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Vom Feuer der Liebe und der Glut des Geistes. Kardinal Joachim Meisner im Gespräch

Kardinal Joachim Meisner (Ausschnitt), portraitiert von Gerd Mosbach, im Jahr 2010

Wie viele Interviews ich in meinem Leben schon gemacht habe, weiß ich nicht. Doch das erste Gespräch mit Kardinal Meisner ist mir für immer unvergesslich geblieben.

In den Umbrüchen der Wendezeit hatte Papst Johannes Paul II. gegen das Kölner Domkapitel – und auch gegen den Willen Meisners – durchgesetzt, dass der Erzbischof von Berlin das seit dem Tod Kardinal Höffners verwaiste Erzbistum Köln als Oberhirte übernehmen sollte.

Die Situation war so spannend, dass ich – als Redakteur des FAZ-Magazins mit Sitz in München –  in meiner Redaktion in Frankfurt nachfragte, ob ich nicht in Köln ein Gespräch mit dem neuen Mann aus dem Osten führen durfte, der damals in gewisser Hinsicht so einsam war und so geschmäht wurde, wie meine Kollegen damals sonst nur noch mit Kanzler Helmut Kohl umgingen. Der Antrag wurde bewilligt, ich bereitete das Gespräch vor, flog nach Köln und wunderte mich dort am 13. Juni 1990 vielleicht am meisten über die Heiterkeit und Gelassenheit des neuen Erzbischofs, der später  zunehmend die Physiognomie eines Adlers für mich annahm. Ich flog zurück, tippte das Tonband  ab, brachte den Text auf die notwendige Länge, faxte ihn nach Frankfurt und musste danach am Telefon hören, dass es wegen dieses Textes, den Sie hier unten lesen, auf den Fluren der sonst so friedlichen Frankfurter Redaktion fast zu Handgreiflichkeiten gekommen sei und zu einer Rebellion gegen den Chefredakteur, dem meine mutigen Kollegen damals in der Mehrheit und erfolgreich untersagten, dieses Gespräch zu publizieren, weil Kardinal Meisner ihren wörtlichen Angaben zufolge hier  dazu aufrief, in Deutschland "wieder Scheiterhaufen zu errichten".

Das konnten sie dem guten Ruf des Hauses nicht zumuten. Dieser Schaden müsse unbedingt verhindert werden. Solchem Ungeist dürfe in dem konservativen Flaggschiff der freiheitlichen Bundesrepublik kein Forum geboten werden. Was ich hier erzähle, sind keine alten Fake-News. So war es. Dieses Interview ist nie erschienen, weil es nicht erscheinen durfte. Nun war es gewiss kein Pulitzer-Preis-Stück. Und es darf wohl auch nicht als Testament des verstorbenen Kardinals gelten. Der aufrechte Kirchenfürst hat sich noch oft sehr deutlich und furchtlos artikuliert.  

Es entbehrt aber einer nicht einer gewissen hintersinnigen Ironie, die ihm gefallen hätte, dass der Text heute nun erstmals an seinem Todestag  mit 27 Jahren Verspätung das Licht der Welt erblickt, wo es das FAZ-Magazin, das damals vor ihm geschützt werden sollte, schon 18 Jahre lang nicht mehr gibt.

Paul Bladde: Genau neun Monate nach Ihrem Umzug nach Köln fiel hinter Ihnen in Berlin die Mauer. Mit welchen Erfahrungen aus der DDR können Sie denn heute noch im besonderen der Kirche dienen, wo die DDR gerade dabei ist, sich aus der Geschichte zu verabschieden?

