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Viel schwieriger als dagegen zu handeln, ist zuerst einmal dagegen zu denken. Ein Nachruf.

Schilfmeer

Leider bin ich nicht früher zu Professor Spaemann in die Vorlesung gegangen. Ich hatte mich durch einen Kommilitonen beeinflussen lassen, dem er zu „re­aktionär“, vielleicht auch durch andere, denen er zu wenig systematisch und einer Schule zuzurechnen war. Aber nach einigen Semestern fand ich doch noch den Weg in seine Vorlesung, hörte ihn über Leibniz und Whitehead und empfand ihn als Retter in schwe­rer Glaubensnot. Was mich an ihm so aufbaute? Eigentlich weniger etwas Neues, das er sagte, als vielmehr die Bestätigung, daß ich so denken durfte wie ich dachte, und daß man das, was ich dachte, ernsthaft vertreten kann.

Spaemann war eigentlich kein fulminanter Redner. Er redete manchmal eher langsam, bedächtig, stockte auch einmal in seinen Ausführungen. Aber das war in seinem Fall kein Mangel, sondern, im Gegenteil, Ausweis dessen, dass er keine fertigen Textbausteine herunterradelte, son­dern, im Bild gesprochen, statt Fertiggerichten aus der Tiefkühltruhe vor den Augen der Stu­den­ten „kochte“. Man konnte diesem Philosophen beim Denken über die Schulter schauen. Man sah, wie sich die Gedanken entwickelten. Man war, obzwar nur einer von vielen in der Vorlesung, ein Dialogpartner. Denn Spaemann nahm immer Bezug auf ein Gegenüber, das er überzeugen wollte, er nahm immer mögliche Einwände vorweg. Er entwickelte auch keine fertigen Traktate, die er wie eine Mauer Stein um Stein errichtete, sondern kreiste eher wie ein Adler über seiner Beute. Und selten, daß er sie entkommen ließ: Denn er wollte nicht klug daher schwätzen, sondern er suchte die Wahrheit und wollte die Dinge entscheiden.

Doch wenn ich sein Denken charakterisieren soll, ist für mich noch aussagekräftiger das Bild des Amazonas: „Spaemann nach-denken“ war, wie wenn man diesem unglaublich langen und wasserreichen Fluss folgte. Man zog auf dem Wasser dahin bis zur Mündung des nächsten Seitenstroms. Dann musste man sich gedanklich mit dem Hubschrauber zur Quelle des Nebenflusses fliegen lassen, und diesen bis zur Mündung in den Amazonas hinunterfahren. Dann folgte man dem Flusslauf bis zum nächsten Sprung bei der Einmündung des nächsten Seitenflusses.

Doch genug der Beschreibung des Denkstils. Wie Spaemann war und was er uns zu sagen hatte und hat, dazu will ich aus meinem eigenen Leben etwas beisteuern, das sonst in der Welt nicht bekannt ist: Ich habe Prof. Spaemann einmal nach einem Vortrag eine Frage gestellt, die mich sehr beschäftigt hat und auf die ich keine zufriedenstellende Antwort fand. Es ging um ein Ereignis aus der Geschichte  Israels: König Saul kämpfte gegen Israels Erbfeind Amalek. Vor der Schlacht versprach der König, die ganze Beute „dem Untergang zu weihen“. Er errang den Sieg, aber anstatt sein Versprechen gegenüber Gott zu halten, vernichtete er „nur“ das Volk, verschonte aber den besseren Teil der Beute, d.h. die Schafe und Rinder sowie den König der Amalekiter. Für diesen „Frevel“ wurde er vom Propheten und „Königsmacher“ Samuel getadelt. Erst daraufhin erschlug er auch den König. Diese Tat markiert den Beginn von Sauls Abstieg.

 Man kann dieses Ereignis kulturgeschichtlich erklären, gar nicht so schlecht mit der Begründung, daß man einen totalen Krieg nur um der Rettung willen führen dürfe, keinesfalls aber, um Beute zu machen. Dieses Motiv werde durch den „Bann“ ausgeschlossen. Jeder kennt diese apologetischen kulturgeschichtlichen Erklärungen. Die Frage ist nur, ob sie hinreichen.

Denn meine Frage zielte aufs Grundsätzliche. Ich stellte mir vor, was das in der Wirklichkeit heißt: dem Untergang weihen und sah ein grausames, bestialisches Blutbad vor meinen Augen, also etwas, das doch nie und nimmer Gottes Wille sein konnte. Wenn ich es aber durch irgendwelche exegetischen und kulturgeschichtlichen Erklärungen wegeskamotieren  würde, würde ich die Heilige Schrift dem Urteil meiner beschränkten Vernunft unterwerfen und mich zum Herrn darüber erklären, der nach seinen eigenen Vorlieben entscheidet, was ihm an der Bibel gefällt und was nicht. Wie aber steht es um die sittliche Verpflichtung: Wo bin ich wirklich verpflichtet? Ist sie nur menschliche Satzung, den Bedürfnissen der Zeitläufe unterworfen oder gilt sie absolut?

