulien eine eigene Ebene, die nach diesen Madonnen benannt ist: Valle d’Itria. In diesem geheimnisvollen „Tal“ lebt auch mein letzter verbliebener älterer Bruder Hans-Peter, der an Sankt Blasius geboren ist. Das heißt am 3. Februar. Und an seinem vorletzten Geburtstag wollten wir ihn dringend noch einmal von Rom aus besuchen kommen. „Dann lass doch auf dem Weg zu ihm auch endlich einmal das Heiligtum von Montevergine aufsuchen,“ meinte meine Frau. Sie hatte Recht, es lag etwa auf der Hälfte des Weges neben der Autostrada.

Von diesem Ort in Kampanien hatte ich erstmals vor mehr als 25 Jahren in einer Recherche zur „Santa Sindone“ erfahren, als ich in Turin hörte, dass die Chorherren der Johannes-Basilika im September 1939 das große Grabtuch Christi tief im Süden für sieben Jahre und neun Monate im Kloster von Montevergine versteckt hatten, nachdem sie erfahren hatten, dass Hitler und Himmler diese geheimnisvolle Herrenreliquie als eine Art Sieg verheißendes Totem in ihre Gewalt bringen wollten. Besser lässt sich wohl kaum ermessen, wie abgelegen und „out of this world“ dieses Bergheiligtum schon damals erschienen sein musste.

Neuere Veröffentlichungen vertreten die Auffassung, dass die „Wegweiserin“, die sich auf dem Montevergine befindet, in die Hand westlicher Kreuzfahrer gekommen sei, als Konstantinopel im Jahr 1204 von Franzosen, Flamen und Venezianern im Vierten Kreuzzug erobert und geplündert wurde. Dabei wurde die Hodegetria-Ikone als Schutzherrin Konstantinopels von den militärisch überlegenen lateinischen Mitchristen in Konstantinopels Pantokrator-Kirche verbracht. Das war der neue Bischofssitz der recht aggressiven römisch-katholischen Venezianer. Als die Stadt aber im Jahr 1261 von den orthodoxen Byzantinern zurückerobert wurde, floh Balduin II. mit der Ikone zum Hafen auf ein abfahrbereites venezianisches Schiff.

Er war der letzte römisch-katholische Kaiser Konstantinopels. Doch jetzt war er bedeutungslos geworden, sein von Kreuzfahrern gegründetes „Lateinisches Reich“ nur noch ein Schatten. Auf seiner Flucht aber nahm der gescheiterte Herrscher die Hodegetria mit. Sie sollte Balduin als Unterpfand für eine Rückkehr an die Macht in günstigeren Zeiten dienen. Zur Transporterleichterung flüchtete er deshalb auch nicht mit der ganzen gewaltigen Bildtafel, die heute noch 4,30 Meter mal 2,10 Meter groß ist und über acht Zentner wiegt, sondern er ließ nur die etwa einen Meter große Partie mit dem Kopf herauslösen mit einem Stab darunter, der dem Ganzen die Form eines Flabellums gab. Das ist eine Art großer Fächer aus Edelmetall, Pergament oder anderem Material, der vor allen in der byzantinischen und orientalischen Liturgie verwandt wurde. Es war gleichsam die Essenz der Hodegetria, die gesichert werden sollte. Doch nach Konstantinopel führte kein Weg zurück. Die Hodegetria blieb im Besitz der Familie, kam nach Balduins Tod zuerst an den Sohn, und nach dessen Tod an die Tochter Catherine, die schließlich Philipp I. heiratete, den Sohn des Königs von Neapel.

1310 brachte das königliche Paar die Ikone in die Benediktinerabtei hinauf in die Berge nach Montevergine. Dort schenkte das Paar sie den Mönchen und beauftragte den Maler Montano aus Arezzo in der Toskana, den Kopf der Madonna wieder ringsum zu der Größe einer vollständigen Körperikone zu vervollständigen. So wurde aus Konstantinopels Hodegetria die Madonna von Montevergine. Sie erhielt ihren Platz im rechten Kirchenschiff, wo auch Catherine bestattet liegt, die letzte lateinische Titularkaiserin von Byzanz. Die Geschichte legte im Grunde fast zwingend nahe, dieses Gnadenbild am Ende meiner Recherchen zu der Ikone des heiligen Lukas noch eigens aufzusuchen.

Von Rom aus fuhren wir einen Tag vorher, am 2. Februar, los und verließen bei Avellino östlich von Neapel die Autostrada. Es war am Fest Mariä Lichtmess, dem offiziellen Ende der Weihnachtszeit, an dem die Kirche an die „Reinigung Marias“ im Tempel von Jerusalem erinnert, 10 Tage nach der Geburt ihres Sohnes. Jahrhundertelang wurden deshalb an diesem Tag in der Christenheit Kerzen gesegnet, zur Erinnerung an Jesus Christus, „das Licht der Welt“. Die verschneiten Serpentinen, die wir hinter dem Ort den Berg hochfuhren, kamen uns wie gefühlte 50 Kilometer vor, hoch zu einer „Höhe der Adler“. Als wir endlich den Klosterkomplex erreichten, parkte davor ein Bus neben dem anderen. Die Menge der Pilger staute sich schon auf dem Vorplatz der Basilika im Schnee, doch auf überraschend andere Weise als in Kevelaer, Lourdes, Fatima oder Guadalupe in Mexiko.