Joachim Kardinal Mleisner: Wir haben in diesen vierzig Jahren erlebt, dass die Kirche der einzige freie Raum ist, der uns in diesem unmenschlichen System als Menschen überleben ließ. Die Kirche war der Raum, wo wir noch ein wenig Himmel über uns schauen durften und sie hat uns bewahrt, in einem Maulwurfdasein unterzugehen, in das der Sozialismus die Menschen hineingestoßen hat. Das ganze Leben war militarisiert. Es war von Produktionsschlachten die Rede, in der Erntezeit von Ernteschlachten. Die Menschen mussten in solch einer Situation innerlich verkümmern. Man konnte nur Mensch bleiben, man konnte eigentlich nur noch feiern, wenn man Christ geblieben war. Dazu zwei konkrete Beispiele: der ehemalige Staatsekretär für Kirchenfragen Gysi, der Vater des jetzigen PDS-Chefs, hat immer gesagt, wie sehr die katholischen Christen den Sozialismus verstanden hätten, sähe man am katholischen Eichsfeld und an der Sorbei, das wären die gepflegtesten und kultiviertesten Gebiete innerhalb der Republik. Da konnte ich  immer sagen: "Herr Gysi, das hängt nicht mit dem Sozialismus zusammen, das hängt mit dem katholischen Glauben zusammen. Die Kultur fließt aus dem Kultus. Weil bei uns der Sonntag heilig gehalten wird, werden am Samstag die Straßen gefegt. Weil man sonntags zum Gottesdienst geht, nehmen die Bewohner samstags das wöchentliche Bad. Und Kleider machen Leute, nicht wahr, man geht also nicht in  den Arbeitskleidern in die Kirche, sondern im Sonntagsgewand. Und weil es ein paar mal im Jahr Prozessionen gibt, werden auch die Hausfassaden in Ordnung gehalten. Jeder möchte da, wenn die Prozession vorbeizieht, nicht den letzten Platz einnehmen in der Wertung des Dorfes. Das heißt, der Kultus, der christliche Gottesdienst, macht auch das menschliche Leben humaner und ist wirklich die Quelle einer menschlichen Kultur.

Sie haben Berlin früher einmal als "ärmste Stadt Europas" bezeichnet. Wie würden Sie die Stadt jetzt bezeichnen?

Ich habe Berlin als die ärmste Stadt Europas bezeichnet, weil sie eine Stadt war, die verwundet war. Ich bin zehnmal im Monat durch die Mauer in den Westteil meines damaligen Bistums gefahren, und ich habe immer die Herz-Jesu-Litanei dabei gebetet. Ich habe immer gesagt, das ist die Herzwunde Jesu, diese Mauer, die blutet auch ständig. Dieser Riss setzte sich nämlich fort durch alle Berliner Familien.  Nun ist die Mauer gefallen. In diesem Zusammenhang möchte ich aber auch folgendes sagen: seit dem Mauerbau hat man in Berlin – auf Anregung von Kardinal Döpfner – dreimal am Tag immer nach dem Angelus-Gebet folgende  dreigliedrige Fürbitte angefügt: "Dass Du der Welt den Frieden, unserem Volke die Einheit und unserer Kirche die Freiheit schenken wollest."  Das heißt, in Berlin ist das Problem der Einheit Deutschlands immer eine offene Frage gewesen. Aber ich muss Ihnen auch sagen, dass ungefähr ein Jahr vor meinem Weggang ein Mitglied des Pastoralrates in Ostberlin an mich den Antrag gestellt hat, die dreigliedrige Fürbitte umzuformulieren, weil sie doch unrealistisch sei. Ich sollte sie so formulieren: Dass Du der Welt den Frieden, unserer Kirche die Einheit und unserem Volke die Freiheit schenken wollest! Es ist auf die ökumenische Dimension geschoben worden. Man hat nicht mehr geglaubt, dass die Einheit des Volkes in diesem Jahrtausend realistisch zu erhoffen wäre. Das war ein "sperare contra spem" (Hoffen gegen alle Hoffnung). Aber die Wunder Gottes sind oft so nahe. Und vielleicht versündigen wir uns permanent durch Unglaube gegenüber den unbegrenzten Möglichkeiten Gottes. – Jetzt ist Berlin die verheißungsvollste Stadt Europas.

Was hat die Wende im Osten vor allem angetrieben?

Die eigentliche Wurzel für die osteuropäische Wende war der Hunger und der Durst der Menschen nach Gerechtigkeit: nach dem, was die Bergpredigt beschreibt. Wer diesen Hunger lebendig gehalten hat, muss ich nicht eigens sagen.  Seitdem man im Osten nämlich ernst genommen hat, dass Religion Opium für das Volk sei, seit dieser Zeit griff das Volk zum wirklichen Opium, zum Alkohol, zur Droge.  Der Marxismus ist Opium fürs Volk gewesen und hat das Volk und die Völker ruiniert. Dass dort aber nun doch ein Kern von Menschen geblieben ist, die Hoffnungsträger für alle geblieben sind, das speist sich aus anderen Dimensionen als denen, von denen die Zeitungen schreiben.  

