01 Oktober, 2020 / 6:41 AM
Eigentlich ist mein Sohn Jonas nur als mein Chauffeur dabei. "Aber du versprichst mir, dich zu beeilen, Papa!" Ich versichere es ihm, als wir in den Innenhof des Landhauses einbiegen, das einsam über dem Argenbühler Ortsteil Ratzenried liegt. Dort lebt seit dem Tod ihres Mannes die über 80-jährige Clarissa Gräfin von Waldburg-Zeil, allein, furchtlos und fest entschlossen, ihre Selbstständigkeit zu verteidigen.
Wir sitzen keine Viertelstunde zusammen, als sich zwischen meinem 18-jährigen Filius und der alten Dame ein spannendes Gespräch entwickelt, in dem er, der diesen Besuch schnell hinter sich bringen wollte, sich so sehr in dieser Begegnung verliert, dass ich ihn nach zwei Stunden zum Aufbruch zwingen muss. So war sie immer: ebenso erfrischend wie beeindruckend. Und so erzählte sie schon immer: Spannend und mitreißend. Mein Sohn fragt dauernd nach und sie berichtet ihm mit hintergründigem Humor aus ihrer Lebensgeschichte. Genau so habe ich sie in den letzten Jahren oft erlebt: nie prahlerisch, nie pathetisch, immer anschaulich, spannend, alles zusammen auf die denkbar charmanteste Weise.
Clarissa, die als drittes Kind des Grafen Clemens von Schönborn-Wiesentheid und seiner Frau Dorothee Gräfin zu Pappenheim (ungarische Linie) am 14. Oktober 1936 in Jüterbog (Brandenburg) geboren wird, erfährt nahezu alles, was einem im Leben an Höhen und Tiefen widerfahren kann.
Immer wieder spricht sie über den ungeklärten Tod ihres Vaters, der als Oberst und Stuka-Kommandeur gegen Kriegsende dem Widerstand Hitlers zugeordnet wird und dessen Maschine offenbar nach einer Manipulation am 30. August 1944 abstürzt. Clarissa erlebt das Kriegsende in ihrem Elternhaus in Bayrisch-Zell mit ihrer Mutter und drei Geschwistern und bis zu 14 Flüchtlingen, die im Haus aufgenommen und verpflegt werden. Auf ihrem Schulweg ist sie immer wieder Fliegerangriffen ausgesetzt. Mit acht Jahren entgeht sie einmal nur durch einen beherzten Sprung in einen Wassergraben dem Maschinengewehr-Beschuss angreifender Tiefflieger. Bei Kriegsende bleibt ihrer Mutter nichts anderes übrig, als das geliebte Haus in Bayrisch-Zell zu verkaufen. Die Witwe zieht mit ihren Kindern nach München, wo Clarissa die Schule besucht und sich anschließend zur Fremdsprachenkorrespondentin ausbilden lässt.
Sie ist erst 17 Jahre alt, als sie ihre große Liebe kennenlernt: Alois Graf Waldburg-Zeil, dessen Vater Fritz Gerlichs katholische Widerstandszeitung gegen den aufkommenden Naziterror finanziert hatte. Schon wenige Monate nach der Machtübernahme Hitlers wurde die Zeitung "Der gerade Weg" verboten, Fritz Gerlich verhaftet und 1934 im KZ Dachau ermordet.
Im Juni 1956 heiratet das Paar auf Schloss Weißenstein in Pommersfelden, einem Juwel des fränkischen Barock. 58 Jahre, bis zum Tod von Alois Graf Waldburg-Zeil im Dezember 2014, bleiben sie innig vereint. Die ersten Ehejahre verbringt Gräfin Clarissa in Bonn, wo ihr Mann studiert und als persönlicher Referent des Bundesministers Hans Joachim von Merkatz arbeitet. Damals schon teilt Gräfin Clarissa mit ihrem Mann die Liebe zur Politik. Sie gilt als charmante und eloquente Gastgeberin in der damaligen Hauptstadt. Nach der Geburt ihres ersten Kindes, Tochter Monika, zieht Gräfin Clarissa mit ihrem Mann nach Argenbühl-Ratzenried. Mit 30 ist die ausgezeichnete Reiterin und begeisterte Skifahrerin, schon Mutter von fünf Kindern, deren Erziehung sie sich intensiv widmet. Sie beherrscht das Klavierspiel und ist auch an der Staffelei außergewöhnlich begabt. Schon beim ersten Besuch in ihrem Wohnzimmer fallen mir beeindruckende großflächigen Werke an der Wand auf. Erst auf Nachfrage räumt sie ein, die Bilder selbst gemalt zu haben. Es gibt gelegentliche Vernissagen und Ausstellungen, doch sie drängt sich der Öffentlichkeit nie als "Künstlerin" auf. Viele ihrer Werke hängen heute bei Verwandten und Freunden oder in mittelständischen Unternehmen. Als sie mir einmal ihre privaten Aufzeichnungen vertraulich zum Lesen mit nach Hause gibt, wird mir nochmals deutlich, dass sie das ist, was ich gerne eine "starke Frau" nennen möchte. Und ein Zweites erschließt sich mir, dass ihre älteste Tochter, eine bekannte Publizistin und Buchautorin, ihr Talent zum Schreiben von ihr haben muss. Als ich ihr nach der Lektüre sage, der Apfel falle nicht weit vom Baum, murmelt sie nur "Meinen Sie wirklich?" und scheint für einen Augenblick zu erröten.
