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Zum 100 Geburtstag Pasolinis: Eine "kleine Entmythologisierung"

Pasolini im Jahr 1964

Pier Paolo Pasolini,  der am  2.  November 1975 auf tragische Weise mit 53 Jahren starb, wäre am 5. März 100 Jahre alt geworden. „Mit blitzartiger Geschwindigkeit begannen die Glühwürmchen zu verschwinden.“ hatte er im gleichen Jahr noch in einem seiner letzten und berühmtesten Essays notiert. „Sie sind heute eine schmerzliche Erinnerung an die Vergangenheit und er verfluchte dabei den damals bekanntesten italienischen Energieriesen mit den Worten: „Ich gäbe, auch wenn er ein Multi ist, den ganzen Montedison-Konzern für ein einziges Glühwürmchen.“ Tatsache ist aber, dass sich auch heute noch – 47 Jahre später - Jahr für Jahr und Abend für Abend im April und Mai unzählige Glühwürmchen auf zahllosen Hügeln der Abruzzen bestaunen lassen, als wollten sie die dort das Universum der Sterne am Himmel spiegeln. Dennoch wurde Pasolini an seinem 100sten Geburtstag wieder als einer der großen Visionäre und Denker des letzten Jahrhunderts gefeiert. 

Zeit für eine kleine Entmythologisierung. 

Als Schüler hatte mich sein „Accattone“ enorm fasziniert, wonach mir später von meinen Lehrern – in einem katholischen Internat!  - auch sein „Evangelium nach Matthäus“ empfohlen worden war, nicht zuletzt wegen des langen Applauses, mit dem der Film bei einer Vorführung im Vatikan 1964 von Teilnehmern des II. Vatikanischen Konzils bedacht worden war. Doch damals hatte er mich im Grunde gelangweilt und gar nicht berührt, trotz der hymnischen Besprechungen, die heute noch über diesen Film im Netz zu finden sind. Diese Wahrnehmung änderte sich erst 2004, als ich von meiner Redaktion in Berlin gebeten worden war, den Film im Zusammenhang mit Mel Gibsons „The Passion“ noch einmal als älterer Herr anzuschauen, 

JESUS MIT KOPFTUCH

Nur einem einzigen seiner Vorgänger erweist Mel Gibson mit seiner erratischen „Passion“ eine gewisse Reverenz. Das ist Pier Paolo Pasolini. Der Australier verbeugt sich vor dem Italiener mit mehreren Zitaten; vor allem aber zollt er dessen Gespür für die Magie von Orten großen Respekt. Das süditalienische Städtchen Sassi di Matera ist deshalb für beide zu Jerusalem geworden, sogar die Kreuzigung lassen beide auf demselben Felsen stattfinden. Und hat nicht auch das Erscheinen von Pasolinis Schwarz-Weiß-Verfilmung des Matthäus-Evangeliums schon 1964 wilde Kontroversen ausgelöst? Ja. Es gab ein wenig (faschistischen) Aufruhr auf der Biennale. Die marxistische Intelligentsia hingegen witterte Verrat ihres Idols. Die Kirchen empfahlen den Besuch des Films, den das KP-Mitglied Papst Johannes XXIII. gewidmet hatte. 

Schließlich musste Jean Paul Sartre höchstpersönlich in den kleinen Kulturkampf eingreifen. „Es wird befürchtet“, belehrte er tröstend den Regisseur, „dass religiöse Themen konservative Ideen fördern. Die Linke hat die Christologie verdrängt. Sie befürchtet, das Martyrium des Lumpenproletariates könne auf die eine oder andere Weise wie das Martyrium Christi interpretiert werden. Das Problem Christus bleibt anzugehen.“ Hm hm. Aha. 

