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Die Aachener Heiligtumsfahrt: Ein Public Viewing der Heilsgeschichte

Das Lendentuch Christi
Der Aachener Dom
Tuch der Enthauptung des heiligen Johannes des Täufers
Das Heiligtum des Marienkleides, bei der Komplet zur Heiligtumsfahrt 2023.

Seit mehr als einem halben Jahrtausend werden bei der Aachener Heiligtumsfahrt besondere Reliquien öffentlich gezeigt. Warum gerade sie ein wichtiges Zeichen in einer Zeit sind, die sich mit der Realität schwertut, erklärt der Aachener Priester und promovierte Philosoph Guido Rodheudt in diesem Beitrag für Corrigenda, den CNA Deutsch mit freundlicher Genehmigung veröffentlicht.

Unter den vielen Bereichen des menschlichen Lebens, die in der Corona-Zeit auf Eis gelegt waren, hat sich unter anderem das Public Viewing als offenbar resistent erwiesen. Trotz aller Propaganda, wie gesund und nützlich es doch ist, zu Hause zu bleiben und gemeinsame Zusammenkünfte für unzeitgemäß zu halten, so sehr spüren wir derzeit, wie es die Menschen wieder nach draußen drängt – auf die Straßen und Plätze, in die Stadien und an andere Orte der Kommunikation.

Dazu gehören auch Versammlungen, bei denen man gemeinsam auf einen Bildschirm oder auf eine Leinwand schaut, um etwas live zu verfolgen, vor allem von Fußballspielen oder Konzertveranstaltungen.

Vor einer guten Woche war auch ich bei einem Public Viewing. Allerdings nicht als Zeuge eines Fußballspiels, sondern als Teilnehmer an der Eröffnungsfeier der Aachener Heiligtumsfahrt. Man kann sie wohl mit Fug und Recht als eines der ersten herausragenden Public Viewings der Geschichte bezeichnen. Denn seit dem 14. Jahrhundert werden in Aachen besondere Reliquien öffentlich gezeigt, anfangs sogar von den Galerien des Domes, der einst die Pfalzkapelle Karls des Großen war.

Die Windeln Jesu. (Domkapitel Aachen / Angelika Kamlage)

Er hatte aus Byzanz eine Schenkung bekommen, die ihm wertvoller war als alles Gold der Welt: Das Kleid der Muttergottes, das sie in der Heiligen Nacht getragen haben soll, die Windel des Jesuskindes, das Enthauptungstuch Johannes des Täufers und das Lendentuch Christi, das ihn am Kreuz unmittelbar vor seinem Tod umhüllte, wurden gemeinsam und zu gleicher Zeit über Jahrhunderte hinweg von tausenden Pilgern aus aller Herren Länder bestaunt, als man sie über den Köpfen der Menge emporhob.

Ein nüchternes Gefühl für Realität bewahrt

Bis heute werden sie in einem traditionellen Ritus alle sieben Jahre in Aachen dem Marienschrein entnommen. Seit dem Mittelalter bis in die 1980er Jahre hat man sie etwa zehn Tage lang auf den eigens dafür eingerichteten Galerien des Münsters öffentlich vor einer großen Zuschauermenge gezeigt. Heute sind sie in der Chorhalle des Münsters hinter Glas zu sehen und täglich zweimal auf einem öffentlichen Platz bei den Pilgergottesdiensten.

Das gemeinsame Staunen war über Jahrhunderte hinweg der Magnet, der Pilger aus allen deutschen Landen, aus den benachbarten Regionen des heutigen Belgien und den Niederlanden, aber auch aus Italien, Spanien, Frankreich und ganz besonders treu und tapfer aus Ungarn nach Aachen kommen ließ – beschwerlich, unter großen Gefahren und in aller Regel zu Fuß.

Denn damals waren diese speziellen Public Viewings nicht in erster Linie ein bloßes religiöses Gemeinschaftsgefühl, das die Menschen nach Aachen geführt hat – trotz der beeindruckenden Vorführung vor großen Menschenmassen. Was die Menschen in der Vergangenheit motivierte, waren die Gegenstände der Verehrung.

