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Intschu Tschuna - Die Gute Sonne. Erinnerung an Robert Spaemann

Robert Spaemann in Rom am 10. Dezember 2009

Robert Spaemann und ich kamen von anderen Sternen und mehr noch, wir kamen aus verschiedenen Universen. Der geborene Berliner kam aus bestem Haus, von höchstem Geistesadel und war im alten Athen ebenso zuhause wie in Rom und umfassend gebildet. Gut eine Generation nach ihm war ich in kleinbürgerlichsten Verhältnissen in einem Dorf an der holländischen Grenze geboren und groß geworden und habe leider nie so viel gelernt und studiert, wie ich es besser hätte tun sollen. Daher war mir seine unangestrengte Zuneigung immer ein Rätsel. Doch nun habe ich vor wenigen Tagen erfahren, Robert Spaemann habe Martin Mosebach gestanden, seine wichtigste philosophische Erkenntnis als Kind beim Indianerspielen empfangen zu haben. Da wurde mir sogleich klar, dass er in mir einen Blutsbruder entdeckt haben muss. Denn auch ich bin seit Kindsbeinen ein Indianer. Das sieht mir heute keiner mehr an. Dennoch gibt es in meiner Heimat noch zahlreiche Zeugen, die wissen, dass ich im Dickicht des Unterholzes zuhause bin und mir kein Baumwipfel zu hoch war. Es war der Himmel auf Erden. Seitdem muss ich bekennen: Ich bin Winnetou. Robert Spaemann aber war Intschu Tschuna (gute Sonne), Chef des Meskalero-Stammes und Oberhäuptling aller Apatschen. Oder er war Thatanka Iyotake – Sitting Bull – der Anführer der Sioux, der, wenn es sein musste, sich nicht scheute, ohne Sattel und mit Pfeil und Bogen gegen das Trommelfeuer und die Kavallerie der 7. US-Armee anzureiten. Leider haben wir nie darüber gesprochen, obwohl wir später etliche Interviews und zahllose Gespräche geführt haben.

Jedes Mal, wenn er in Rom war, besuchte er uns und ich habe ihn noch in München mit seiner Frau auf dem Sofa in der Wohnung seines Sohnes erlebt und dass er da auf ihre Fürsorglichkeit durchaus so gereizt reagierte, wie ich es (als nervöse alte Rothaut) auch von mir und meiner Frau kenne. Ganz von dieser Welt. Doch noch Jahre nach ihrem Tod brach er jedes Mal bei uns in Tränen aus, wenn er auf sie zu sprechen kam, und wusste jedes ihrer Gedichte bis zur letzten Zeile auswendig und wunderbar verhalten vorzutragen. Gespräche und Interviews mit ihm funkelten, wobei er mich immer auf unspektakuläre Weise zu überraschen und zu bereichern verstand. Er hatte die Gabe, Worte zu finden, von denen ich oft erstaunt war, warum ich nicht selbst in der Tiefe des Verstandes und der Seele darauf gekommen war. Unvergessen etwa seine Antwort auf meine Frage, wie ich denn glauben könne, dass das verwandelte eucharistische Brot tatsächlich zum Leib Christi geworden sei, wo ich doch sehe, dass es weiter Brot sei, dass es wie Brot schmecke und Brot bleibe. Ganz einfach, sagte er, aus nur einem einzigen Grund: Weil ER, Jesus Christus, es gesagt hat.

Er war ein Tänzer, sagt meine Frau. Und ja, es stimmt, manchmal war es, als tanze er die Philosophie, als tanze er seine Liebe zur Weisheit wie die Partitur eines Balletts, ganz männlich und zart, mit Leichtigkeit und Eleganz. Und dennoch blieb er bei allen Abenteuern des Geistes, in denen er sich vor und hinauf wagte, immer neugierig wie ein Kind. So war es kein Wunder, dass er uns im Frühjahr 2007 bat, ihn doch zum Heiligen Schweißtuch nach Manoppello an die Adria zu fahren, nachdem sein Freund Benedikt XVI. die vergessene alte Kron-Reliquie der Kirche im Herbst zuvor mit seinem Besuch wieder zurück in die Erinnerung und die Geschichte geholt hatte. Mit ihm zu pilgern war wundervoll, und mit ihm zu beten und zu reden. Für ihn war beten wie atmen.

