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Menschenrechte als Wertediktatur und Akt westlicher geistiger Kolonisierung?

Vereinte Nationen in Genf

Als nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Vereinten Nationen (UNO) darüber nachdachten, wie das humanitäre Völkerrecht als Grundlage des menschlichen Seins formuliert werden müsste, sollte erreicht werden, dass die Gleichheit aller Menschen festgeschrieben wird. Jeder Mensch sollte als Rechtssubjekt angesehen, keiner mehr lediglich als Objekt eingestuft werden, als rechtsloser Sklave, Leibeigener oder Angehöriger einer missliebigen Volks- oder Religionsgruppe. Mit dieser Erklärung sollte ausgeschlossen werden, dass eine politische Elite bestimmen kann, ja, darf, wer als rechtsfähiger Mensch eingestuft wird. Kein Staat sollte über die Möglichkeit verfügen dürfen, darüber zu befinden, wem Menschenrechte zustehen und wem nicht. Damit wandte sich die UNO auch gegen das französische Modell der Begründung der Menschenrechte, wonach in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1789 Menschen durch den Allgemeinen Willen das Recht zugeordnet wird, was dann im Rahmen eines Gesellschaftsvertrages für das Staatsvolk verbindlich festgelegt wird. Sollte es dem „Allgemeinen Willen” entsprechen, könnte infolge dessen einer Gruppe von Staatsbürgern oder von einzelnen Personen das Recht abgesprochen werden – ein Phänomen, das wir in den französischen Kolonien beobachten konnten, aber nicht nur dort.

In den kommunistischen, faschistischen und nationalsozialistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts wurden missliebige Personengruppen als rechtlos deklariert, so dass diese straflos ausgelöscht werden durften. Diese Konsequenzen sah die UNO und hat deshalb die christliche Begründung von Menschenrechten, die sich auch im Kant'schen Sittengesetz widerspiegelt, übernommen. Auf Grund der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO von 1948 gilt nun die unterschiedslose Gleichheit aller Menschen, unabhängig von ihrer Religion, Rasse oder Ethnie, geschlechtlichen Ausrichtung, Hautfarbe oder ihres Körperumfangs. Mit einem Wort: Jegliche Ungleichbehandlung, aus welchem Grund auch immer, ist untersagt.

Durch diese Erklärung ist eine Regelung verabschiedet worden, die die universelle Allgemeinverbindlichkeit für sich reklamiert. Sie soll folglich für alle Menschen auf der Welt gelten. Damit ist der Welt die christliche Anschauung der Begründung der Menschenrechte aufgegeben worden – eine Begründung, die sich aus der Vorstellung herleitet, dass jeder Mensch als ein Ebenbild Gottes, als imago Dei, angesehen wird. Diese Begründung soll nach dem Willen der UNO weltweite Geltung haben – sie wird aber nicht weltweit akzeptiert. Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. hat in seiner philosophischen Schrift „Werte im Zeichen des Umbruchs“ darauf hingewiesen, dass die Reichweite dieser Vorstellung heute keineswegs in allen Kulturen anerkannt sei. Er verweist auf den Islam, der „einen eigenen, vom westlichen abweichenden Katalog der Menschenrechte definiert“.

Islamische Erklärung der Menschenrechte

Auch wenn die Christen die größte religiöse Gruppierung in der Welt darstellen, stehen ihnen die Muslime als zweitgrößte Religionsgemeinschaft gegenüber. Sie wird von fast zwei Milliarden Personen gebildet und stellt deshalb ein nicht unerhebliches Gegengewicht zu den christlichen Religionen dar. Der Glaube im Islam ist sehr stark auf den Koran konzentriert und damit auch auf die Scharia, die eine Sammlung von Rechtsvorschriften aus dem Koran und aus den seit dem 7. Jahrhundert überlieferten Äußerungen Mohammeds versammelt hat. Da der Koran für die Muslime ein heiliges Buch verkörpert – er stellt eine vollumfängliche Offenbarung durch Allah dar –, sollen die Vorschriften als göttliches Recht auch für das islamische Rechtsleben bindend sein. Die islamische Welt hat infolgedessen ebenfalls einen Katalog von Menschenrechten entwickelt und in der Islamischen Erklärung von Kairo aus dem Jahr 1990 als islamischen Wertekodex der Welt aufgegeben. In der islamischen Menschenrechtserklärung wird deutlich, dass Menschenrechte abweichend von der Erklärung der UNO definiert werden und dass die Begründung der islamischen Menschenrechte nicht mit der der westlichen kompatibel ist.

