17 Mai, 2020 / 2:34 PM
"Ein Europa des Menschen, über dem das Angesicht Gottes leuchtet": Das war der Traum Johannes Paul II. für die Zukunft und ich hätte nie gedacht, noch erleben zu dürfen, wie er einmal wahr würde. Das Antlitz Gottes war das Siegel seines Lebens. "Dein Name entstand in dem Augenblick, in dem dein Herz zum Abbild wurde: zum Bild der Wahrheit." schrieb Karol Wojtyla 1978 in einem Gedicht, in dem er Veronika als Schwester ansprach, die wir aus dem Kreuzweg kennen: "Dein Name entstand aus dem, was du geschaut hast / In der Menge - auf dem Weg zum Ort der letzten Folter / Hast du dich plötzlich nach vorn gedrängt, oder war es schon von Anbeginn? / Doch seit wann? - Sag du es mir, Veronika. / So intensiv war dein Wunsch zu sehen, Schwester / so intensiv dein Wunsch zu fühlen, / dass dein Blick sein Ziel erreichte, ... / Sag also: Ich will nah sein, so nah / Dass keine Leere sich zwischen uns schieben und mich von dir lösen kann. / Dass deine Abwesenheit nie wiederkehrt."
Kurz danach reiste Karol Wojtyla von Krakau nach Rom, verwandelte sich in Johannes Paul II. und stellte sich der Welt mit den Worten vor: "Habt keine Angst! Öffnet, ja reißt die Tore weit auf für Christus!" Ein Heiliger war Papst geworden. 22 Jahre später aber kam er am Karfreitag 2000 beim Kreuzweg am Kolosseum noch einmal auf sein Gedicht von 1978 zurück. "Veronika erscheint in den Evangelien nicht," notierte er zur VI. Station. "Ihr Name wird nicht erwähnt, obwohl die Namen verschiedener Frauen vorkommen, die Jesus begleiten. Ihr Name war vielmehr Ausdruck dessen, was sie getan hat. Der Überlieferung nach bahnte sich auf dem Weg zum Golgatha eine Frau den Weg durch die Eskorte der Soldaten und trocknete den Schweiß und das Blut auf dem Antlitz des Herrn mit einem Tuch, als "Vera Ikon", als wahre Ikone. ... Trifft das zu, dann enthält der Name Veronika ... zugleich die tiefste Wahrheit über sie."
Die Heilige der Volksfrömmigkeit hat, das war dem Seher auf Papstthron klar, wie kein Mensch sonst das Bewusstsein wachgehalten, dass die Christenheit über den Schatz eines "wahren Bildes" Gottes verfügt. So wundert die himmlische Koinzidenz nicht, dass ausgerechnet in jenen Wochen, als Karol Wojtyla noch in Krakau an diesem Gedicht feilte, in Italien in der Zeitschrift GENTE ein Bericht von Renzo Allegri erschien, der so anfing: "Beim Bild vom Antlitz Jesu, das seit fast 500 Jahren in Manoppello in den Abruzzen verehrt wird, handelt es sich um ein geheimnisvolles Bild, das einem außerordentlich dünnen Schleiertuch eingeprägt ist. Die Überlieferung nennt es ‚Schweißtuch Christi‘, womit es jenes Tüchlein bezeichnet, das Jesu Mutter auf das Antlitz ihres Sohnes legte, als er für die Grablegung in das Grabtuch eingeschlagen wurde. Dieser Schleier zeigt aber nicht das Gesicht des gestorbenen Christus mit geschlossenen Augen wie beim Grabtuch, sondern das Antlitz einer lebenden Person mit geöffneten Augen und verheilten Narben: Es scheint das Bild des gerade auferstandenen Christus zu sein . ... Menschlich gesehen, ist es unerklärbar." Mit diesem Bericht war das lange verschollene wahre Bild Christi de facto wiederentdeckt, auch wenn die Nachricht lange nicht geglaubt werden konnte, die nicht in theologischen Seminaren offenbar wurde, sondern in einer Zeitschrift, die in Frisiersalons auslag, als Johannes Paul seinen Petrusdienst antrat. Seine Suche nach Gottes Antlitz durchzog das Leben des Heiligen danach weiter wie ein goldener Faden. Als ich ihm am 6. August 2004 berichtete, dass der Bildschleier des wahren Bildes in einer Kapuzinerkirche in den Abruzzen entdeckt worden sei, war er schon zu schwach geworden, um ihn selbst noch aufzusuchen, doch gab mir seinen Segen für meine weiteren Recherchen und überließ den ersten Besuch in Manoppello seinem Nachfolger, dem tausende von Pilgern in diesen abgelegenen Ort gefolgt sind, wo wir Christi Antlitz so nah vor uns sehen wie Veronika, die sich durch die Menge zu Jesus drängt, um ihm ihr Herz hinzuhalten, dass er sein Gesicht da hineindrückt, nicht mehr voller Blut und Wunden, sondern geheilt, im Aufleuchten seiner Auferstehung, und wo wir Karol Wojtyla noch einmal flüstern hören. "Ich will Dir nah sein, so nah. Dass keine Leere sich zwischen uns schieben und mich von dir lösen kann! Dass deine Abwesenheit nie wiederkehrt!"