Als wir aber endlich vor dem "Volto Santo" in den Abruzzen angekommen waren, wollte er kein Wort mehr von mir hören. Sondern da ging der kritische Jahrhundertdenker mit seinen achtzig Jahren nur noch auf dem Steinboden in die Knie und schaute nach oben in das Göttliche Gesicht hinein, wortlos. Und er verharrte, bis schließlich der noch ältere Senator Giulio Andreotti, Italiens ehemaliger Ministerpräsident, mit seinen Bodyguards die Seitentreppe hinter ihm hinaufkam, um ebenfalls da oben zu beten. Aber auch danach wollte Robert Spaemann keineswegs vor oder mit dem Heiligen Gesicht von mir fotografiert werden. Da hatte er eine heilige Scheu vor dem Heiligen, wie ich sie davor und danach noch bei keinem Bischof oder Kardinal je erlebt habe.

Die Frage nach der Authentizität und dem Ursprung des heiligen Bildschleiers kam ihm dabei überhaupt nicht in den Sinn, zu der schon damals ein heftiger Meinungsstreit eifersüchtiger Professoren entfacht worden war. Stattdessen erinnerte ihn das zarte Antlitz an Shakespeares "King Lear". "Wie?" fragte ich. "Ich denke hier an die Szene, wo der alte Lear im Elend sitzt," sagte er, "rausgeworfen von seinen Töchtern. Sturm und Regen auf der Straße. So trifft ihn Kent, erkennt ihn nicht und sagt, er wolle in seinen Dienst treten. 'Wieso?', fragt ihn Lear. Könne er denn sein Elend nicht sehen? Alle hätten ihn doch verlassen. Da erwidert Kent: 'Es ist etwas in Eurem Gesicht, Sir, das ich gerne meinen Herrn nenne.' - Das ist es!", fuhr er leidenschaftlich fort. "Es ist ein Beweis, der nicht von der Art mathematischer Beweise ist und eine menschliche Evidenz, die von keiner anderen übertroffen werden kann. Wenn schon das Unerhörte der Menschwerdung Gottes Realität ist, dann kann ich in Bezug auf den Rest nicht mehr wählerisch sein. Das heißt: Die Vernunft lehrt mich nicht nur das Wahrscheinlichkeits-Kalkül. Die Vernunft lehrt mich auch, dass manchmal das ganz Unwahrscheinliche wirklich wird."

Robert Spaemann war auch ein begnadet lakonischer Erzähler. "Wenn Gott existiert, gibt es keine Sicherheit gegen Wunder", wusste er. Da wollte er niemals zu kleinlich denken. "Katholischer Glaube ist Wunderglaube." Das war ihm eine Selbstverständlichkeit. Als seine Frau nach einem Schlaganfall bei Freising im Sterben lag, bat ihn seine Tochter Ruth, er möge doch ihren Pfarrer in Stuttgart anrufen, damit er komme, um ihr die Krankensalbung zu erteilen als "letzte Ölung", wie es früher hieß. Er wehrte ab; der Mann habe doch andere Aufgaben. Das gehe zu weit. Stattdessen wollte er mit seiner Tochter in der nächsten Telefonzelle den Hausarzt anrufen. Kaum aber hatte er da die erste Nummer gewählt, hatte er plötzlich die erstaunte Stimme eben jenes Priesters aus Stuttgart im Hörer, den er nicht hatte bemühen wollen (und der sich danach umgehend auf den Weg machte, um Cordelia Spaemann das Sterbesakrament zu spenden). Es wäre ihrem Ehegatten nicht peinlich, davon in der Zeitung zu lesen. "Wunder müssen erzählt werden!", sagte er trocken. Ich kenne aber auch einige der besten Witze von ihm, die er ebenso trocken zu erzählen wusste, mit bayrischer oder schwäbischer Melodie. Und wenn ich die vielen Porträts von ihm betrachte, die ich im Lauf unserer Bekanntschaft von ihm gemacht habe, in den Kolonnaden von Sankt Peter, vor uraltem römischem Gemäuer in der Altstadt, in Manoppello oder im Hotel Columbus, dann sehe ich fast überall jenes leicht melancholisch-ironische Lächeln um seine Lippen, wie es zu Lebzeiten auch die Lippen Herrn Victor von Bülows umspielte, der im letzten Jahrhundert unter dem Namen "Loriot" in Deutschland Berühmtheit erlangte.