Spaemanns Antwort war so einfach wie direkt. Er redete gar nicht um den Brei herum, verzich­tete auf alle Exegese und kam direkt zum Punkt: „Machen Sie sich um diese Leute keine Sorgen“, sagte er. „Denen geht es jetzt so gut, so gut!“

Was für eine Antwort! Spaemann dachte gar nicht daran, mir eine intellektuell befriedigende Lösung zu bieten, die vor einer exegetischen Prüfungskommission bestehen könnte. Er bemühte noch nicht einmal die von ihm so geliebte Theorie von den zwei Willen Gottes. Aber er traf den Nagel auf den Kopf. Man muß über diese Antwort nachdenken wie über ein Apophthegma der Wüsten­väter: Alles, was wir denken, ist nichts anderes als ein intellektuelles Glasperlenspiel, alles, was wir denken, nichts anderes als ein Lebensvorgang des Gehirns, das Gedanken abscheidet wie die Nebennierenrinde Kortison. Es ist im Grunde gleichgültig, wie wir denken. Es ändert nicht wirklich etwas. Es sei denn, es gibt Gott. Gibt es Gott aber wirklich und lebt der Auferstandene tat­sächlich und nicht nur im Kerygma, dann ist nur von ihm her zu bestimmen, ob eine Tat wie die, die Saul unterlassen hat, richtig war oder falsch. Wir sind nicht die Kammer, die über diesen Fall zu Gericht sitzt.

Alle müssen wir sterben und die Leute sind doch schon so lange tot! Welchen Kulturwissenschaftler kümmert ihr Schicksal im Ernst? Aber vor der Ewigkeit sind diese Leute gleichzeitig. Wenn Gott existiert und wenn er mächtig und zugleich gut ist, dann wird das Schicksal dieser Menschen nicht vergessen sein. Wenn die Amalekiter für das Überleben Israels sterben mussten, dann ist das nicht schön. Dann ist auch der schlußendliche Erfolg Israels keine moralische Rechtfertigung des Königbanns - kaum ein Gedanke hätte Spaemann ferner gelegen als dieser -, aber es begründet die unsägliche Hoffnung, daß sie genauso gerettet sind wie der Gekreuzigte. Wir brauchen uns um diese Leute keine Sorgen zu machen. Sie sind tot - sie sind gerettet!

Robert Spaemann war ein echter Philosoph, da es ihm um die Wahrheit ging. Und die gibt es nur vor Gott. Wahr sind die Dinge so wie sie in den Augen Gottes sind. Alles andere sind Ab­spra­chen und menschliche Übereinkünfte. Er konnte nichts mit Religion als Wohlfühlveranstaltung an­fangen, nichts mit alkoholfreier Religion. Für ihn gab es keine „friedliche Koexistenz“ von Unglaube und Glaube. Nicht, weil er den Frieden nicht geliebt hätte, sondern weil er die Wahr­heit liebte, für die Christus gestorben ist.

Deshalb konnte er sich auch nicht mit der neuen Messe anfreunden, die ja manchmal die Tendenz hat, zu einem erweiterten Stuhlkreis zu werden: Wir bilden einen Kreis und halten uns an den Händen und dann ist Gott da. Spaemann lehnte die neue Messe nicht rundheraus ab. Er sah in ihr nur die Gefahr, daß Gott, der souveräne, wirkliche Gott aus unserem Gesichtskreis verschwindet; daß wir uns nur noch um uns selbst drehen, wo doch unser Glück allein darin bestehen kann, daß wir Gott finden.

Heute hört man gelegentlich etwas selbstkritischere Leute, die sagen, sie wollten nicht über die Vergangenheit richten, sie wüssten ja auch nicht, ob sie in der NS-Zeit den Mut gefunden hätten, gegen das Unrecht aufzustehen und etwas zu sagen oder zu tun. Was kaum einer sich klarmacht ist, daß nur die wenigsten überhaupt auf den Gedanken gekommen wären, daß sie selber auf der Seite des Bösen stehen könnten. Die Bösen - das sind doch die anderen! Viel schwieriger als dagegen zu handeln, ist zuerst einmal dagegen zu denken. Es erfordert eine große Beharrlichkeit, eine gewisse Nüchternheit und eine selbstvergessene Ausrichtung auf die Wahrheit. Spaemann hat vor nicht allzu langer Zeit den Gedanken geäußert, daß das Leben in der heutigen Zeit in dieser Hinsicht nicht unbedingt leichter sei als früher, eher noch schwieriger: Die Frontverläufe sind unklar, du weißt nicht, gegen wen und wann du kämpfen sollst, und am Schlimmsten, du kannst dich auf niemanden mehr verlassen. Mehr als alles andere bewundere ich Robert Spaemann für seine Geradheit, seine Klarheit, seine Festigkeit. Sie machen ihn für mich zu einem heiligmäßigen Bekenner. 

Felix Hornstein ist Gymnasiallehrer in Tegernsee (Oberbayern) und hat bei Robert Spaemann studiert.  

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