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Kommentar: Die Furcht des Herrn – Eine vergessene Tugend

Ausschnitt der Darstellung des jüngsten Gerichts von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle. Es wurde 1541 fertiggestellt.

Das gewaltige Fresko des Jüngsten Gerichts beeindruckt jeden, ob gläubiger Christ, gleichgültiger Tourist oder kulturinteressierter Atheist. Die Wucht dieses Bildes kann Angst machen – und das soll sie auch.

Vor dem Weltenrichter, der Gute und Böse, Schafe und Böcke für immer scheidet, müssen die Kardinäle nach bestem Gewissen einen Papst wählen, und dabei sollen sie durchaus mit zitternder Hand ihren Wahlzettel abgeben. Doch es geht nicht um "Höllenfurcht". Es geht um die Anerkennung, dass Christus der Herr der Geschichte und meines kurzen Lebens ist, der mich liebt und auf meine Liebe wartet. Die im Alten Testament viel besungene Furcht des Herrn, über die heute kaum mehr geschrieben und gepredigt wird – "Vorsicht! Heißes Eisen" –  ist keine Drohbotschaft, sondern Grund einer größeren Freiheit. Ich fürchte nichts und niemanden, nur den Herrn. Er allein ist mein Richter. Und wenn ich ihn fürchte, so nicht wie ein Dieb den Polizisten, sondern wie der Mann, der  seiner Geliebten Freude bereiten will und nur darum besorgt ist, er könne ihr nicht gefallen. Furcht des Herrn heißt dann, bis über beide Ohren verliebt zu sein und sich Gottes nicht zu schämen.

Am besten lernt man die "Furcht des Herrn" von verliebten Teenagern. Was da vor allem durch Hormone bewirkt wird, tut auch Gottes Gnade in uns, wenn wir beginnen ihn zu lieben oder, besser gesagt, erkennen, dass er uns liebt. Tag und Nacht denken Verliebte aneinander und können unruhig sein, wenn ein "I love you smiley" zu spät beantwortet wird. Sie sind manchmal geradezu skrupulös in Sorge, dem anderen zu gefallen und Freude zu bereiten. Wenn es um die geliebte Person geht, vergessen sie Schule und Elternhaus. Sie fürchten nichts und niemanden, ausser den Verlust des anderen. Teenagerliebe muss reifen, aber es tut den braven, gut bürgerlichen Sonntagschristen gut, auf diese Begeisterung zu blicken, die die Alten timor Domini – oder Furcht des Herrn genannt haben. Nichts ist wichtiger, Herr, als Deine Liebe und Deine Ehre – und davon will ich immer mehr; nichts Anderes. Wer mit 75 Jahren so betet, hat immer noch das schnell schlagende Herz eines verliebten Teenagers.

Wer das Fresko des Jüngsten Gerichts genauer anschaut entdeckt, dass viele seiner Details von dieser heiligen Furcht des Herrn sprechen, die in Wahrheit Liebe ist. Aber an diesem Punkt, macht es einen Unterschied, wer das Kunstwerk betrachtet.

Der Atheist be-wundert ein Meisterwerk und wundert sich, über den christlichen Mythos von der Wiederkunft Christi. Ist er ein großer, feinsinniger Kunstliebhaber, bekommt er vielleicht eine leichte Gänsehaut ob des Genies Michelangelos, aber sicher keine "Furcht des Herrn". Der Tourist ist beeindruckt endlich selbst zu sehen, was in allen Reiseführern steht und macht Selfies, die er dann herzeigen kann: Schau, da bin ich auch schon gewesen! Er erkennt – auch dank seines früheren Religionsunterrichts – Jesus in der Mitte. Bei der Frau an dessen Seite, die ohne Kind auf dem Arm nicht sicher als die Mutter Gottes zu identifizieren ist, denkt er, es könne ja auch Maria Magdalena sein, von der Dan Browns Roman als der heimlichen Geliebten Jesu spricht, die am Jüngsten Tag buchstäblich der Weltöffentlichkeit vorgestellt wird. Schlauer Gedanke! Beim Blick auf die Hölle sagt er zu seiner Frau "Gell, Schatz, da kommen wir zwei Mal nicht hin." Furcht des Herrn? Nein, vielleicht nicht einmal ein leichtes Gruseln, aber doch sehr viel Stolz auf die eigene Bildung. Und dann geht’s schon weiter mit den Massen hinaus in die Vatikanischen Museen. Was aber sieht der Gläubige, wenn er das Weltgericht betrachtet?

Mit Haut und Haaren lieben

Beeindruckend, auch für Jugendliche, denen man zum ersten Mal das Jüngste Gericht erklärt, ist ein Detail: die Darstellung eines Apostels, der – Zeichen seines heldenhaften Martyriums – seine ihm vom Leib gerissene Haut über dem Arm trägt. Es ist der heilige Bartholomäus, und sein Anblick kann tatsächlich ein leichtes Schaudern hervorrufen. Bartholomäus war bis über beide Ohren in Jesus verliebt – deswegen hat man sie ihm abgeschnitten.