In der bunten Schar zogen sich Männer in schicken Plisseeröcken mit Kajal die Lidstriche nach und zupften ihre hellblauen oder rosa Schals zurecht. Bei den Pilgerinnen fielen uns bizarr aufgespritzte Lippen auf. Im Hauptschiff der Basilika drängten sich die Besucher am Ende der Messe zum Hauptaltar vor, wo Priester den „Leib des Herrn“ in seiner eucharistischen Brotgestalt austeilten. Dennoch war offensichtlich, dass wir hier irgendwie in einen kosmischen Tuntenball hineingeraten waren. Oder in einen frommen Hurenfackeltanz – nur ohne Fackeln. Die Tafel der Madonna war nirgends zu sehen. Die sollten wir rechts in einer Seitenkapelle suchen, sagte uns einer der Pilger, wo wir aber zuerst die kleine Kapelle fanden, in deren Altar die „Santa Sindone“ in Kriegszeiten im Altar versteckt gehalten worden war. Es war ein spektakulär nüchterner Raum. Wir aber wollten heute vor allem die Madonna aus Konstantinopel sehen, staunten weiter über die vielen Besucher des Heiligtums, bis wir die riesengroße Ikone schließlich durch ein Gitter entdeckten, an der Stirnwand einer Kapelle, die ebenfalls voller Menschen war. Ich drängte mich hinein, doch kam kaum zum Schauen, weil hier alles in Bewegung war. Schließlich wurde einem Mann vor mir das Gitter aufgeschlossen, der unmittelbar vor die Ikone durfte, um dort einen beschwörenden Gesang anzustimmen, während sich seine Begleiterin neben ihm zu Boden warf. Ich verstand kaum ein Wort. Es war eine herzzerreißende Klage an die Muttergottes, das war klar. War über das alte „Königreich Neapel“ hier vielleicht auch etwas von der arabisch-spanischen Kultur Andalusiens in das Bergheiligtum des Montevergine hinaufgeschwappt? Es war ein Spektakel, das sich um uns herum vervielfachte. Männer und Frauen, die durch die Menge tanzten. Ein Wetterleuchten von Blitzlichtern.

„Krass!“ sagte eine Freundin, der ich danach im Auto am Telefon davon erzählte, „dass ihr ausgerechnet heute da seid!“ Dann schickte sie mir einen Artikel aus der österreichischen Zeitung „Die Presse“ vom Dezember 2019 auf mein Smartphone. Darin wurde berichtet, wie Kardinal Schönborn um Mitternacht im Wiener Stephansdom von einem Wunder in Montevergine hatte erzählen lassen, das den Ursprung dieses Spektakels festhielt. Demnach seien an einem kalten Wintermorgen im Jahr 1256 in der Gegend von Neapel ein schwules Pärchen beobachtet worden, wie es unter Küssen und händchenhaltend zur Kirche strebte.

Andere Kirchgänger hätten sich darüber empört, die beiden verprügelt, ausgezogen und in der Nähe des Heiligtums in Eiseskälte an einen Baum gefesselt und der Nacht und wilden Tieren überlassen. Bald schon habe sie eine Schicht Eis überzogen. Da aber sei die Madonna erschienen, in Mitleid zu den beiden entbrannt und habe mitten in der Nacht die Sonne scheinen lassen, um das Pärchen zu wärmen und zu retten. Das Eis schmolz, die Fesseln fielen ab. Von diesem „Sonnenwunder“ gerührt nahmen die Dorfbewohner die beiden wieder in ihre Gemeinschaft auf.

Seitdem gilt die Madonna von Montevergine als Patronin der Schwulen, Lesben und Transsexuellen. Jedes Jahr pilgern sie – vor allem aus Neapel, doch mittlerweile aus ganz Italien – am Fest Mariä Lichtmess hinauf zur Jungfrau, wie Maria es selbst getan hatte, als sie ihren Sohn mit Josef von Bethlehem nach Jerusalem zum Tempel getragen hatte, um ihn dort Gott zu weihen. Das wundersame Eingreifen der Gottesmutter an diesem Heiligtum freilich war über vierzig Jahre vor der Ankunft ihrer wegweisenden Ikone in Montevergine geschehen – nicht im letzten Jahrhundert, nicht im Zeitalter der Aufklärung, sondern zur Zeit des heiligen Thomas von Aquin mitten im römisch-katholischen Italien!

War es nicht wirklich krass, dass wir exakt am 2. Februar die vielen Serpentinen durch den Schnee hinauf zu der Basilika gefahren waren? Wir hatten doch nicht die geringste Ahnung davon, dass ihr benediktinischer Adlerhorst gerade an diesem Tag umlagert war von alten und jungen tanzenden Lesben, Schwulen und Transen unter singenden „Femminielli“, wie sich Neapels legendäre Strichjungen selber nennen, die hier mit ihren Tamburin und schrillen Kostümen und Gesängen die Madonna ehren, „die alles schenkt und alles vergibt“. Maria hatte dabei auch uns geholfen. Krass, aber echt.

Dieser Beitrag ist in der Oktober-Ausgabe des Vatican-Magazins veröffentlicht und erscheint hier mit freundlicher Genehmigung. Sie können das Magazin HIER abonnieren. Paul Badde, der Autor des Beitrags, hat kürzlich sein neues Buch „Die Lukasikone“ veröffentlich, das Sie HIER bestellen können.

Hinweis: Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln die Ansichten der jeweiligen Gast-Autoren wider, nicht notwendigerweise jene der Redaktion von CNA Deutsch.

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