26 September, 2022 / 9:21 AM
CNA Deutsch veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung die Predigt Kardinal Kochs zum Abschluss der Schülerkreistagung.
„Wenn du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Leute zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem weiten; endlosen Meer.“ Diese Anweisung des französischen Schriftstellers und Piloten Antoine de Saint-Exupéry zeichnet sich durch eine klare Prioritätenordnung aus: Die Weite des endlosen Meeres hat den eindeutigen Primat vor den konkreten Vorkehrungen für den Bau eines Schiffes. Wenn wir diese Lebensweisheit auf das Leben und die Verkündigung des christlichen Glaubens übertragen, müsste man sie sinngemäss dahingehend abwandeln: Es ist viel wichtiger, in den Menschen heute die Sehnsucht nach dem weiten Meer des ewigen Lebens bei Gott zu wecken, als das irdische und gegenwärtige Leben der Menschen zu organisieren.
Sehnsucht nach der Weite des ewigen Lebens?
Diese Prioritätenordnung wird uns von der biblischen Verkündigung in der heutigen Liturgie dringend ans Herz gelegt: In der Lesung ruft Paulus seinen Schüler Timotheus vor allem dazu auf, den „guten Kampf des Glaubens“ zu kämpfen und deshalb das ewige Leben zu ergreifen, „zu dem du berufen worden bist“ (1 Tim 6, 12). Und im Evangelium, im Gleichnis vom reichen Prasser und armen Lazarus (Lk 10, 18-31), wird uns ein Blick in das ewige Leben im „Schoss Abrahams“ eröffnet und uns die Einsicht zugemutet, dass im ewigen Leben die endgültige Wahrheit unseres jetzigen Lebens vor unsere Augen tritt.
Von daher stellt sich die unausweichliche Frage, wie es um diese Prioritätenordnung im Leben des christlichen Glaubens und in der Verkündigung der Kirche heute steht. Steht sie nicht weithin quer zum durchschnittlichen Bewusstsein von vielen Christen heute? Halten wir es denn nicht nur im weltlichen Alltag, sondern auch im Glauben und im kirchlichen Leben für viel wichtiger, Leute zusammen zu trommeln und die Arbeit einzuteilen, als in den Menschen die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer des ewigen Lebens zu wecken?
Ein wesentlicher Grund für diese Haltung dürfte darin liegen, dass nicht wenige Christen im Ausblick auf das ewige Leben arg unsicher geworden sind. Nach neueren Untersuchungen dominiert in der europäischen Bevölkerung hinsichtlich des christlichen Glaubens an ein ewiges Leben ratlose Ungewissheit. Sie zeigt sich darin, dass eine grosse Vielfalt von Deutungen vorliegt: Für die einen ist mit dem Tode alles aus, so dass sie annehmen, im Sterben ins Nichts zu fallen. Andere hoffen über den Tod hinaus, vor allem in der Gestalt von Wiedergeburt und Reinkarnation. Viele können sich unter einem Leben nach dem Tod nur wenig vorstellen. Nicht wenige bringen es kaum weiter als zu einem zweifelnden „vielleicht“. Einzelnen werden angesichts ihres eigenen Sterbens die letzten Worte des sterbenden Rabelais auf die Lippen kommen: „Ich gehe also das grosse Vielleicht zu sehen.“
Immer mehr Menschen und selbst Christen halten die Frage nach einem Leben nach dem Tod für nicht interessant, weil letztlich irrelevant, wie dies bereits Heinrich Heine mit den Worten zum Ausdruck gebracht hat: „Ein neues Lied, ein besseres Lied, o Freunde, will ich euch dichten. Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten… Es wächst hienieden Brot genug für alle Menschenkinder, auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust und Zuckererbsen nicht minder, ja, Zuckererbsen für jedermann. Sobald die Schotten platzen, den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen.“ Diese Mentalität, die sich heute immer mehr verbreitet, dürfte in der Angst vor den religionskritischen Vorwürfen der Weltflucht und der Jenseitsvertröstung begründet sein, die Ludwig Feuerbach und Karl Marx uns modernen Christen massiv eingeimpft haben, indem sie uns vorgeworfen haben, wir seien diesseitsvergessene „Kandidaten des Jenseits“ und würden mit unserer Hoffnung auf das ewige Leben das gegenwärtige Diesseits verraten. In der Zwischenzeit haben sich freilich viele moderne Christen diese religionskritischen Vorwürfe selbst angeeignet und sind weithin zu jenseitsvergessenen „Studenten des Diesseits“ geworden. Und an die Stelle der befürchteten Vertröstung mit dem Jenseits ist eine angestrengte Vertröstung mit dem Diesseits getreten.
