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„Lebt nicht mit der Lüge“ – Erinnerungen an Tatjana Goritschewa

Tatjana Goritschewa

„Lebt nicht mit der Lüge!“ Dieser Aufruf des ehemaligen Hauptmanns der Roten Armee und Systemkritikers Alexander Solschenizyn schlug 1974 in der damaligen Sowjetunion wie eine Bombe ein, brachte eine große Anzahl von Männern und Frauen zum Erwachen und machte viele zu Dissidenten. Solschenizyn hatte vorgelebt, dass es möglich war, einem totalitären System zu widerstehen. Wenn ein ganzes System von Lügen durchzogen ist, sei es der einfachste Weg zur inneren Befreiung, selbst nicht mitzulügen und sich gegen die Lüge zu stemmen. Dass dies in einem totalitären System Mut erforderte und das „Leben in Wahrheit“ nicht nur ein äußerlicher politischer Akt war, sondern den Einsatz der gesamten Existenz forderte, davon haben zahlreiche Dissidenten des ehemaligen Ostblocks Zeugnis abgelegt.

2020 greift der US-amerikanische Schriftsteller Rod Dreher, Autor des Bestsellers „Die Benedikt- Option“, diesen Aufruf bewusst auf und macht ihn zum Titel seines jüngst auf Deutsch erschienenen Buches „Lebt nicht mit der Lüge“. Darin warnt Dreher vor der Gefahr eines „neuen sanften Totalitarismus“, der sich zunehmend auch im Westen verbreite. Institutionen und Traditionen werden systematisch aufgelöst und damit zerstört: Herkunft und Nation, die herkömmliche Vorstellung von Familie und Sexualität, selbst die eigene geschlechtliche Identität. Stichworte sind hierbei Gender und Wokeness. Die moderne digitale Technologie ermögliche zudem ein verfeinertes Überwachungssystem, das die Menschen aufgrund ihres Strebens nach Bequemlichkeit und Konsum widerstandslos hinnähmen.

Warnungen vor der „totalitären Versuchung“ des sogenannten freien Westens, genauer des Linksliberalismus, gab es allerdings schon lange vor Drehers Aufschrei und Weckruf. 1978 hatte Václav Havel in seinem Essay „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ dargelegt, dass man die totalitären Systeme Osteuropas als Zerrspiegel der gesamten modernen Zivilisation betrachten könne. Schon damals nimmt Havel die Dissidenten als eine Art Memento für den Westen wahr, das ihm seine latenten Richtungstendenzen unter anderen politischen Vorzeichen enthülle.

In diesem Zusammenhang soll an die russische Philosophin und Christin Tatjana Michailowna Goritschewa erinnert werden, die in den frühen 80er-Jahren in Westdeutschland und Frankreich sehr bekannt war und zahlreiche Bücher zum Thema geschrieben hat. Sie wurde 1947 im damaligen Leningrad geboren und hat dieses Jahr am 12. August ihren 76. Geburtstag gefeiert. In einem ihrer Aufsätze, der in einem Sammelband zu „Glasnost, Christen und Genossen“ zu lesen ist, schreibt sie, dass in ihrem Leben das „Schicksal alles so vorgerichtet“ habe, dass sie Gott niemals hätte finden dürfen. Aufgewachsen in einem atheistischen Elternhaus studierte sie zunächst Philosophie und Radiotechnik und sollte an der Universität Leningrad marxistische Philosophie lehren – doch stattdessen las sie über Sartre, Camus, Nietzsche und Heidegger. Goritschewa brachte sich selbst Deutsch durch die Lektüre von Kant und anderen deutschen Philosophen bei. In diese Zeit fallen auch ihre Erfahrungen mit Yoga, sie praktiziert, bewegt sich in den entsprechenden esoterisch angehauchten Kreisen, die in einschlägigen Leningrader Cafés verkehren. Als Philosophin stets auf der Suche nach der Wahrheit, verwirft sie ihre Yogapraxis allerdings schnell, als ihr ein Bekannter, der auf einer Notaufnahmestation arbeitet, erzählt, dass er während seiner Meditation im Park einen Betrunkenen ins Wasser des nahen Teiches habe steigen sehen. Er habe beschlossen, dass er sein Meditieren deswegen nicht unterbrechen könne mit dem Ergebnis, dass der Mann ertrank. Tatjana erfährt mit einem Schlag eine Ernüchterung gegenüber dieser Art „Selbstverwirklichung“. Doch sie liest eines Tages das Vaterunser, welches auch in yogischen Kreisen als anerkanntes Gebet gilt. Und da ist auf einmal die Erfahrung einer ganz neuen Welt: Es gibt einen Vater! Jesus redet Gott mit „Abba“ an, und plötzlich erscheint ihr die gesamte sie umgebende Natur überglänzt und verwandelt.