Ihren ersten Bischof verdanken die Kölner Kaiser Konstantin. Später hat Ihr Vorgänger Bruno die Reichskrone entworfen, nach deren Symbolik die messianische Stadt auf dem Haupt des Kaisers ruhte. Nun ist das konstantinische Zeitalter endgültig zu Ende. Wo sehen Sie heute den wahren Ort der Kirche?

Der wahre Ort der Kirche ist immer der Lebensraum der Menschen. Die Kirche wurde mit dem prophetischen Auftrag zu den Menschen gesandt, ihnen zu sagen: Du bist nicht das Maß für dich selbst, Mensch! Das ist zu klein! Über der Zeit steht die Dimension der Ewigkeit, über der Welt der Himmel. Dein Leben wird in dieser Welt nur stimmig, wenn du deine Zeit vor dem Hintergrund der Ewigkeit siehst und die Erde unter der Dimension des Himmels betrachtest. Das ist die Aufgabe der Kirche heute. Es ist die einzige Garantie, dass der Mensch Mensch bleibt.

Aber es heißt doch: Ihr seid das Salz der Erde. Und nicht, das man der Erde predigt, wie sie salzig werden soll. Was ist die wichtigste Aufgabe der Kirche?

Das will ich Ihnen  ehrlich sagen: Die erste Aufgabe der Kirche ist die Verehrung Gottes. Die erste Aufgabe der Kirche ist die Anbetung, die Danksagung und der Lobpreis. Wenn die Kirche das vergisst, wird das Salz schal.  Nicht ich bin als Mensch die Lösung der Probleme der Mitmenschen, sondern das ist Gott. Also ich sage es noch einmal, wir sind keine fromme humanistische Union, sondern die Kirche hat die Aufgabe, Gott zu loben, Gott anzubeten, Gott zu verherrlichen – und in dem Maß, in dem sie das tut, hilft sie den Menschen.

Viele Christen kennen heute oft kaum noch den Unterschied in den Lehren ihrer Konfessionen, für die in früheren Jahrhunderten teilweise furchtbare Kriege geführt wurden. Wodurch unterscheidet sich denn heute die Kirche noch von anderen Religionen und Heilslehren?

(Die Geschichte geht unten weiter)

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Ich habe als Bischof von Berlin einmal an der Prüfung teilgenommen für Gemeindereferenten. Da wurde gerade nach die Exklusivität des Christentums gefragt. Und da erzählte diese Ordensfrau, die da geprüft wurde, alle Religionen seien gleich: Buddhismus, Islam und Christentum seien kulturbedingte Ausprägungen von Archetypen. Um dieser Schwester zu helfen, dass sie die Prüfung doch noch besteht, sagte ich: Schwester, vergleichen sie doch einmal die Religionsstifter Christus, Buddha, Mohammed. Sie ist aber nicht auf die Exklusivität Christi gekommen. Christus ist der einzige, der von oben gekommen ist. Alle anderen kommen von unten. Jeder große Lehrer muss selbst erst studieren, ehe er doziert. Christus ist der einzige, der gekommen ist und uns das sagt, was er "beim Vater geschaut" hat. Darum ist Christus außer Konkurrenz. Von Christus her ist darum auch die Kirche außer Konkurrenz. – Die Schwester ist durchgefallen.

Die Kirche hat einmal die Welt entgöttert. Jetzt kehren die Götter auf breiter Front zurück. Inwieweit klärt die Kirche die Welt heute noch weiter auf, was wahr und falsch und irrig ist?

