11 Februar, 2020 / 7:02 AM
Rom, 11. Februar 2013: Ein ungeheurer Schlag erschütterte am Abend den schwarzen Winterhimmel über dem Papstpalast. Ein gigantischer Blitz fuhr in die Spitze der Peterskuppel. Es regnete aus Kübeln. Rom unter Schock. Als Johannes Paul II. starb, entlud sich die Ewige Stadt hier in spontanem Applaus auf dem dicht gedrängten Petersplatz. Jetzt fällt Trauer über die Menschen. Eine Trauer, die nicht weiß, wohin. Ratlosigkeit. Nichts hatte die Römer vorbereitet, und auch nicht die 1,2 Milliarden Katholiken auf allen Kontinenten. "Wie ein Blitz aus heiterem Himmel" hatte die Nachricht vom Rücktritt Benedikts XVI. sogar die Kardinäle in der barocken Sala del Consistorio im päpstlichen Palast überrascht, sagte Kardinal Sodano in seiner ersten Reaktion auf die Rücktrittserklärung. Weil Benedikt XVI. das persönliche Schreiben gegen Ende der Sitzung mit seiner brüchigen Stimme leise auf Lateinisch verlas, hatten nicht wenige Kardinäle sich wohl auch gefragt, ob sie denn das soeben Gehörte auch richtig verstanden hatten. Der Papst tritt zurück! Unmöglich! Wie soll das gehen? Bei Benedikt XVI. ging vieles, was nicht ging, er war von Anfang an für Überraschungen gut.
Bis dahin war die Sitzung noch einem ehrwürdigen "business as usual" gefolgt. Kardinal Amato hatte den versammelten Kardinälen die kommenden neuen Heiligen der katholischen Kirche vorgestellt: die achthundert Märtyrer aus dem süditalienischen Otranto, die sich im Jahr 1480 von muslimischen Invasoren lieber köpfen ließen, als ihrem christlichen Glauben abzuschwören. Manche schauten schon auf die Uhr. Der eine oder andere wird an die nächsten Gesprächspartner gedacht haben, mit denen er sich zum Mittagessen verabredet hatte. Doch mit seinem letzten dramatischen Schritt durchkreuzte Benedikt XVI. ein letztes Mal die Pläne aller Analysten des Vatikans und seiner zahllosen Gegner und Freunde weltweit. In gewisser Weise tritt er damit ab, wie er angetreten war.
Als er gewählt wurde, versuchten viele der klügsten Köpfe der Welt, dahinterzukommen, mit welchem "Karriereplan" sich der kluge kleine Mann aus Deutschland mit dem schneeweißen Haar und seinen sanften Augen denn in die höchste Position der Weltkirche katapultiert hatte. Die Wahrheit war: Er hatte keinen Karriereplan. Schon damit stand er im Vatikan einzigartig da. Jetzt steht er ebenso einzig da in seiner beispiellosen Bereitschaft der Übergabe der Macht an einen kraftvolleren Nachfolger. Er war ernst, als er die Erklärung abgab, aber nicht schwächer als sonst, auch nicht hinfälliger. Am Samstag hatte er noch 4500 Malteser Ritter in Sankt Peter begrüßt und am Abend in freier Rede vor den Priesterseminaristen Roms eine kleine Zusammenfassung seiner Theologie referiert, auf der höchsten Höhe seiner Geisteskraft. Am Sonntag hatte er wie gewöhnlich mit den Gläubigen auf dem Petersplatz den Angelus an seinem Fenster gebetet und zuvor die Evangelientexte des Sonntags gedeutet, nach denen uns "Misserfolge und Schwierigkeiten nicht zur Entmutigung" führen dürfen. Denn "unsere Aufgabe ist es, die Netze im Glauben auszuwerfen. Den Rest macht der Herr." Den Zeitpunkt sah er jetzt gekommen. Er hat getan, muss er denken, was er zu tun hatte. Seine Impulse sind zahllos. Er hat ein Netz nach dem anderen vom Boot Petri in die Tiefe der Weltmeere ausgehängt. Die Ernte steht ihm nicht mehr zu. Einholen müssen diese Netze nun andere Kräfte.
