Rom/München, 10 Juni, 2020 / 7:05 AM
Klaus Berger hatte den Krebs überwunden und mit seiner Frau gerade noch einmal einen letzten Urlaub unter dem hohen Himmel der Nordsee auf ihrer geliebten Insel Langeoog gemacht. Nach ihrer Rückkehr nach Heidelberg ist er dann in seinem Bürostuhl vor seinem Rechner entschlafen, wo er an einem letzten Werk über Joachim von Fiore arbeitete, dem mittelalterlichen Exegeten der Geheimen Offenbarung, dem Lebensthema Klaus Bergers. Die Spur, die Joachim von Fiore in der Geschichte des Abendlands hinterlassen hat, faszinierte ihn seit Jahrzehnten. Mitten in dieser Arbeit ist Klaus Berger nun selbst in das himmlische Jerusalem abberufen worden, in einem seligen Gelehrtentod, während seine Frau das Abendessen bereitete.
1992 hatte ich den Neutestamentler für einen ersten Essay über das Himmlische Jerusalem gewinnen können, mit dem damals in dem FAZ-Magazin eine Serie zur Jahrtausendwende unter dem Motto "?Qué sará?" beginnen sollte. Es war ein großartiger Auftakt. Er war damals 52 und sah damals für mich schon so aus wie zuletzt. Doch gestern Abend wollte ich ihn per mail nach einem Detail zu Joachim von Fiore fragen und war besorgt, als er nicht gleich antwortete. Das war so gar nicht seine Art. Als ich deshalb heute morgen in Heidelberg anrief, kam seine Frau ans Telefon und ich wusste sogleich, was geschehen war. Die tapfere Witwe ist gefasst, mit der er im Leben und in der Wissenschaft so viele Gipfel erklommen hat.
Mich bedrückt der Verlust. Zahllose Erinnerungen steigen in mir hoch seit dem Tag, als wir uns zum ersten Mal vor fast 30 Jahren in München getroffen haben, alle mit Wehmut. Und mit Dankbarkeit. Er lachte verschmitzt, als ich ihm vor Jahren einmal den Witz eines jüdischen Freundes über Jacob Neusner (1932 – 2016) erzählte, der so geht. Da ruft ein Mann bei den Neusners an, bekommt Frau Neusner ans Telefon und wünscht ihren Gatten zu sprechen. "Geht leider nicht", sagt sie ihm, "mein Mann schreibt gerade ein Buch. Oder Moment mal, warten sie, geht doch, sehe ich. ... Gerade ist er fertig geworden!"
In seinem Lachen erkannte Klaus Berger sich natürlich auch selbst in dem jüdischen Gelehrten wieder, dem über 900 Bücher als Autor oder Herausgeber zugeschrieben werden. Seine eigene unermüdliche Produktivität war ähnlich legendär. Er war ein begnadeter Lehrer und Versteher und Brückenbauer. Doch das schriftliche Verfertigen von Gedanken war für ihn wie Atmen. Essays schrieb er bis zuletzt fast auf Zuruf, gern und großzügig auch ohne Honorar – wie etwa für unser Vatican-Magazin - wenn ihm das Thema am Herzen lag, und er fügte in seiner Werkstatt wirklich ein Buch an das andere an, als handle es sich um Möbelstücke, die ein Schreiner fertigt.
Eher aber war er wohl ein Maler, der die Welt mit den Augen seiner Mutter sah, die eine große Fotografin war. Und er war ein Debattenmensch, witzig, liebenswürdig und streitlustig. Vor allem aber war Klaus Berger "a mentsch", wie man im Jiddischen sagen würde. Nach dem Wort eines anderen Freundes sah er mit seinem ungezähmten weißen Haar oft aus "wie ein ungemachtes Bett". Dieser Eindruck war fast sein Markenzeichen und täuschte manche, wie hellwach und gar nicht schläfrig er dennoch jederzeit war.
Wer aber in seine hellblauen Augen schaute, sah auf deren Grund auch immer einen Schmerz, wie ihn Seher haben. Denn er war ein Seher. Das war sein Schmerz. Und er war – für einen Schriftgelehrten seines Rangs eine Seltenheit! – ein Augenmensch, der Bilder ganz und gar ernst nahm. Das war seine Lust. Diese seltene Gabe befähigte ihn auch, in der von ihm so geliebten Apokalypse, diesem "Schatzhaus der Sieben Siegel", zu lesen wie in einem offenen Buch.
Jetzt aber ist es, als wäre mit seinem Tod auch eine riesige Bibliothek in Flammen aufgegangen, die nicht mehr zu retten ist. Er war einer der letzten Universalgelehrten, die ich kennenlernen durfte, unglaublich gebildet im Wortsinn, mit einer märchenhaft reichen Kenntnis alter Sprachen und verborgener Quellen, die zu ordnen mehrere Menschenleben erfordern würde. Er hat keinen Nachfolger.
Seine Anregungen sind Legion. Er blieb bis zuletzt erschüttert vom Geheimnis der Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth und war selbst ein Geheimnis. Ich konnte ihn immer wieder befragen, in München, Jerusalem, Rom oder Heidelberg. Er war ein Freund und ein Geschenk, dem ich unendlich viel verdanke. Einen Menschen wie ihn werde ich nie mehr finden. Er fehlt sehr.
Doch er lässt mich auch nicht im Ungewissen, wohin er gestern Abend aufgebrochen ist. Am 11. Februar 2012 hielt Klaus Berger in Rom in einem Kinosaal an der Via della Conciliazione vor Kardinal Bagnasco einen anspruchsvollen Vortrag über das "Foto Gottes". Am nächsten Tag fuhren wir dann gemeinsam als Pilger durch das schneebedeckte Italien von Rom nach Manoppello, wo er sich das "wahre Bild" Christi endlich einmal mit eigenen Augen anschauen wollte, das bis zum Sacco di Roma 1527 mehr Pilger zum Petersdom gezogen hatte als alle Päpste. Um solch eine Pilgerreise hatte uns bis zu diesem Tag noch kein Theologe gebeten. Am Ziel in der leeren "Basilica del Volto Santo" stand er dann nur noch tief erschüttert vor dem zarten Sudarium, das erstmals im Johannes-Evangelium erwähnt wird. Der sprachgewaltige Gelehrte war sprachlos. Er blieb es lange. Als wir wieder im Auto saßen, kam er zunächst auf das Leid zu sprechen, dessen Spuren im Antlitz Christi ihn hatten verstummen lassen: "Wie wurde ihm doch nur in die Fresse gehauen!" entfuhr es ihm nach langem Schweigen in einem fürchterlichen Seufzer auf der Autostrada.
"Alle Wahrheit ist körperlich, oder sie ist nicht", schrieb er danach in Heidelberg in seinem nächsten Buch über Die Bibelfälscher und erinnerte an das "laut schreiende Geheimnis", das Ignatius von Antiochien schon im 2. Jahrhundert im Antlitz Christi entdeckt hatte. Klaus Berger ist nicht tot. Er wusste, wem er begegnen würde und wer auf ihn wartete, als er gestern Abend in seinem Scriptorium vom Foto zur Anschauung Gottes wechselte. Er ist ihm kein Unbekannter.
Klaus Berger RIP – 8. Juni 2020, 19:00
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