Die Kirche klärt durch ihre Verkündigung auf. "Den Himmeln überlassen wir den Engeln und den Spatzen", hat Heinrich Heine gesagt. Wenn wir dem aber zustimmen, fällt die Erde unter die Räuber. Hier liegt auch der Grund für das ökologische Problem. Denn wenn der Mensch nicht mehr nach oben transzendieren kann, transzendiert er nach rechts und links. Dann  wächst er nur noch in die Breite. Das heißt, er stillt seinen Ewigkeitshunger an den Gütern dieser Welt, er verzehrt sie dabei – und wird doch nicht satt. Und dabei geht die Welt vor die Hunde. Damit die Erde aber der Lebensraum für die Menschen bleiben kann, muss der Himmel dazu kommen. Als der Mensch Gott abgeschafft hat, hat er sich selbst an die Stelle Gottes gesetzt, was den Menschen hoffnungslos überfordert. Seitdem sind die Warteräume der Psychiater vollgeworden in dem Maße, in dem unsere Beichtstühle leergeworden sind. Im Beichtstuhl brauchte ich bloß ein Sünder zu sein. Beim Psychotherapeuten muß ich krank sein! Der Zustand des Bußsakramentes in unseren Gemeinden ist für mich wie ein Seismograph dafür, was passiert ist. Dass ich sage: ich bin mein eigener Gott; was gut oder böse ist, das stelle ich selbst fest. Das macht den Menschen in seiner Seele kaputt – weil er ja doch schuldig wird. Und weil er das dauernd weg lügt, geht er zum Doktor, um es sich dort quasi weg operieren zu lassen. Über diewahre Natur des Menschen hat uns keiner so sehr wie Jesus Christus mit seinem Leben und Sterben aufgeklärt. Das  müssen wir  nur richtig verkünden.   

Ihr jüdischer Mitbruder im Bischofsamt, Kardinal Lustiger aus Paris, sagte im letzten Oktober, dass wir nun erst am Anfang des christlichen Zeitalters angekommen seien, weil sich die Menschheit erst jetzt ganz ihrer Gefahren und Möglichkeiten bewusst geworden sei. Teilen Sie diese Sicht, dass die Kirche wie aus Kinderkrankheiten heraus in das 3. Jahrtausend gehen könnte?

Für mich ist die Kirche die Hoffnung, die den Menschen menschlich leben lässt, weil sie ihn göttlich leben lässt. Denn durch die Ursünde ist der Mensch ja immer versucht, sich selbst zu vergötzen – und darum sich selbst zu entfremden. Wir sind aber als Abbilder Gottes erschaffen worden. Deswegen ist nach meinem Dafürhalten die Kirche in allen Jahrhunderten der Silberstreif am Himmel, der mich aufatmen lässt. Wenn ich das folgende Gebet von Kardinal Newman aus dem vergangenen Jahrhundert betrachte, meine ich, es wäre heute geschrieben worden: "Die Zeit ist voller Bedrängnis, die Sache Christi liegt wie im Todeskampf. Doch nie schritt Christus mächtiger durch die Zeit, nie war sein Kommen spürbarer, nie sein Dienst köstlicher." Ich glaube, das gab es zu jeder Zeit. Darum kann ich auch die These von Kardinal Lustiger unterschreiben, nur würde ich sie insofern ergänzen, dass ich sage, seine These galt in allen Jahrhunderten für die jeweilige Christenheit.

Erscheint aber nicht jetzt dieser Glaube fast innerhalb einer Generation plötzlich versickert wie Wasser im Wüstensand? Ihr Vorgänger, Kardinal Höffner, sprach vom "Verdunsten des Glaubens". Was empfinden Sie, wenn sie heute dem christlichen Analphabetismus der jüngsten Generation begegnen?