Aachener Pilgerzeichen um 1330 (Nachguss 1979) mit Ösen zur Befestigung an der Kleidung. (Wikimedia / (CC BY-SA 3.0))

Also jene Reliquien, die Kaiser Karl in einer Zeit erhalten hatte, die noch nicht von der Sucht nach Virtualität und Digitalität geprägt war und die sich deswegen ein nüchternes Gefühl für Realität bewahrt hatte. Die Tücher wurden als das wahrgenommen, was sie sind: stoffliche – und das heißt greifbare – Hinterlassenschaften aus der Heilsgeschichte. Für Karl ein Traum, sie an der Stätte seiner auserwählten Pfalz in Aachen zu haben.

Die Anfassbarkeit des Göttlichen – alles andere wäre Betrug

Damals wie heute sind Gegenstände wertvoll, die an etwas greifbar erinnern, besonders, wenn sie an Menschen erinnern, die schon gestorben sind. Dann sind sie denen, die sie verehren, „heilig“, wie man sagt, denn in und an ihnen ist das gegenwärtig, was sonst nicht so oder nicht mehr greifbar ist.

Im Falle der Aachener Heiligtümer weist die Überlieferung die Tücher als Reliquien aus, die vom Ort der Auferstehung des Herrn nach Aachen gekommen sind. Sie sprechen von der Realität des Lebens und Sterbens Jesu Christi. Aber nicht nur symbolisch. Denn man erwartet von solchen Hinterlassenschaften, dass sie einem etwas zeigen, was etwas Nachgemachtes nicht zeigen kann: die Anfassbarkeit des Göttlichen. Alles andere wäre – nicht nur für einen mittelalterlichen Menschen – Betrug.

Ein Mantel von Konrad Adenauer, von dem man mir erzählt, es sei in Wahrheit irgendein auf einem belgischen Trödelmarkt erworbener Mantel aus den 1950ern, den Konrad Adenauer folglich mit Sicherheit nie getragen hat, gehört in die Altkleidersammlung oder bestenfalls ins Textilmuseum, aber keinesfalls in die Ausstellung im Konrad-Adenauer-Haus als „Adenauers Mantel“.

Ich brauche dort keine Vorstellung von der Mode, die man damals getragen hat. Ich will das Kleidungsstück sehen, in dem Adenauer nach Russland gefahren ist, um die letzten Gefangenen des Zweiten Weltkriegs auszulösen, oder den Füller, mit dem der Vertrag gezeichnet wurde und mit dessen Tinte Geschichte geschrieben wurde.

Bei den Aachener Heiligtümern hat die Wissenschaft indes bis heute kein einziges schlüssiges Argument dafür finden können, dass die historischen Quellen und die Überlieferung falschliegen, wenn sie sagen, dass es sich bei den antiken Stoffen, die die Aachener Tücher nachweislich sind, nicht um das handelt, was ihre Namen sagen: Stoffe, die Jesus Christus, Seine Mutter Maria und Johannes der Täufer berührt haben.

Ein Manifest der stofflichen Nähe Gottes

Und dass deswegen das heute übliche Marginalisieren der Frage ihrer Echtheit töricht ist. Wie bei der juristischen Unschuldsvermutung, bei der man die Unschuld eines Menschen so lange annimmt, solange man seine Schuld nicht nachweisen kann, gilt auch für die Aachener Heiligtümer die Vermutung, dass sie nicht lügen, sondern man in ihnen etwas von der Realität der Heilsgeschichte sehen und berühren kann, wie ihre Überlieferung behauptet. Hier wird aus dem Public Viewing der Aachenfahrt etwas durchaus Brisantes.

Denn es geht – auch wenn das in der Gestaltung der derzeitigen Aachener Heiligtumsfahrt weit nach hinten geschoben wird – um ein Manifest der stofflichen Nähe Gottes. In der Begegnung mit den stofflichen Tüchern geht es um den Glauben an einen Gott, der irdisch geworden ist, real geboren und gekreuzigt und dessen Glaubenszeugen reales Blut für Ihn vergossen haben.