Er hat immer alles mit Bedacht getan, doch keinen Schritt wie diesen. Als Tag seiner Rücktrittserklärung hat er den 11. Februar gewählt. Das ist der Gedenktag der Muttergottes von Lourdes, die seit weit über hundert Jahren die Sehnsucht unzähliger Kranker und Hinfälliger geworden ist. Unter diese Hinfälligen reiht Benedikt XVI. sich mit seiner Jahrhundertentscheidung nun solidarisch selber ein – im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, doch körperlich zu schwach für die übermenschlich großen Aufgaben eines Papstes. Dass er den Plan reiflich überlegt und erwogen hat, ist offenbar. Fast ist es sogar, so scheint es jetzt im Rückblick, als trete er nach einem sorgfältigen Drehbuch zurück – das er allerdings auch wieder selbst geschrieben hat. "Wenn ein Papst zur klaren Erkenntnis kommt, dass er physisch, psychisch und geistig den Auftrag nicht mehr bewältigen kann", sagte er Peter Seewald im Sommer 2010 in Castel Gandolfo, "dann hat er ein Recht und unter Umständen auch eine Pflicht, zurückzutreten." In dieser Pflicht sah er sich nun.
Psychisch und geistig ist er vollkommen wach und präsent, bestätigt jeder, der ihm noch nahe kommt – doch dass ihn die körperlichen Kräfte zunehmend verließen und verlassen, konnte zunehmend auch jeder erkennen, der ihn nur von Ferne sah. Und er sieht die Verfassung der Kirche, die vor großen Herausforderungen steht, offensichtlich als zu kritisch an, als dass er es für weise hielte, nach seinem achtjährigen Pontifikat der Kirche im Zustand einer sich verschlimmernden Agonie vorzustehen, wie sein Vorgänger Johannes Paul II. es so erschütternd vorgemacht hat. Denn das weiß er auch: Sein Kreuzweg kann womöglich noch etliche Jahre dauern – auch wenn er es jetzt schon ablehnt, täglich lebensverlängernde Medikamente zu sich zu nehmen, etwa gegen sein Herzflimmern.
Die Herausforderungen an den Papst aber wechseln fast täglich ihren Intensitätsmodus. Seinem Bruder Georg in Regensburg kam es deshalb von Anfang an schon so vor, als würde die neue Aufgabe der Nachfolge Petri seinen kleinen klugen Bruder erstmals komplett überfordern. Außer im Gebet hat sich Benedikt XVI. auch nur mit seinem Bruder in der Sache ausgetauscht. Der hat ihm gelauscht, aber weder zu- noch abgeraten, doch schließlich hat ihn die Entscheidung nicht mehr überrascht. Sie war schon "vor etlichen Monaten" gefallen. Vom Tisch sind damit auch all jene Überlegungen, die wissen wollen, dass die schwersten Vertrauensbrüche aus dem innersten Raum der Kirche, die der Papst im Verlauf des Vatileaks-Skandals erschüttert zur Kenntnis nehmen musste, ihn womöglich zur Resignation getrieben haben könnten. Die Verletzungen waren furchtbar. Doch er tritt zurück, weil ihn die Kräfte verlassen, nicht weil er getäuscht und enttäuscht worden ist. Und nicht, um einem Martyrium zu entgehen. Er zieht sich auch nicht schmollend zurück, sondern in einem beispiellos vernünftigen und kühl erwogenen Akt der letzten Souveränität, ohne Rücksicht auf das Urteil anderer – in einem überaus modernen Schritt.
Er resigniert in diesem Sinn auch nicht, sondern geht frei voraus in die inneren Räume des Gebets der Kirche. Es ist unfassbar und unerhört, aber das ist mir egal. Es ist nur traurig. Es steckt wie ein Kloß im Hals. Zusammen haben die Polen mit ihrem Papst die Sowjetunion zum Einsturz gebracht. Die Deutschen haben sich stattdessen zuletzt immer stärker gegen Benedikt XVI. gestellt, Katholiken fast noch mehr als Protestanten. Es ist zum Heulen. Doch Triumphe waren seine Sache nicht. Benedikt hat Deutschland nicht mit sich selbst versöhnen können. Stattdessen ist ihm etwas viel Leiseres gelungen, was die Christenheit in Zukunft noch viel mehr bewegen wird. Benedikt hat in seiner kurzen Zeit die Rede vom "Angesicht Gottes" wieder zurück in die Welt gebracht, seit er am 1. September 2006 als erster Papst nach über vierhundert Jahren sein Knie vor dem wiedergefundenen Schleier der Veronika gebeugt hat, dem alten Kronschatz der Päpste. Seitdem hörte er nicht mehr auf, davon zu reden. In seiner vorletzten Audienz hat er es fünfundzwanzig Mal erwähnt! Mit dem Gesicht Gottes im Gesicht Jesu von Nazareth hat er das Alleinstellungsmerkmal der Christenheit wieder freigestellt. Es ist – wahrhaftig – das Siegel seines Pontifikats geworden.
Der Text ist erschienen in "Benedikt XVI. – Seine Papstjahre aus nächster Nähe" bei Langenmüller – veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung.
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