Das spüre ich natürlich auch auf Schritt und Tritt und spüre darin eine ungeheure Herausforderung für unsere Verkündigung. Daneben mache ich aber auch die Erfahrung, dass da, wo Verkündigung in geistlicher Vollmacht erfolgt, dass sie da den Menschen bewegt. Heute ist nicht der Pastoraltechniker gefragt, sondern wirklich der Verkündiger, der aus der Mitte kommt. Denn sehen Sie, Mose war als Prophet für die Zelte der Israeliten nur deshalb heilserheblich, weil er der Mann war, der aus dem Offenbarungszelt kam, dessen Antlitz etwas von der Herrlichkeit Gottes widerstrahlte. Ich sage es noch einmal, für Gott gibt es keinen Ersatz. Deshalb sehe ich in der gegenwärtigen Situation eine ganz große Chance, weil sie uns zwingt, von der Mitte aus zu verkünden und zu leben und nicht mehr von irgendwelchen anderen billigeren Allgemeinplätzen. Das führt zurück zu dem Grundgesetz seit der Fleischwerdung. Wenn Eltern ihre Glaubenserfahrungen ihren Kindern nicht mitteilen, bleiben die ihren Kindern das Wesentliche schuldig. Wir müssen Gott ins Leben bringen. Es muss in unserem Dasein als Christen ein unerklärbarer Rest vorhanden sein, der nur plausibel ist, wenn es Jesus Christus gibt. Wenn mein Leben innerweltlich aufgeht, ohne Christus, dann lebe ich nicht als Christ. Die orthodoxe Kirche kennt neben heiligen Bischöfen, heiligen Eheleuten, heiligen Frauen, heiligen Männern auch den Begriff des "heiligen Narren".  Hoffentlich werden Menschen mich als Zölibatären deshalb so einstufen, dass sie sagen, entweder ist der verrückt – oder es muss Gott geben. Denn ein Christ wird durch Christus von seinem normalen Standort weggerückt, verrückt auf einen anderen Standort in der Nachfolge Christi.  Das lässt uns vor der Welt immer ein wenig verrückt erscheinen. Wenn wir dieses Ärgernis abmildern, wird es gefährlich.   Es muss in uns einen unerklärbaren Rest geben, der nur plausibel ist, wenn es Jesus Christus gibt.

Sie sprachen von  der "Entsinnlichung des Evangeliums". Bruno Dechamps sprach einmal von der "Formlosigkeit als einer der großen Sünden der heutigen Kirche". Das vielleicht schönste Bild in dem Museum neben Ihrem Dom ist Stefan Lochners "Madonna im Rosenhag", ein Meisterwerk auf der Höhe seiner Zeit. Statt solcher Bilder ist später aber vor allem der Kitsch in die Kirche gekommen. Warum ist die Kirche für unsere Zeit unfähig zur Schönheit geworden?  

Das Wort ist Fleisch geworden. Deshalb konnte das Mittelalter in seiner Transzendentalienlehre noch formulieren: "Ens et unum et verum et bonum et pulchurm convertuntur". Das heißt, das Sein und das Gute und Schöne sind austauschbar. Gott ist nicht nur das höchste Gut. Gott ist nicht nur die Wahrheit. Sondern Gott ist auch die Schönheit. Und in der Tat haben wir mindestens seit dem Barock die Dimension Gottes als des Schönen vergessen. Schon auf dem ersten Blatt der Bibel steht aber, dass die Erde chaotisch war, bevor der schwebende Geist Gottes darüber dieses Chaos zum Kosmos ordnete. Darum ist Kosmetik auch eine zutiefst christliche Beschäftigung und Tugend, und zwar Kosmetik im weitesten Sinn.  Der Kirchenraum prägt das Glaubensbewusstsein einer Gemeinde mehr als all unsere Predigten – weil er ja über die Sinne, das Raumempfinden und das Schauen das Herz des Menschen direkt erreicht. So ich muss ich Ihnen ehrlich sagen, dass ich persönlich physisch in einer hässlichen Kirche leide – ebenso wie ich die Epiphania Domini (die Erscheinung des Herrn) in einer schönen Kirche sehr physisch empfinde, die ja ein wenig das himmlische Jerusalem darstellt. Ich bin in der äußersten Diaspora groß geworden. Wir mussten oft unsere Gottesdienste feiern in Privathäusern, in Gasthäusern oder  in evangelischen Kirchen, die nicht mehr gebraucht wurden und in einem trostlosen Zustand waren, sodass ich immer wieder sage: als ich Kaplan wurde in Heiligenstadt, im Eichsfeld, da bin ich erst richtig katholisch geworden. Ich hatte doch eine normale Segensandacht mit Monstranz nur erlebt im Priesterseminar. Aber ein Priesterseminar ist eine Monokultur. Das ist ja kein normales katholisches Leben. Das heißt, die Kirche muss – um zu Christus zurückzukehren – auch wieder die Leib- und Bildhaftigkeit Christi ernstnehmen. Denn Gott hat ja außerhalb seiner selbst Schöpfung ins Dasein gerufen und zwar körperlich. Gott selbst ist Leib geworden.  Und dann werden wir plötzlich abstrakt in der Verkündigung und in der Kunst, dass uns schwarz vor den Augen wird. Dann kommt Christus, der sagt: Ich bin nicht der Blender, ich bin das Licht der Welt, das erleuchtet. Da gehen mir plötzlich die Augen auf.