Am Gründonnerstag 2003 aber hatte der Dichter auf dem Papstthron in seiner Enzyclica "Ecclesia de Eucharistia” auch schon das »eucharistische Antlitz« Christi entdeckt. Am 15. Oktober 2004 ließ er das letzte Jahr seines langen Pontifikats als "Jahr der Eucharistie" ausrufen. Seine Weihnachtspredigt 2004 widmete er jenem Hymnus, den Thomas von Aquin im Jahr 1264 zur Einführung des Fronleichnamsfestes gedichtet hat und verwandte dessen Eingangsvers mit zittriger Hand in seinem Weihnachtsgruß: "Adoro te devote ". Im März davor aber war ich Zeuge geworden, wie er sich in der Sala Clementina auf deutsch mit schleppender Stimme und Wort für Wort durch eine Rede quälte, in der er von seinem "Traum" erzählte, ", den er "kommenden Generationen anvertrauen" wollte: "ein Europa des Menschen, über dem das Angesicht Gottes leuchtet."
Wie hätte ich da nicht an ihn denken müssen, als Papst Franziskus am Freitag vor der Karwoche so mutterseelenallein über den regennassen und menschenleeren Petersplatz den Vatikanhügel hochhumpelte? Die Stunden sind unvergessen, in denen Johannes Paul denselben Platz am 2. April 2005 zu einer Bühne für seine Kunst des Sterbens machte, mit einer unübersehbaren Menschenmenge unter seinem Fenster. Nun war der Platz menschenleer, als Papst Franziskus ihn in die Bühne für eine Wasserscheide der Geschichte verwandelte, für Millionen von Zeugen ringsum den Globus, alle im gleichen Abstand zu dem Geschehen, in einem Ereignis der zukünftigen Welt.
Johannes Paul, der Michelangelo des Gebets, war darum nicht weit, als Papst Franziskus in der Vorhalle der Basilika schweigend den Kopf vor dem Allerheiligsten senkt. Ein Chor aus dem OFF singt die sieben Strophen des Hymnus "Adoro te devote": "Demütig bete ich dich, verborgene Gottheit, an ..." Franziskus zwinkert. Blaulichter von Streifenwagen zittern durch den Regenvorhang von der Absperrung am Rand des Petersplatzes und spiegeln sich durch das offene Portal in den Strahlen der goldenen Monstranz, mit dem Feuerrot der Flammen eines Feuerbeckens vor der Basilika. Der Papst schweigt, schaut, zwinkert, betet lippenlos in seiner weißen Toga auf einem Lehnstuhl rund fünf Meter vor dem Altar. "Wahrer Gott und wahrer Mensch, wahrhaftig gegenwärtig in diesem Sakrament, wir beten Dich an, o Herr!" beginnt nach zehn Minuten eine Litanei. Der Zeremoniar reicht dem Papst den Text zum Mitbeten: "Vom Unglauben und Zweifel, von der Unfähigkeit zu lieben, befreie uns, o Herr! Vor allen Manipulationen, bewahre uns, o Herr. Sieh auf die Menschheit, die erstarrt ist vor Angst und Beklemmung, tröste uns o Herr! Sieh auf die Sterbenden, die von der Einsamkeit niedergedrückt werden, tröste uns, o Herr." Franziskus bewegt leise seine Lippen mit, zwinkert müde und erschöpft. "In der Zerbrechlichkeit, sende uns deinen Geist, o Herr!" Der Fokus der Kamera tastet sich wie eine Hand über die Figur des Gekreuzigten vor der Basilika. Regen rinnt an seinem nackten Körper hinab, zusammen mit dem Blut der offenen Seitenwunde. "Wenn der Tod uns vernichtet, öffne uns für die Hoffnung, o Herr!" Die Nacht fällt, der Himmel wird dunkler und dunkelblau. Nach einer Ewigkeit erhebt Franziskus sich schwerfällig zum Hymnus des "Tantum ergo", füllt Weihrauch auf die Glut eines Weihrauchfasses, räuchert das "Sakrament der Liebe Gottes" dreimal ein wie ein alter Dorfpfarrer, verbeugt sich, und liest den Text eines Segensgebetes mit seinem weichen Italienisch, dem seit seiner Jugend ein Lungenflügel fehlt. Monsignor Marini legt ihm eine Segensstola um. Pater Bruno aus der Vatikanpfarrei reicht ihm die Monstranz vom Altar in seine verhüllten Hände. Franziskus wankt mit der goldenden Last zu der offenen Pforte der Grabeskirche des Apostels Petrus. Eine Brokatstickerei zeichnet auf dem Rücken seiner Segensstola das Zeichen der Monstranz nach, die er nun in die Höhe hebt, mit dem Namensmonogramm Jesu in der Mitte, wo in dem Segensinstrument in seinen Händen die verwandelte Hostie ruht. Wind bläht die Stola und sein Gewand, Roms Glocken beginnen zu läuten, die Blaulichter vom Rand der Piazza flackern weiter zu ihm hoch. In der Ferne springt eine Ampel von Grün auf Rot, Möwen fliegen hin und her um den Schatten des Obelisken auf dem regennassen Petersplatz. Es gießt und schüttet, als der Pontifex in der Pforte des Petersdoms die Stadt Rom, Europa und den Erdkreis gegen das Dunkel stumm und dreimal mit dem "eucharistischen Antlitz" Gottes segnet, leuchtend.
Das Buch "Johannes Paul II. und die Kunst des Sterbens" von Paul Badde ist im Fe-Medienverlag erschienen und hat 208 Seiten.
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