Für unsere Zeit liegt darin eine wichtige Botschaft. Die Tücher von Aachen erinnern daran, dass Gott nicht im Kopf entsteht, sondern dass er da ist und real und wirksam die Menschen berühren will und ihnen zu Herzen gehen will wie ein gefühlter Händedruck, der mehr an Realität transportieren kann als jedes Gedankenexperiment.

Von daher gewinnt auch das mittelalterliche Public Viewing – das öffentliche Zeigen der Hüllen der Menschwerdung Gottes – seinen Sinn. Denn das gemeinschaftliche Zusammenkommen und Anschauen betont den Wert des gemeinsam Geglaubten. Wenn diese Gemeinsamkeit fehlt, verliert auch die Show ihren Sinn. Fußballfans wären beispielsweise zu Recht enttäuscht, wenn man sie zum Public Viewing Manchester City gegen Inter Mailand einladen würde und ihnen stattdessen „Kochen mit Martina und Moritz“ zeigen würde.

Andenkenkarte an die Heligtumsfahrt 1909 mit Darstellung der Aachener Heiligtümer und des Aachener Domes (CC0)

Man darf also wohl mit Fug und Recht auch von der Aachener Heiligtumsfahrt erwarten, dass sich die Mühe lohnt, sich auf den Pilgerweg zu machen, weil man dort etwas findet, was real ist und nicht nur symbolisch. Und das einen spüren lässt, dass auch Gott real ist und seine Erlösung ebenfalls real und nicht bloß symbolisch. Dass man berechtigterweise Gänsehaut entwickeln darf beim Anblick des gut erhaltenen Kleides der Gottesmutter, angesichts der derben und ungemütlichen Windel des Jesuskindes, angesichts der Blutflecken auf dem Enthauptungstuch des Täufers Johannes und schließlich auch angesichts des geradezu verschwitzt blutigen Lendentuchs des Gekreuzigten.

Gott ist nichts Symbolisches, Er ist über alle Maßen real

Die Aachener Heiligtumsfahrt ist eine großartige Chance, Gott wieder als real zu begreifen. Die Heiligtümer zeigen ihn nahe, menschlich, hilflos, leidend und liebend, sie zeigen, dass Er eine Mutter haben wollte, die ihn geboren hat und dass es Menschen gibt, die wegen des Glaubens an Christus Märtyrer werden, und die – wie es das Enthauptungstuch Johannes des Täufers offenbart – begriffen haben, dass der Glaube Konsequenzen haben muss, wenn er echt sein will.

In diesem Fall erinnern die Blutflecken auf dem Aachener Tuch zum Beispiel daran, dass für Christus, den Johannes vorausverkündigt hat, die Ehe heilig ist und dass man sie deswegen eben nicht dem „Lebensgefühl“ irgendeiner Zeit opfern darf, wie es gegenwärtig die kirchliche Hierarchie unseres Landes tut.

Denn dann wäre auch der Martertod des hl. Johannes, den er erlitten hat, weil er König Herodes seinen Ehebruch vorgehalten hatte, vergeblich gewesen, vielleicht sogar irrtümlich oder gar falsch. Und man brauchte sein Enthauptungstuch nicht in einem goldenen Schrein aufzubewahren, sondern müsste es entsorgen, so wie man es auch mit der Wahrheit tut, für die er gestorben ist.

Aber: Gott ist nichts Symbolisches! Er ist über alle Maßen real! Und seine Liebe, seine Barmherzigkeit, seine Gerechtigkeit sind ebenfalls im höchsten Maße real und seine Forderungen unwandelbar.

Die Aachener Heiligtumsfahrt, die am Montag zu Ende ging, ist deswegen ein wichtiges Signal in unserer Zeit, die sich mit Realitäten schwertut, weil sie sich vor der Echtheit des Wirklichen scheut. In den heiligen Tüchern enthüllt sich Gottes Wirklichkeit, die sich in menschliches Fleisch und in Stoff gekleidet hat.

Wenn man die vielen tausend Pilger in der ehrfürchtigen und staunenden Begegnung mit den Heiligtümern beobachtet hat, konnte man Hoffnung schöpfen, dass es im Menschen noch genügend Sensorium gibt, um den Zweifel des Verstandes durch die Gewissheit des Herzens zu besiegen.

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Corrigenda, wo der Beitrag zuerst erschienen ist.  

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