Ernstfall der christlichen Hoffnung
Diese Beobachtungen bringen es an den Tag, dass es der Verkündigung der christlichen Kirche nur noch schwer gelingt, ihre Deutungen vom Tod und vor allem vom Leben nach dem Tod den Menschen in der heutigen Zeit in glaubwürdiger Weise zu vermitteln. Darin unterscheidet sich die heutige Kirche massgeblich von der Kirche an ihrem Beginn, die voll und ganz der Überzeugung gewesen ist, dass die christliche Hoffnung auf das ewige Leben einen radikalen Ernstfall für die Tragfähigkeit der Hoffnung im menschlichen Leben überhaupt darstellt. In der Tat: Was wäre dies denn für eine Hoffnung, die allein für unser jetziges und irdisches Leben tragen würde und deren alleinige Kraft darin bestünde, uns dem Tod-sicheren Ende unseres Lebens im Grabe näher zu bringen? Die christliche Hoffnung, die diesen Namen verdient, hat aber den viel längeren Atem. Sie bewahrheitet und bewährt sich auch und erst recht über den Tod hinaus. Wie alle menschliche Liebe Ewigkeit will, so will auch und erst recht die unendliche Liebe Gottes für uns Menschen Ewigkeit, indem sie sie wirkt und sie selbst ist.
Wenn wir Menschen ehrlich zu uns selbst sind, müssen wir uns eingestehen, dass wir ohne Hoffnung in unserem Alltag nicht leben können. Und als Christen wissen wir darum, dass bei allen kleinen und grösseren Hoffnungen, die wir jeden Tag zum Leben brauchen und die uns auf dem Weg in die Zukunft halten, die ganz grosse Hoffnung nur Gott sein kann, der das Ganze umfasst und dem Menschen schenken kann, was er allein nicht zu geben vermag. Papst Benedikt XVI. hat deshalb in seiner Enzyklika über die christliche Hoffnung „Spe salvi“ mit eindringlichen Worten betont, „dass, wer Gott nicht kennt, zwar vielerlei Hoffnung haben kann, aber im Letzten ohne Hoffnung, ohne die grosse, das ganze Leben tragende Hoffnung ist“. Denn „die wahre, die grosse und durch alle Brüche hindurch tragende Hoffnung des Menschen kann nur Gott sein – der Gott, der uns , (vgl. Joh 13, 1 und 19, 30) geliebt hat und liebt.“
Wir Menschen brauchen Gott, sonst sind wir hoffnungslos. Damit wird deutlich, dass die christliche Hoffnung auf das ewige Leben radikal Ernst mit dem Glauben an Gott macht. Denn wiederum: Was wäre dies denn für ein Gott, der Jesus, seinen geliebten Sohn, der die grenzenlose Liebe seines Vaters zum Leben von uns Menschen verkündet hat, im Tod gelassen hätte? Was wäre dies für ein Gott, der die Glaubenden, die seinem Sohn nachgefolgt sind und seiner Verheissung des Lebens in Fülle vertraut haben, die Erfüllung ihrer Hoffnung vorenthalten würde? Und was wäre dies für ein Gott, der den Menschen nur zeit ihres relativ kurzen Lebens auf der Erde die Treue halten, der aber vor ihrem Sarg kapitulieren und bei ihrem Sterben die Treue aufkündigen würde? Der im christlichen Glauben offenbare Gott aber stellt seine Treue auch und gerade über das menschliche Grab hinaus unter Tatbeweis.