Aber hängt der Verfall der Schönheit in der Kirche nicht mit dem Zustand der Kirche zusammen?

Ja. Denn wir sehen im Evangelium bis heute vorwiegend den historischen Charakter: dass uns das Evangelium sagt, was einmal war. Dadurch übersehen wir aber fast immer den prophetischen Charakter des Evangeliums, das uns aufdeckt, was heute ist: wie sich das konkrete Leben Jesu von damals heute vergegenwärtigt, auch in meinem Lebensstil, in meinen Lebensplanungen. Ich habe jetzt bei meinem Fatima-Besuch die Seherin, die noch lebt, die Schwester Lucia in Coimbra, im Karmel besucht, und gefragt: Schwester Lucia, was würden Sie denn von Ihrer Sicht aus der strengen Klausur des Karmels mir als Bischof sagen, was heute in der Kirche fällig wäre. Da sagte sie mir ganz schlicht: wir Ordensleute und ihr Priester müssen wieder ganze greifbar das Leben Jesu nach dem Evangelium für das Volk Gottes sichtbar machen. Das wäre  die Quelle der Freude für die Christen in der Welt von heute. Das sei unser eigentlicher Auftrag.

Aber genügt es, wenn das nur die Kleriker machen?

Sie sagte, wenn diese Kerntruppe anfängt, steckt sie alle wieder an. Denn das Volk Gottes ist natürlich nicht ein Christentum zweiten Ranges. Für mich ist immer normativ das Wort des heiligen  Augustinus: "Was ich für Euch bin, das macht mir Angst, nämlich Bischof. Und was ich mit Euch bin, das macht mir Freude, nämlich Christ." Auch ich  bin ja erst Christ gewesen und auch geblieben, ehe ich Priester und Bischof geworden bin. Das bedingt einander. Sehen Sie mal, Herr Badde Ihr Glaube und der Glaube des Volkes Gottes ist für mich das tragende Wasser des Petrus, das ihn über die Abgründe des Meeres zu Christus getragen hat. Das können wir gar nicht deutlich genug machen: Ihr wisst gar nicht, was Euer Glaube uns bedeutet! – "Du aber stärke Deine Brüder!" das Wort des Herrn an Petrus gilt für jeden Christen in Hinblick auf seinen Bischof wie auf seinen Pastor.

"Wo die Not ist, ist Gott," wusste Bernhard von Clairvaux. Tatsächlich führt Not die Menschen ja wohl mehr zusammen als das Glück. Sie aber haben einmal vom "Überfließenden der zwölf Körbe" in der Kirche gesprochen? Ist die Kirche nun mehr der Ort der Not oder mehr der Ort des Überflusses und des Glanzes?

