Rom, 11 April, 2019 / 4:21 PM
Theologie ist in den letzten Jahrhunderten zu einem Schlachtfeld geworden, auf dem sich haarsträubende Irrlehren bis heute mit professoralen Glasperlenspielen begründen lassen. Denn Doktor Martin Luthers Sprachgewalt und seine Kunst der Schriftauslegung hat die Theologie, die Rede von Gott, insgesamt und ringsum die Bibel vor allem in eine Spielart der Philologie verwandelt. Protestanten wie Katholiken sind deshalb in den letzten Jahrhunderten immer wieder in die "Gutenberg-Falle" geraten, wie Ingolf Dalferth jene Fixierung auf die nackte Schrift und das gedruckte Wort nennt, die nicht dem Christentum entspreche.
Diese Verengung des Blickwinkels war in der ökumenischen Christenheit nicht immer und überall gegeben. Wer mit offenen Augen Ikonen betrachtet oder mittelalterliche Tafelbilder, die die Passion, den Tod und die Auferstehung Christi darstellen, kommt an dieser Erkenntnis nicht vorbei. Ab dem 11. April 2019 lässt sich das nun auch für vierzig Tage in Rom an einer nackten Treppe beobachten, die die bloße Schrift auf sinnliche Weise bereichert. Das ist die "Scala Sancta" neben der Lateran-Basilika, deren Marmorstufen Papst Innozenz XIII. im Jahr 1723 zum Schutz vor Abnutzung mit Bohlen aus Walnussholz verkleiden ließ.
Diese Planken wurden in der Fastenzeit 2019 im Verlauf einer Gesamtrenovierung entfernt, sodass die Stufen nun erstmals seit fast dreihundert Jahren wieder mit bloßem Auge zu betrachten sind. Sie stammen aus dem antiken Palast des Pontius Pilatus in Jerusalem und sind verbeult und abgenutzt, nachdem sich Jahrhunderte lang Römer und Pilger am Karfreitag wie an jedem anderen Tag auf den Knien und betend auf ihnen hinaufbewegt haben zu einem alten Christusporträt am Kopf der Treppe in der Papstkapella "Sancta Sanctorum", weil Jesus nach seinem Todesurteil dieselben Stufen nach seiner Auspeitschung schwer verletzt und blutend hinunter in den Hof des Praetoriums gewankt ist, wo sein Henker ihm das Kreuz aufschulterte. Diese 28 Marmorstufen sind der Beginn des wahren Kreuzwegs Christi, des "Königs der Juden". Oberhalb dieser Treppe war ihm eine Haube aus Dornengeflecht als "Krone" auf den Kopf geprügelt worden.
Schon Papst Silvester (314–335) hatte die Treppe zu einem Bestandteil seines Palastes gemacht, wo sie eine Konstante blieb von der Antike bis zum Mittelalter. Unter Papst Sixtus V. (1585–1590) erhielt sie ihre heutige Position. Helena (249–329) hingegen, die Mutter Kaiser Konstantins, hat die Treppenstufen nach Rom gebracht, und es gibt nicht den geringsten Grund, das zu bezweifeln. Sie war von der Einsicht fasziniert, dass in der Mitte des Christentums kein neuer Mythos stand, oder eine heilige Schrift, sondern dass die wahre Desoxyribonukleinsäure (DNA) der Christenheit das Blut des Allerheiligsten war, der zu einer ganz konkreten Zeit Mensch wurde und in unsere Geschichte eingetreten ist. Daher durfte sie auch wie eine Kriminalistin nach seinen Spuren suchen, wenn wirklich wahr ist, was wir glauben. Das wäre einem antiken Menschen nie und nimmer für Zeus oder Apollo oder Artemis eingefallen oder einem anderen Fabelwesen des Götterhimmels. Die Alten waren ja nicht blöd oder naiv.
Die Einsicht der einzigartigen Menschwerdung Gottes hatte sich dem Bewusstsein Helenas eingebrannt: Dem Innern der katholischen und apostolischen Kirche hat Gott sich in Jesus Christus eingeprägt wie ein Siegel. Er stand nicht "auf der Seite der Opfer", wie es heute als fromme Forderung gern heißt, sondern als der Herr, der sich selbst zum Opfer hat machen lassen. Diese schockierende Überzeugung ließ die Mutter Konstantins nicht ruhen, die sich deshalb im Jahr 326 persönlich nach Palästina aufmachte, um mit 77 Jahren in Jerusalem Spuren der Passion und Auferstehung dieses Mannes zu finden: von Jesus von Nazareth, in dem Gott sein Gesicht gezeigt hatte.