Wenn einem Westeuropäer so etwas widerfährt, hat er die Auswahl zwischen vielen Denominationen. Für die ehemalige Atheistin Goritschewa aber war vollständig klar, dass sie ins orthodoxe Kloster gehen müsse, um Rat bei einem Starzen zu holen, sich taufen zu lassen, vorher zu beichten. Danach entfaltete sie zahlreiche Aktivitäten in der christlichen Frauenbewegung, organisierte religiöse Seminare und gab Zeitschriften wie „Frauen und Russland“ heraus. Dies waren die Gründe, warum sie 1980 ausgewiesen wurde. In Deutschland nahm sie dann ein Studium an der theologischen Hochschule Sankt Georgen auf – doch dort wurde, so schreibt sie in „Unaufhörlich sucht der Mensch das Glück“, mehr über Gott gelacht, als dass man seine Wirklichkeit verkündet hätte. Obzwar Goritschewa glücklich war über die freie Atmosphäre zur Religionsausübung und sehr gute Kontakte zu Katholiken pflegte, nahm sie wie ein Seismograf Missstände wahr, die sie als Orthodoxe befremdeten. Im genannten Buch ist auch die Rede davon, wie aufgebracht man seitens katholischer Priester, die sie bei einer Versammlung traf, über die in der Orthodoxie selbstverständliche Kreuzesverehrung – „Masochismus!“ – war: „Sie stürzten sich auf mich wie auf eine Verbrecherin“, schreibt sie über diese Episode.

Schließlich hat sie gut 30 Jahre vor Martin Mosebachs „Häresie der Formlosigkeit“ die Schwäche der westlichen Liturgie konstatiert und die hochbedeutende Wichtigkeit der liturgischen Form für den Glauben betont: „Die [russische] Kirche existiert heute [vor der Wende] nur als Liturgie. […] Aber es ist doch großartig, dass die Liturgie existiert. Und zwar eine Liturgie, zu der ich Vergleichbares im Westen suche. Hier hat man vor allem die Liturgie angegriffen. Ich halte das für gefährlicher für den Geist als die Zerstörung der äußeren Kirche …“

Der „tragische Vorteil“ totalitärer Systeme bestand nach Goritschewa darin, dass sie Grenzerfahrungen des Seins und der absoluten Angst waren. Wer einmal NEIN zur Lüge sagte, ging schnell den Weg der Verwandlung vom einfach aufrechten Menschen zum Paria, zum Dissidenten oder fast Heiligen, er verlor seine Arbeit, seine Familie oder gar das Leben. In einem solchen System gibt es den christlichen Glauben nicht als eine Option unter vermeintlich vielen Sinndeutungsmöglichkeiten, wie wir das in pluralen westlichen Gesellschaften kennen. Das Leben in Wahrheit fordert den Einsatz der gesamten Existenz. „Von Gott zu reden ist gefährlich“ heißt nicht umsonst der Titel des bekanntesten Buches von Tatjana Goritschewa.

Zwar haben sich die Verhältnisse für gläubige Christen in der Russischen Föderation grundstürzend geändert, jedoch sind die Dissidenten – zumeist christlichen Glaubens – der 80er-Jahre immer noch ernst zu nehmen, ihre kritischen Aussagen über den „liberalen Westen“ mitsamt ihrer Befremdung, legen immer noch einen Finger in die Wunde – und sie sind deshalb einer wiederholten Lektüre und erneuten Beschäftigung mit ihren Werken wert.

Die ehemaligen Dissidenten Osteuropas standen für echte Menschlichkeit, sie zeigen, dass ein „Leben in Wahrheit“ der einzige Weg in und aus einem totalitären System sein konnte.

Dieses Erbe gilt es zu erinnern, zu bewahren und gerade für die heutige Zeit neu auszulegen.

Der Artikel erschien ursprünglich in der Oktober-Ausgabe des Vatican-Magazins (HIER bestellen bzw. abonnieren). Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Vatican-Magazins.

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