Vierzig  Jahre später aber habe ich gelesen, der gleiche Film sei „vielleicht das einzige wirkliche Wunder des Bibelkinos“, dessen Hauptdarsteller den Sohn Gottes „mit einer zornigen Entschlossenheit spielt, die kein anderer Leinwand-Jesus je wieder erreicht hat.“ 

Grund genug, den Streifen also noch einmal anzusehen, auch wenn er 132 Minuten dauert. Es ist ein merkwürdiges Wiedersehen, das heute auch mehreren Bischöfen zu empfehlen wäre. Pasolini ist ein Meister der Genrekunst, mit betörenden Bildern. Von seinen Marktszenen kann man gar nicht genug bekommen. Viele Minuten lang tastet er mit der Kamera nichts weiter als ein Gesicht nach dem anderen der vielen Statisten ab. Jedes Gesicht ein Gedicht, die Alten wie die Kinder. Es ist ein einziges Ergötzen, ein Schwelgen in Poesie. Es ist Italien pur. Neben Pasolinis alter Mutter (als Maria) und dem katalanischen Studenten Enrique Irazoqui (als Jesus) und den vielen Laienspielern sind weitere Hauptdarsteller: der Wind in den Gewändern, das Hahnengeschrei, die Langsamkeit des Seins und das in die Schlucht geschmiegte uralte Sassi di Matera, damals noch entrückter als heute. Einige Bilder sind Juwelen. Doch weil der Film kein Stummfilm ist, wird er, recht betrachtet und offen gesagt, erst mit dem letzten Abendmahl ernst und erträglich – vor der Passion, die er ganz und gar ohne Geißelung und auch ohne einen einzigen Tropfen Blut in Szene setzt. (Die Kreuzigung ist eine Theaterkreuzigung.) 

Bis dahin und darüber hinaus aber quält den Zuschauer vor allem etwas ganz anderes. Vielleicht ist es eine Art totalitärer Kunstbegriff. Sicher ist es aber die Weise, in der Pasolini hier das Evangelium als schlichtes Drehbuch missverstand und missbraucht hat. Und schlimmer noch: als schlichten Text, den man nur laut genug deklamieren musste, um jedes Widerwort zum Verstummen zu bringen. Pasolini lässt Jesus ein Buch rezitieren: den ganzen Matthäus. Über weite Strecken hat der Film dadurch die Akustik eines Megaphons – als Vorwegnahme der Tiraden, die vier Jahre später die Hörsäle eroberten und jedes Seminar zugetextet und gesprengt haben. Es ist ein deklamatorischer Exzess. Die Schauspielkunst geht revolutionär gegen Null – wohl als evangelisch gedachte „arte povera“. Augenrollen und Halsverdrehen, das Heben einer Augenbraue sind spielerische Glanzleistungen. Pasolinis Jesus ist ein hübscher Schreihals – seine frohe Botschaft ein einziges Schimpfen, viele, viele Minuten lang: allein, in der Menge, in der Wüste, in der Stadt. Er schreit fast nur, ohne jede Nuancierung. Nur seine Frisuren wechseln ein wenig und das immer von neuem zu Recht gezupfte Kopftuch. Die Bergpredigt ist eine Deklamation im Dunklen, dann im Hellen, doch immer laut: „Ihr seid das Salz der Erde!“ O Jemine! Sein „Vater unser“ kommt prasselnd und schnarrend im Befehlston über die Zuschauer. Es sind Landschaftsbilder mit Gebrüll. Gegen diesen Film ist Gibsons „Passion“ ein leiser Film. Kein Wunder, dass Pasolini – trotz der Harlekin-Mützen des Hohen Rats – damals zumindest der Antisemitismusvorwurf erspart blieb. Es war eine andere Zeit. Aber auch in anderen Zeiten: diesen Film konnte kein Mensch jemals wirklich ernst nehmen – im Gegensatz zu Gibsons Film, der dem Zeitgeist heute so entgegenkommt wie ein Intercity dem anderen auf einem einzigen Gleis. Bei Pasolini hingegen war das Evangelium schon damals ganz und gar zeitgeistkompatibel geworden: mit seinem Revolutionskitsch, dem Pathos nachgestellter Eisenstein-Bilder, der Vorwegnahme der Ikonographie Che Guevaras. Und mehr noch, sensibel wie kaum ein zweiter eilte Pasolini dem Zeitgeist schon weit voraus. Während bei Gibson das Wort des Anfangs heute noch einmal (ein blutiges und rohes Stück) Fleisch wird, war das gleiche Wort bei Pasolini schon so etwas wie ein Calvin Klein Model geworden: der Sohn Gottes als Diva und Erfinder des Sechstagebarts.

Hinweis: Dieser Gasbeitrag – sein Inhalt sowie die darin geäußerten Ansichten – sind kein Text der Redaktion von CNA Deutsch. Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln zudem nur die Ansichten der jeweiligen Autoren wider. Die Redaktion von CNA Deutsch macht sich diese nicht zu eigen.   

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