Jerusalem war zu der Zeit unter dem Namen Aelia Capitolina eine Provinzstadt im Osten des Römischen Weltreiches geworden, wo die Römer nach dem Bar-Kochba-Aufstand im Jahr 132 Juden aus der Stadt verbannt hatten und hebräische und christliche Kult und Erinnerungsorte bewusst mit Tempeln ihrer Götterwelt paganisierten. Das machte die Identifizierung dieser Stätten später umso einfacher, ganz abgesehen von den lokalen Traditionen. Zudem war die Stadt voller Trümmer, etwa von denen des herodianischen Tempels, den Jesus noch das "Haus des Vaters" genannt hatte, wo er mit den Aposteln ein und ausgegangen war.
Von diesem Tempel ließ Helena zwölf kostbare Marmorsäulen zur Küste bringen und von Caesarea nach Rom verschiffen, wo sie in die erste konstantinische Petersbasilika eingebaut wurden, bevor diese Säulen 1506 noch einmal in den Neubau von Sankt Peter prominent eingesetzt wurden und Vorbild für die Bronzesäulen Berninis wurden. Helena aber fand in Jerusalem nicht nur den Tempel in Trümmern, sondern auch den Golgathafelsen und das leere Grab Christi als das "hochheilige Denkmal der Auferstehung des Heilandes, das die Auferstehung des Erlösers durch Tatsachen bezeugt, die lauter sprechen als jeder Mund", wie Eusebius von Caesarea (263–339) damals schrieb. Und Helena fand als materielle Erinnerungen an Christus auch das Kreuz und den Kreuzestitel mit dem Urteilsspruch ("Jesus von Nazareth König der Juden") als hinterlassene Spuren des Erlösers, die in der frühen Kirche natürlich nie vergessen worden waren. Noch einfacher war es für Helena, das Prätorium zu finden, also den Amtssitz der römischen Prokuratoren, für den Pontius Pilatus im Jahr 26 den Palast der Hasmonäer beschlagnahmt hatte.
Als Theo und Mirjam Siebenberg nach der Eroberung der Altstadt 1967 durch die Israelis die Ruinen dieses Palastes entdeckten, legten sie hier auch zwei Zisternen mit großen byzantinischen Kreuzen frei, die nahelegen, dass sich hier später auch die Pilatus-Kirche befunden hat, der späteren Hagia-Sophia-Kirche, von der wir im Bericht des Pilgers von Piacenza aus dem Jahr 555 lesen: "Wir beteten im Prätorium, wo der Herr verhört worden ist. Dort befindet sich jetzt die Basilika der Heiligen Weisheit vor den Ruinen des Salomonischen Tempels. In dieser Basilika befinde sich der viereckige Stein, der mitten im Prätorium stand, auf den der Herr gehoben wurde, als er von Pilatus verhört wurde." Ein solcher Stein lässt sich bis heute im "Siebenberg House" im jüdischen Teil der Jerusalemer Altstadt (unter der Adresse 5 Beit HaShoeva) finden, mit vielen Trümmerteilen jenes Palastes, den die Priesterkönige der Hasmonäer nach den Erfolgen der Makkabäer gegen die hellenistischen Seleukiden im Westen des Tempelbergs errichteten. Perser haben die Hagia-Sophia-Kirche bei ihrem Überfall Jerusalems im Jahr 614 zerstört.
Säulenreste aus dem Komplex untermauern, dass eine Freitreppe aus Marmor mit 28 Stufen in diese Architektur gepasst hätte wie ein Puzzle-Stein. Schon im Jahr 532 ließ Kaiser Justinian in Konstantinopel zur Ehre der Weisheit das gewaltigste Gotteshaus des römischen Weltreiches auch unter dem Namen "Ἁγία Σοφία" errichten, deren Putz im Keller identisch ist mit jenem Putz, der sich noch heute in der Zisterne dieser früheren Pilatus-Kirche findet. In "Kirche der heiligen Weisheit" wurde dieses Gotteshaus aber umbenannt, weil "die Weisheit Gottes sich nicht zu schade war, sich der Torheit und dem Fehlurteil der Menschen zu unterwerfen", erklärte mir hier im März 2000 der Benediktinermönch Bargil Pixner (1921–2002).
Steine haben keine DNA und ihr Alter lässt sich auch nicht so leicht bestimmen wie das Alter von Holz. Doch bei der Freilegung der "Scala Sancta" in Rom stießen die Restauratoren nun immer wieder auf kleine Bronzegitter, die Flecken im Marmor schützten, in denen die ungezählten Rompilger Blutflecken erkennen wollten, mit der DNA des Gottessohnes, die zur DNA seiner heiligen Kirche wurde.
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Vatican-Magazins.
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