Sie ist der Ort des Überflusses. Ich habe zwei ganz besondere unter mehreren Lieblingstellen im Neuen Testament. Das eine vom Überfluss hängt mit meinem Bischofswappen zusammen. Als ich 1975 Bischof werden musste, habe ich in meiner Not blind das Neue Testament aufgeschlagen und gesagt: Herr, hilf mir, gib mir jetzt einen Hinweis – ich glaube an sowas! – und da habe ich Johannes 6 aufgeschlagen: die wunderbare Brotvermehrung. Und dort konnte ich mich sofort mit der rührendsten Randfigur der ganzen Szene identifizieren, mit dem kleinen Jungen. Der hatte nur fünf kleine Brote und zwei Fische. Der kluge Andreas sagt: Was ist das für so viele?! Da haben Sie die Bilanz der Not des Mannes. Und der Herr sagt, lass ihn mal zu mir kommen. Und jetzt kommt das, was ich jeden Tag üben muss, was ich gar nicht kann. Und was Sie auch üben müssen. Dass ich jetzt meinen Mangel an den Platz aushändige, wo der quantitative und qualitative Umschlag passiert, nämlich in die Hände des Herrn. Sehen Sie, der kleine Junge gibt alles weg und plötzlich ist er ein Hungerleider wie die anderen auch. Aber in der Hand des Meisters wird der Mangel zur Fülle, sodass die alle satt werden – und die übrig gebliebenen Brocken füllen zwölf Körbe. Diese zwölf Körbe sind der nie aufzubrauchende Überfluss Gottes in seiner Kirche. Darum steht der volle Brotkorb in meinem Bischofswappen. Das heißt aber nun: vor diesem vollen Brotkorb steht ein Mann mit leeren Taschen – der dauernd über seine Verhältnisse lebt, der mehr gibt, als er in der Tasche hat, aber nicht aus mir, sondern aus dem vollen Brotkorb.  - Dann habe ich da noch eine zweite Stelle: Das ist die arme Witwe im Tempel, wo der Herr jetzt plötzlich den Aposteln sagt, die hat nur zwei Pfennige gegeben. Die anderen haben immer nur von ihrem Überfluss gegeben, die haben immer nur etwas gegeben. Sie hat alles gegeben. Ihr Lebensnotwendiges, materiell fast ein Nichts, aber ihr Alles! Das ist für mich eins der faszinierendsten Gottesbilder und im Übrigen: Gott in einer Frau! Denn so ist Gott. Gott hat in den Opferkasten der Welt nicht etwas von seinem Überfluss gegeben, sondern alles. Sein Lebensnotwendiges! Seinen einzigen Sohn. Er lebt davon! – von seinem Sohn. Die kleine Hostie, vor der ich morgen das Knie beuge, ist materiell fast nichts.  Aber es ist Gottes alles! Wie können wir da sagen, wir seien eine Kirche im Mangel?  

"Als das Christentum des Anfangs stritt, waren die Türen stets verschlossen," sagte Kierkegaard. Das ist, wie heute jeder weiß, ganz anders geworden. Sind Sie denn vielleicht auch mit Kierkegaard einer Meinung, dass "die Tagespresse das böse Prinzip der heutigen Welt ist"? Oder wie sehen Sie heute das Verhältnis der Kirche zu den Medien?

Ich habe sehr positive und  sehr negative Erfahrungen. Christus spricht bezeichnenderweise, wenn er vom Reich Gottes spricht, von einem Schatz, der im Acker verborgen liegt. Oder Paulus sagt, unser Leben ist mit Christus verborgen in Gott. Oder die alttestamentliche Gotteserfahrung heißt: Fürwahr, Du bist ein sich verbergender Gott! Darum scheint auch alles Positive in der Welt zunächst immer das Verborgene zu sein – während sich das Negative immer wie von selbst hineindringt in das Bewusstsein. Denn was ist der Inhalt der Gespräche in den Frühstückspausen? Meistens negativ. Was macht die Schlagzeilen in den Print- und elektronischen Medien? Das sind immer Negativ-Meldungen. Es  ist etwas typisch Menschliches, dass sich das Negative von allein in das Bewusstsein der Menschen hineinschiebt. Dem gegenüber  muss ich mich willentlich entschließen, Positives zu sehen oder Positives weiterzusagen. Darum ist diese Frage auch immer eine ganz persönliche Frage an den einzelnen Journalisten. Denn die Medien gibt es ja in dem Sinn nicht, wie es auch die Kirche in dem Sinn nicht gibt, es gibt immer nur die einzelnen Journalisten und die einzelnen Christen. Und die Medien und die Kirche werden immer so sein, wie der einzelne Journalist und der einzelne Christ seine Grundentscheidung getroffen hat. Wir Menschen sind weder schwarz wie die Teufel, noch weiß wie die Engel, sondern alle Zebras wie die Frau Zellekens (die Sekretärin, die bei dem Gespäch dabei saß). Danach kommt dann erst die Frage, sehe ich das Weiße nur als eine Unterbrechung des schwarzen Hintergrundes oder sehe ich umgekehrt das Schwarze als eine Unterbrechung des weißen Hintergrundes? Gott jedenfalls gibt  der Schöpfung, namentlich der Schöpfung des Menschen, das höchste Prädikat. wenn er sagt, dass es gut, ja sogar, dass es sehr gut war.