Als ich ihn aber einmal hinter dem Pantheon vor dem Fuß von Berninis Elefanten fotografierte, der den mit Hieroglyphen bedeckten Obelisken der Minerva trägt, lachte er schelmisch und sagte, ja, mit einem Foto vor dieser Inschrift möchte er nur zu gern in Erinnerung behalten werden. Die Inschrift geht so:

"Sapientis Aegypti/ insculptas obelisco figuras/ ab elephanto/ belluarum fortissima/ gestari quisquis hic vides/ documentum intellige/ robustae mentis esse/ solidam sapientiam sustinere".

Auf deutsch: Wer immer hier die Zeichen ägyptischer Weisheit sieht, in den Obelisken eingemeißelt, getragen vom Elefanten, dem stärksten der Tiere, verstehe das Bild: nur ein starker Geist kann echte Weisheit ertragen!)".

Typisch Intschu Tschuna eben. Zu meinem letzten runden Geburtstag rang sich der Häuptling der Apatschen aber für eine Sondernummer dieses Magazins, dessen treuer und kritischer Leser er von der ersten Stunde an war, eine schöne Würdigung auf mich ab, in denen er – ganz Blutsbruder – natürlich auch ein wenig über sich selbst sprach, als er unserem Verleger Bernhard Müller folgende Worte am Telefon diktierte: "Immer galt für ihn der Satz des Aristoteles: Amicus mihi Plato, magis amica veritas (Platon ist mir lieb, noch lieber ist mir die Wahrheit).  ... Wahrheit aber wird nicht in erster Linie durch Argumente, sondern durch Evidenz vermittelt." Es war so etwas wie sein letzter Brief an mich. Er war der unabhängigste Geist und Mensch, den ich je kennenlernen durfte, ohne jede Attitüde und völlig ideologiefrei. Bescheiden, heiter. Keiner konnte ihn je ganz für sich vereinnahmen, keiner wird ihn ersetzen können.

Seine letzte Nachricht habe ich zehn Tage vor seinem Tod erhalten, als sein Sohn Christian ihm ein Smartphone vor den Mund hielt und der alte Indianer, der alle Rauchzeichen am Himmel so präzise zu entziffern und zu lesen verstand, auf dem Weg in die ewigen Jagdgründe über Whatsapp die wohl  erste "Voice-Message" seines Lebens an mich absetzte, langsam, stockend und mit schwerem Atem: "Ja, lieber Paul. Wenn wir gerade den Rosenkranz zusammen beten, gehen unsere Gedanken zu Dir und es wäre schön, noch einmal mit dir den Rosenkranz zu beten. Wahrscheinlich wird uns das hier nicht mehr vergönnt sein. Aber ... immer muss ich denken an Dich, Ade."

Erschienen im Vatican-Magazin 1/2019. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung.

In Hoc Signo Vinces: Deckelbild der Erstausgabe des Romans Winnetou IV von Karl May (Foto: Wikimedia (CC0))

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