Hoffnung auf Gerechtigkeit und deshalb auf das Gericht
Diese Zuversicht legt uns Jesus vor allem mit dem Gleichnis vom reichen Prasser und armen Lazarus ans Herz. Und er bringt uns Gott nahe, der letztlich allein Gerechtigkeit herstellen kann, weil es ohne ewiges Leben keine letzte Gerechtigkeit geben kann. Diese Überzeugung bringt das Gleichnis mit einer ganzen Reihe von scharfen Kontrasten zum Ausdruck: Der reiche Prasser hat keinen Namen, er bleibt anonym und ist einfach der „reiche Mann“; der Arme hingegen hat einen Namen, und zwar einen bedeutungsvollen; denn Lazarus ist die Abkürzung für Eleasar, was bedeutet „Gott hilft ihm“. Ein zweiter scharfer Kontrast besteht darin, dass der Tod des Reichen äusserst nüchtern beschrieben wird: der Reiche „starb und wurde begraben“; demgegenüber wird das Sterben des armen Lazarus sehr feierlich gedeutet: „Der Arme starb und wurde von den Engeln in Abrahams Schoss getragen“, bei dem er als Ehrengast weilen darf. Schärfer könnte der Kontrast nicht mehr gezeigt werden: Lazarus ist „Teilnehmer an dem nie endenden Festmahl des Reiches Gottes und darf als Ehrengast gegenüber Abraham zu Tische liegen. An den Festbanketten des Reichen durfte er nicht teilnehmen – jetzt hat er den Ehrenplatz bei Abraham.“
Mit diesen und anderen scharfen Kontrasten zeigt Jesus, dass er kompromisslos auf der Seite des armen Lazarus steht und dass derjenige, der in den Augen der Menschen nichts wert ist, in seinen Augen äusserst wertvoll ist. Diese Gerechtigkeit Gottes kann aber nur zum Tragen kommen, wenn es ein ewiges Leben gibt. Weil nur Gott Gerechtigkeit schaffen kann, ist auch und gerade der Glaube an ein letztes Gericht eine tröstliche Hoffnung. Papst Benedikt XVI. hat sehr hellsichtig darauf hingewiesen, dass die Frage der Gerechtigkeit das eigentliche und das stärkste Argument für den Glauben an das ewige Leben ist: „Das bloss individuelle Bedürfnis nach einer Erfüllung, die uns in diesem Leben versagt ist, nach der Unsterblichkeit der Liebe, auf die wir warten, ist gewiss ein wichtiger Grund zu glauben, dass der Mensch auf Ewigkeit hin angelegt ist, aber nur im Verein mit der Unmöglichkeit, dass das Unrecht der Geschichte das letzte Wort sei, wird die Notwendigkeit des wiederkehrenden Christus und des neuen Lebens vollends einsichtig.“
Jenseitshoffnung und Diesseitsverantwortung
(Die Geschichte geht unten weiter)
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Gott allein kann Gerechtigkeit schaffen: dies ist die innerste Mitte der christlichen Hoffnung auf das ewige Leben. Diese Hoffnung will bereits in unserem jetzigen Leben Konsequenzen haben. Denn die Hoffnung auf das ewige Leben ist keine Vertröstung auf ein besseres Jenseits, sondern Einladung zur Umkehr bereits im jetzigen Leben. Auch diese Botschaft will uns das Gleichnis nahe bringen: Der reiche Prasser bittet Abraham, er solle Lazarus zu seinen fünf Brüdern senden, um sie zu „warnen, damit nicht auch sie an diesen Ort der Qual kommen“. Da es unser gegenwärtiges Leben ist, das ins ewige Leben hinein verwandelt werden wird, führt die christliche Hoffnung auf das ewige Leben von selbst zur Umkehr und Neuausrichtung im jetzigen Leben.