Der Christ, der den Blutzeugen mit seiner von Körper und Schädel abgezogenen Haut, die er in Händen hält, betrachtet, sieht nicht nur das Opfer einer unmenschlichen Folter, sondern die Liebe des Jüngers für seinen Herrn: Dieser Mann hatte das Leiden der Verleugnung seines Freundes vorgezogen. Und er hatte riesige Angst. Nicht vor seinen Henkern, die vor ihm standen, und auch nicht vor der Hölle, von der er wusste, dass es sie gibt, und die direkt unter seiner Darstellung in der Sixtina zu sehen ist. Nein, er hatte Angst, Jesus die Treue zu brechen.

Das ist die Liebe der Heiligen: Sie wollen buchstäblich nicht ihre eigene Haut retten, sondern Christus angehören – koste es was es wolle! Das ist die Furcht des Herrn. Das ist keine kriechende Angst, sondern aufrechte Freiheit, die nichts und niemand fürchtet außer Gott. Vom heiligen Bartholomäus, auch Nathanael genannt, sagt Jesus: "Ein Mann ohne Falschheit". Bartholomäus ist ein "echter Israelit" – aus diesem guten Holz wird der Herr einen Heiligen schnitzen. Jesus verspricht es ihm: "Du wirst noch Größeres sehen!". Und Bartholomäus glaubt, lässt den Herrn handeln, geht den ganzen Weg der Nachfolge, lässt sich umgestalten – schnitzen, hobeln, feilen – ja, die Haut vom Leib ziehen, bis er wie der hl. Paulus sagen kann: "Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir!"

Was ist mir Jesus wert?

Michelangelos Jüngstes Gericht ist ein vielfarbiges Bild der rechten "Furcht des Herrn" weniger mit Angst, sondern vielmehr mit Respekt und Liebe zu tun hat. Viele Christen haben Angst vor der Hölle, aber fürchten Jesus nicht, d.h. sie vermeiden wohl die Sünde, aber sie zeigen wenig Respekt, wenig Liebe, wenig Aufmerksamkeit für den Herrn. Unter dem Blick des Polizisten und unter dem des Vaters meidet jeder Sünde und Verbrechen. Wie unterschiedlich ist aber die Motivation: für ersteren tue ich nichts aus Liebe, sondern nur des Gesetzes wegen; für den anderen tue ich alles, was er möchte, weil er mich liebt; ja, ich tue mehr als verlangt, um ihm Freude zu bereiten. Manchmal hilft der Gedanke an "die letzten Dinge": Tod und Gericht, Himmel oder Hölle um sich aus einer immer wieder breitmachenden Trägheit zu befreien – wie bei einer kalten Dusche, die aufweckt. Auf Dauer aber wächst das geistliche Leben so nicht, sondern mit zu vielen kalten Duschen, um im Bild zu bleiben, verschnupft man sich nur und kommt nicht weiter. Das ist keine Verharmlosung der Sünde, im Gegenteil: Werde ich "auf frischer Tat" ertappt, schäme ich mich vielleicht noch vor dem "Hüter des Gesetzes", aber mehr doch nicht. Vor meinem Vater oder meiner Verlobten spüre ich mehr und heftiger, wie wenig ich der Liebe gerecht geworden bin.

Wo die gesunde Furcht des Herrn fehlt, fehlen oft Liebe und wahre Freiheit, da fehlt das Große, das aus Knechten Kinder Gottes macht. Wer bereit ist, seine Haut zu riskieren, der wird dieses Größere finden und staunend schauen, was Gott denen bereitet, die ihn lieben. Dann bedeuten die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll (Röm 8, 18) und deren Anfang Michelangelos Fresko zeigt.

Mit Haut und Haaren lieben

Was würde ich tun, wäre ich in den Händen von IS-Terroristen, die mir die Kehle durchschneiden, wenn ich mich nicht zum Koran bekenne? Ich hoffe, ich kann dann den liebevollen Blick des Vaters finden, der mir hilft. Ein extremer Fall, und doch bereits an vielen Orten, nur wenige Flugstunden von uns entfernt, blutige Realität. Und die vielen kleinen Herausforderungen im Alltag: Rette ich da mein Gesicht vor Kollegen und Freunden, weil sie an meiner frommen Fassade kratzen und mich provozieren wollen? Bartholomäus hat das ganze Gesicht, mit Haut und Haaren, verloren, weil die Liebe in ihm stärker war als die Furcht vor den anderen. Was fürchte ich denn wirklich: das Kopfschütteln meiner Mitmenschen oder den traurigen Blick des Vaters?

Unsere Zeit, unsere Kirche braucht Heilige, die andere retten, weil sie nicht darauf aus sind, ihre eigene Haut zu retten – Männer und Frauen ohne Falschheit, ohne faule Kompromisse, ohne trügerische Illusionen über die Kirche – Jünger Jesu, die den Himmel offen sehen und "nur" Augen für Jesus haben. Davon spricht das Weltgericht, in dessen Mitte Christus steht. Für ihn gilt es, "die eigene Haut zu riskieren?" Wie oft sagen wir: "Ich kann ja nicht aus meiner Haut", um unsere Schwachheit und Mittelmäßigkeit zu verteidigen. Na ja, dann lassen wir den Herrn an uns "operieren". Diese Schönheits-OP mag schmerzen, aber Christus kann aus uns Menschen nach seinem Bild formen. Er kann bewirken, dass wir ihn mit "Haut und Haar" lieben, allein ihn fürchten und darum "ihm furchtlos dienen in Heiligkeit und Gerechtigkeit"(Lk 1, 73).

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