"Selbst ein Atheist von der Qualität Nietzsches hatte seine Stunden, in denen das Ebenbild Gottes in ihm aufschrie. Und in einer solchen Situation hat er sein Leben einmal verglichen mit einer Wanderung durch trostloses Winterland", sagten Sie im letzten Frühjahr. Karl Rahner sprach gegen Ende seines Lebens  von einer "winterlichen Kirche". Wie könnte denn ein Frühling der Kirche aussehen?

Vielleicht müssen wir das Bild etwas korrigieren. Denn mich erinnert die Kirche zur Zeit mehr an eine Thermosflasche, die hält die Wärme nach innen fest und strahlt sie nicht aus. Christus ist aber nach wie vor der, der gesagt hat: "Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu bringen." Dann dürfen wir diese Hitze doch nicht wie in einem Thermosbehälter abschirmen, ohne die Wärme durchzulassen! Die Kirche hat keine Thermoskanne zu sein! Sie muss ein wärmender Herd  sein, dass man gerne zu ihr kommt, wenn einem kalt ist. – "Wärme, was erkaltet ist!" rufen wir dem Heiligen Geist in der Pfingstsequenz zu.  "Entzünde in uns das Feuer Deiner Liebe!" Das ist eins der kühnsten Gebete, die es gibt. Denn sehen Sie, wenn ich einen Holzstoß anzünde, dann kann ich nicht sagen: Ich will nur, dass da fünf Prozent brennen, die anderen 95 Prozent, die sollen sich erhalten. Das Feuer geht immer aufs Ganze! Und wenn mich Gott erfasst, dann will er das ganze Herz erfassen. Davor haben wir aber immer Angst und darum ist die Frage, wie wir von einer winterlichen Kirche in eine sommerliche Kirche kommen, immer eine Frage an mich. Bin ich bereit, auf's Ganze zu gehen? Das Kennwort unter uns Christen heißt  "ganz"! Du sollst den Herrn, Deinen Gott, lieben, aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus deinem ganzen Gemüte. Wer das ganz verstanden hat, war Maria von Bethanien, die den ganzen Inhalt des kostbaren Salböls auf die Füße des Herrn schüttete – und dann heißt es, "vom Duft der Salbe wurde das ganze Haus erfüllt. Daneben steht der Kalkulator, der Rechner, der Kassierer, der Verräter.  Wir müssen das Kalkulieren und das Rechnen einstellen. Wir müssen wieder Leute der Fülle werden! Der Glaube wird einfacher, wenn er ganzheitlich gelebt wird. Wissen Sie, das Herz dividiert durch zwei ergibt die Angst. Und dieses Hinken nach beiden Seiten, wie Jeremias sagt, das macht mich ja doch kaputt. Das bewirkt eine Dauerqual. – Es gibt ein sehr schönes Primizgedicht, literarisch Überhaupt nicht wertvoll, aber vom Sinn her, was man auch auf den Christen ummünzen kann, das hat mir meine kleine Nichte aufgesagt bei meiner Primiz: "Willst du dein Leben dunkel und kalt, dann werde ein Priester und werde es halb. Willst du ein Leben voller Licht und Glanz, dann werde ein Priester und sei es ganz." Setzen Sie für den "Priester" "Christ" ein, dann stimmt das genau! Entzünde in uns das Feuer Deiner Liebe! Lösch den Geist nicht aus! Seid glühenden Geistes! Der Heilige Geist ist nicht mit Filzpantoffeln am Pfingsttag in seine Kirche eingeschlichen, sondern mit glühenden Feuerzungen. Und diese Begeisterung, die ansteckend ist, ist die die einzige Methode, durch die das Christentum weitergegeben wird. Die sollten wir uns wieder schenken lassen. Die brauchen wir uns nicht zu erwerben, die ist uns ja schon gegeben. AMEN – (lacht) Jetzt haben Sie mich ja fast zu einer Predigt herausgefordert. Machen Sie et jut.

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