Die islamische Menschenrechtserklärung orientiert sich zwar im Wesentlichen an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO aus dem Jahr 1948, allerdings mit der Einschränkung, dass die Scharia Vorrang hat. Durch diesen Vorbehalt wird auch in den Menschenrechten Rücksicht darauf genommen, dass sich islamische Staaten als theokratisch verfasst haben, so dass das göttliche Gebot immer über dem menschlichen steht. Damit zeigt sich aber auch, dass die islamische Menschenrechtserklärung nicht die Menschenrechte als suprarechtliche Regelungen auffasst – als Regelungen, die dem positiven Recht vorgehen –, sondern dass sich die vermeintlichen Menschenrechte dem göttliche Recht der Scharia unterzuordnen haben. Durch dieses Unterordnungsprinzip haben die Menschenrechte im Islam eine ganz andere Bedeutung und können nur als positives Recht angesehen werden. Das übergeordnete Recht wird aus der Scharia hergeleitet und deshalb sind die Menschenrechte nicht als unhintergehbar klassifiziert, sondern nur die aus dem Koran abgeleitete Scharia. Die rechtlichen Regelungen aus dem Koran, also die Scharia, bilden damit die höchste rechtliche Instanz im Islam. Das, was im Koran steht, beansprucht Letztgültigkeit. Auch wenn die Kairoer Erklärung völkerrechtlich nicht bindend ist, zeigt sie aber die unterschiedliche Auffassung von der Bedeutung der Menschenrechte.

In gleicher Weise haben asiatische Staaten 1993 einen Menschenrechtskatalog verabschiedet, der als Bangkok Declaration in die Geschichte eingegangen ist und im Gegensatz zur UN-Erklärung von 1948 Menschenrechte in abweichender Weise definiert. Grundlage soll die Lehre von Konfuzius sein, der das Gemeinwohl über das Individualwohl stellt, so dass sich der einzelne Staatsbürger mit seinen Interessen der Allgemeinheit unterzuordnen habe. Diese asiatischen Werte müssten in der Menschenrechtsdiskussion berücksichtigt werden. Die erzwungene Befolgung westlicher Werte wird folglich als Bevormundung empfunden.

Die UNO erhebt allerdings die Forderung, dass ihre Menschenrechtserklärung überall auf der Welt zu gelten habe. Aus diesem Grunde werden Handlungen in diktatorischen, autokratischen, theokratischen oder islamistischen Staaten nach den Grundsätzen der Erklärung der UNO bewertet. Mit diesem Anspruch setzt sich die UNO über Rechtsauffassungen dritter Staaten hinweg und stellt ihr Recht über dasjenige dieser Staaten. Dadurch wird ihnen und ihren Gesellschaften ein Recht oktroyiert, das nicht ihr eigenes ist. Ihnen wird aufgezeigt, dass ihr Recht keine Gültigkeit entfalten könne, da es gegen das Recht der UNO verstoße. Sie werden demzufolge gezwungen, das Recht der UNO zu akzeptieren, obwohl ihr eigenes, aus der historischen Tradition gewachsenes Recht dem entgegensteht. Die UNO hat aber die Macht, das Handeln von Staaten, die eine andere Rechtstradition aufweisen, zu beurteilen und auch zu verurteilen. Aus diesem Grund verwerfen islamistische Staaten den Rekurs auf die Menschenrechtserklärung der UNO als Wertediktatur. Und damit als Fortsetzung der verwerflichen Kolonisierung durch den Westen. Auch wenn diese vermeintliche Kolonisierung nicht mit Gewalt durchgesetzt wird – das westliche und damit christliche Wertesystem wird trotzdem Staaten mit einer abweichenden kulturellen Ausrichtung juristisch aufgezwungen.

Obwohl durch die Menschenrechtssystematik der UNO die je eigene Rechtsgeschichte einiger Staaten negiert wird, kann diese Form der geistigen Kolonisation aber trotzdem nicht als verwerflich angesehen werden. Die abendländisch-westliche Rechtsauffassung ist jeder anderen überlegen, da nur jene von der Gleichheit aller Menschen ausgeht und damit den Idealzustand einer Rechtsgewährung darstellt. Diesem Idealzustand müssen sich alle Staaten unterwerfen. Er ist schließlich aus dem Wesen des Menschen hergeleitet – aus seiner Natur. In ihm spiegelt sich das Eigentliche des Menschen wider und verkörpert infolgedessen in idealer Weise die Anschauung des Menschen über seinesgleichen. Es ist ein Menschenbild ohne Diskriminierung, ohne Versklavung oder Leibeigenschaft und ohne dass Menschen in Klassen mit unterschiedlichen Rechten eingeteilt werden können. Auch wenn der Idealzustand nicht immer erreicht wird, werden dadurch aber die Voraussetzungen kodifiziert, wie er erreicht werden könnte und vor allem müsste. Hierzu ist jeder Staat verpflichtet. Die unhintergehbare Gleichheit aller Menschen kann nur durch die Menschenrechtserklärung der UNO erreicht werden, und deshalb muss sie jeder Staat akzeptieren. Sie stellt keine Kolonisierung durch den Westen dar, auch keine Wertediktatur. Sie hat vielmehr das Wesen und die Natur des Menschen aufgegriffen – das, was ausnahmslos in jedem Menschen angelegt ist.

Hinweis: Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln die Ansichten der jeweiligen Gast-Autoren wider, nicht notwendigerweise jene der Redaktion von CNA Deutsch.

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