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"Jesus Christus sprengt Systeme"

Jesus und die Ehebrecherin von Wassili Dmitrijewitsch Polenow (1844–1972)

Jesus Christus passt nicht einfach in menschliche Systeme. Er passte damals nicht in das religiös-ethische System der Pharisäer, und er passt wohl auch heute nicht ins gesellschaftliche System. Er sprengt Systeme. Weil er eine von Gott entfremdete Welt wieder Gott zuwenden will, stört er das laufende System immer. Die Folge: Wer zu Jesus hält, passt auch nicht ins jeweilige gesellschaftliche System.

Ich möchte versuchen, zu erklären, was ich damit meine, und was wir für Schlussfolgerungen daraus ziehen sollten.

Die Pharisäer in Jerusalem wollen Jesus reinlegen, um ihn anklagen zu können. Er hatte sich immer wieder mit sogenannten Sündern zusammengesetzt. Er hatte auch ausdrücklich erklärt, er sei genau zu den Sündern gekommen. Es ginge ihm darum, die Sünder von ihren Wegen abzubringen. Nun haben die Pharisäer einen konkreten Fall: Eine Frau wurde erwischt, wie sie es mit einem fremden Mann hatte, der nicht ihr Mann war. Eine solche Frau sollte nach ihren Vorstellungen gesteinigt werden. Es geht den Pharisäern nicht um die Sünde. Es geht ihn darum, Jesus anklagen zu können. Jesus reagiert anders als sie es sich vorgestellt hatten. Er sagt: Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf die Frau. Jesus sagt nicht, der Ehebruch sei nicht so schlimm. Er sagt auch nicht, sie sollten die Frau steinigen. Er sagt etwas, was sie so nicht erwartet hatten. Er sagt: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Und weiter: Dann verurteile auch ich dich nicht, sündige nicht mehr. Jesus passt nicht ins System.

Ich vermute: Jesus passt auch heute nicht ins gesellschaftliche System, in das Denken, Urteilen, Leben der Menschen?

Da wir heute die Trennung von Kirche und Staat haben, sieht die Frage anders aus. Religion gilt als Privatsache. Da Gott offiziell nicht über dem Staat ausgerufen ist, spielt auch Sünde für den Staat keine Rolle. Für den Staat gilt nur Rechtsverletzung. Glaube und Sünde sind Privatsache geworden. Daran ist einiges richtig, einiges falsch.

Zunächst darf man feststellen: Wir haben im Vergleich zu damals eine wirklich gut ausgearbeitete Rechtsordnung. Zunächst gilt die Unschuldsvermutung. Ein Verbrechen oder eine Schuld muss nachgewiesen werden. Richter dürfen nicht davon ausgehen, dass der Angeklagte schuldig ist. Die Schuld muss bewiesen werden. Dann haben wir eine wunderbare gesellschaftliche Anerkennung der Menschenrechte. Diese setzt die Menschenwürde voraus. Und Menschenwürde ruht auf der Überzeugung von der Würde des Menschen, dass der Mensch ein Geschöpf Gottes ist.

Weil der Mensch aber Rechte hat, muss jeder Mensch auch Respekt vor den Rechten des anderen haben. Jeder muss das Recht des Anderen respektieren. Man nennt das meistens auch Pflichten. Aber das Wort Respekt klingt modern schöner.

Die europäische Kultur hat die Ordnung des Respekts weitgehend von Moses. Ich nenne die zehn Gebote gerne Normen des Respekts. Respekt vor der Wahrheit – du sollst nicht lügen. Respekt vor dem Eigentum, - du sollst nicht stehlen. Respekt vor dem Leben – du sollst nicht töten. Respekt vor der Ehe – du sollst nicht ehebrechen. Respekt vor dem Schöpfer – du sollst den Herrn, deinen Gott anbeten und keine fremden Götter neben ihm haben.

Ich erlaube mir die Diagnose: Heute steht es in den Wohlstandsländern mit dem Respekt nicht bestens. Wir unterstreichen sehr unsere Rechte. Seit neustem haben wir den Respekt vor der Schöpfung entdeckt. Und in allerletzter Zeit den Respekt vor dem homosexuell orientierten Menschen. Aber haben wir genügend Respekt vor dem Leben, der Wahrheit, der Ehe, vor dem Schöpfer? Haben wir so viel Respekt vor dem werdenden Leben, vor der Ehe des anderen, vor der Wahrheit wie vor der Schöpfung, der Umwelt, der Natur, dem Kosmos. Aber wir fanden zu diesem Respekt zurück, weil wir erkannt haben, was Respektlosigkeit vor der Natur oder Ausbeutung hervorbringt.

Hinter der Betonung des Rechts steht das Ich. Ich habe Rechte. Aber wenn das Ich nicht ausgeglichen wird durch die Zuwendung zum Du, dann wird das Leben einseitig, schief. Ich muss das Du respektieren, den Anderen respektieren. Ja ich soll ihn sogar ebenso ernst nehmen wie mich selbst. Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst.

Die Nichtrespektierung der Normen des Moses heißt Sünde. Und Sünde ist bei uns gesellschaftlich ein Unwort geworden. Wir vermeiden das Wort Sünde. Es gibt fast nur noch Umweltsünden. Sünde im Allgemeinen erinnert an alte Zeiten, an Zeiten der Unterdrückung, des mangelnden Respekts vor der Freiheit des Menschen.

Für Jesus ist Ehebruch eine Sünde, eine schwere Sünde. Im heutigen Evangelium setzt Jesus dieses Gebot nicht außer Kraft, sondern sagt nur, wie die Anklagenden umgehen sollen. Sie dürfen sich nicht als bessere Menschen verstehen. Wir sollen die Normen hochschätzen, aber sie auch für uns selbst anwenden und nicht nur für die anderen.

Ich denke: Die Anwendung des Evangeliums auf unsere Zeit, heißt vor allem Respektierung des Rechts auf Leben. Das gilt nicht nur für den ungeborenen Menschen im Mutterleib. Das gilt auch für den Menschen, der im Krieg umkommt, für den Menschen, der an Hunger stirbt, der auf der Flucht ist. Wenn wir nur den Angreifer kritisieren oder die Wirtschaft kritisieren wie die Pharisäer die Ehebrecherin kritisiert haben, dann tun wir zu wenig. Es geht um die Zuwendung zum Nächsten in allen Situationen, auch die Zuwendung zum Sünder. Keiner werfe den ersten Stein. Amen

Pater Eberhard von Gemmingen SJ war von 1982 bis 2009 Redaktionsleiter der deutschen Sektion von Radio Vatikan.

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