Nachdem ihr Mann "Graf Alois", wie er in seinem Wahlkreis Biberach genannt wird, 1980 als direkt gewählter CDU-Bundestagsabgeordneter nach Bonn geht, begleitet sie ihn. Ihre Empfänge sind bei Politikern und Diplomaten legendär. Ihre ungezwungene, natürliche und charmante Art mit Menschen umzugehen, macht ihr Haus zu einer beliebten Anlaufstelle. Als ihr Mann 1983 mit über 75 Prozent aller Stimmen in seinem Biberacher Wahlkreis wiedergewählt wird, hat sie in Bonn bereits viele politische Kontakte geknüpft und vertieft. 18 Jahre lang pendelt sie zwischen Allgäu und Rheinland, zwischen Ratzenried und Bonn hin und her. Sie kennt alle Minister und viele in- und ausländische Diplomaten der Bonner Republik persönlich. Häufig ist sie Tischdame von Bundeskanzler Helmut Kohl, der sie als Gesprächspartnerin schätzt und der verschwiegenen Gräfin manches Geheimnis anvertraut, das selbst seinen Kabinettskollegen nicht bekannt ist. Das ist die eine Seite ihres Lebens.
Aber da gibt es auch die andere Seite. Gräfin Clarissa muss Ende der 1980er Jahre zwei schwere Schicksalsschläge hinnehmen, als sie zwei ihrer Kinder verliert. 1987 wird ihr damals 23-jährigen Sohn Franz-Anton zu Grabe getragen und zwei Jahre später der 28-jährige Georg. Sie spricht darüber sichtlich betrübt, aber nie verbittert. All das übersteht sie durch ihren tiefen Glauben, der maßgeblichen Säule ihres Lebens.
Nach dem Ausscheiden ihres Mannes aus dem Deutschen Bundestag 1998 leben die beiden in Ratzenried. Als Bürgerin der Ortsgemeinde ist sie dem Dorf und dessen Bewohnern eng verbunden. Jeden Sonntag besucht sie die heilige Messe und anschließend den Friedhof, um eine Kerze für ihre verstorbenen Söhne und später auch für ihren Mann anzuzünden.
Reden wir über ihre zwölf Enkelkinder und fünf Urenkel, so gerät sie schnell ins Schwärmen. Sie ist stolz auf ihre Familie. Und dankbar. Wenige Tage vor ihrem Tod lässt sie sich vom Krankenhaus im Rollstuhl in den angrenzenden Klinikpark schieben, um mit ihrer anderthalbjährigen Urenkelin Cosima zu spielen. Den Tod vor Augen ist sie hellwach und dem Leben zugetan. "Haben Sie Angst vor dem Sterben?" frage ich sie einmal. Nein, das nicht. Aber sie schiebe es so lange hinaus, wie der Herrgott es zulasse.
Im Herbst letzten Jahres schenkt sie mir ihr Leseexemplar eines gerade im Berliner Aufbau Verlag erschienenen Buches von Martin Simons. Der Schriftsteller Martin Simons ist der Ehemann ihrer Enkeltochter Teresa und schildert darin seine monatelange Zeit im Krankenhaus, nachdem er plötzlich mit einer Hirnblutung auf der Straße zusammengebrochen war. Der junge Autor gibt seinem Buch den Titel "Jetzt noch nicht. Aber irgendwann schon."
Am Sonntagmorgen, 27. September 2020, dem Gedenktag des heiligen Vinzenz von Paul, dem Patron der Waisen- und Krankenhäuser und der Gefangenen, ist auch für Gräfin Clarissa von Waldburg-Zeil der Moment des "Irgendwann schon" gekommen. Nur einen unerfüllten Wunsch und Plan hatte sie noch: mit ihrer Tochter Monika und deren Mann Franz Joseph einmal zu dem menschlichen Gesicht Gottes auf dem heiligen Schweißtuch nach Manoppello zu pilgern. Jetzt hat sie – sportlich, wie sie immer war - die Abkürzung über die "direttissima" zum Antlitz des Herrn genommen.
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