Auch diese Herausforderung ist in der Lebensweisheit von Antoine de Saint-Exupéry enthalten: Wenn man ein Schiff bauen will, ist es zwar besser, in den Menschen die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer zu wecken, statt Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen. Auf der anderen Seite aber werden die Menschen, sobald die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer in ihnen geweckt ist, unverzüglich an die Arbeit gehen und das geplante Schiff bauen. Genauso wenig trübt die christliche Hoffnung auf das ewige Leben bei Gott den Blick für das gegenwärtige irdische Leben und seine Herausforderungen, sondern schenkt Orientierung und Kraft, uns für mehr Gerechtigkeit unter den Menschen in der heutigen Gesellschaft einzusetzen, wie dies vor uns viele Christen getan haben.
Ich denke beispielsweise an Mönchs- und andere Ordensgemeinschaften, die sich nach der Heimat im ewigen Leben gesehnt und deshalb ihre irdische Heimat verlassen haben, um als Fremde in fremden Ländern Christus zu suchen und zu bezeugen, und die gerade auf diesem Weg zu bedeutenden Zivilisatoren und Kultivatoren in der europäischen Landschaft geworden sind, wie dies im geistlichen Leitmotiv des heiligen Benedikt exemplarisch zum Ausdruck kommt: „Ora et labora“. In der gleichen Weise erwächst aus der christlichen Hoffnung auf das ewige Leben die wirkliche Diesseitsverantwortung der christlichen Liebe für die Menschen und die Vermenschlichung der Gesellschaft; und ebenso erwächst echte Diesseitshoffnung nur aus der Jenseitsverantwortung, wie Paulus seinem Schüler Timotheus zumutet: „Erfülle deinen Auftrag rein und ohne Tadel, bis zum Erscheinen Jesu Christi, unseres Herrn“ (1 Tim 6, 14).
Die Liebe zu den Menschen ist die glaubwürdige christliche Antwort auf jene Liebe, die Gott selbst ist und an der er uns endgültig Anteil geben wird, wenn er uns das ewige Leben schenkt. Damit berühren wir die innerste Perspektive der christlichen Hoffnung auf das Leben über den Tod hinaus. Der Inbegriff des ewigen Lebens ist Gott selbst, wie dies der bedeutende Schweizer Theologe Hans Urs von Balthasar in der berühmt gewordenen Kurzformel verdichtet hat: „Gott ist das des Geschöpfs. Er ist als Gewonnener Himmel, als Verlorener Hölle, als Prüfender Gericht, als Reinigender Fegefeuer.“ Christliches Leben besteht im Kern darin, so zu leben und darum zu beten, dass wir Gott als Gewonnenen in Ewigkeit erfahren werden und dass Leben nach dem Tod für uns bedeuten wird: ewig bei Gott und in seiner Liebe geborgen sein.
Wenn ewiges Leben heisst, ewig bei Gott sein und sein unerforschliches Geheimnis in der Gemeinschaft der Heiligen bestaunen, dann kann es keine bessere Vorbereitung auf das ewige Leben geben als die, schon jetzt konsequent mit Gott zu leben und sich seinem liebenden Gerichtsblick – im Gebet und im Beichtsakrament - immer wieder neu auszusetzen, um in uns die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer des ewigen Lebens bei Gott wach zu halten und, wenn nötig, neu zu wecken. Das Gleichnis vom reichen Prasser und armen Lazarus lädt uns dazu ein: Im hoffnungsvollen Vorblick auf das ewige Leben im „Schoss Abrahams“ bereits jetzt in der Gegenwart Gottes und in der Liebe zu den Menschen leben. Dann leuchtet von selbst ein, dass der christliche Glaube nur mit der Hoffnung auf das ewige Leben in seiner Mitte wirklich im Lot ist.
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