11 Mai, 2025 / 7:00 AM
Vor fast genau 44 Jahren fiel Papst Johannes Paul II. einem Attentat zum Opfer. Bis heute liegen die Hintergründe des Anschlags im Dunkeln. Mit ihrem Buch „L’Attentato al Papa. Elena Hilal e Ali Ağca raccontano quarant’anni di bugie e depistaggi [dt.: „Das Attentat auf den Papst. Elena Hilal und Ali Ağca erzählen von vierzig Jahren Lug und Trug]“, das im September 2024 bei „Edizioni Il Punto D’Incontro“ erschien und bisher nur auf Italienisch vorliegt, möchte Elene Hilal Ağca, die Frau des Papstattentäters Ali Ağca, Licht ins Dunkel bringen. Nach über 40 Jahren „Lügen, Ablenkungsmanövern und Medienerfindungen“ sei für sie die Zeit gekommen, die Wahrheit zu sagen.
Rom, 13. Mai 1981: Es ist kurz nach 17 Uhr, als sich Papst Johannes Paul II. im offenen Jeep zur wöchentlichen Generalaudienz auf den Petersplatz begibt, um die zigtausend Gläubigen zu grüßen und zu segnen. Wie jeden Mittwoch fährt der Geländewagen mit dem Pontifex im Rund der Bernini-Säulen entlang der abgeschrankten Wege über den Platz durch das Meer aus Pilgern, als um 17:17 Uhr plötzlich Schüsse fallen, der Heilige Vater in seinem Fiat „Campagnola“ niedersinkt und die Welt den Atem anhält. Die Bilder des Papstes in blutbefleckter Soutane gehen um die Welt.
Seit jenem Tag im Mai 1981 wurde über Motiv und Auftraggeber spekuliert, wurden verschiedene Spuren verfolgt und viele investigative und journalistische Hypothesen formuliert. Ali Ağca selbst hat verschiedene Versionen dieses Ereignisses verbreitet und mit dem Finger mal auf die Bulgaren, die CIA, den KGB, den Vatikan und Ayatollah Khomeni gezeigt. Selten jedoch sei die Wahrheit gesagt worden, und nie vollständig, wie Elena Hilal Ağca meint. So habe sie sich entschlossen, die über acht Jahre gesammelten Informationen niederzuschreiben, mit der ausdrücklichen Absicht, dem großen Hoax dieser Geschichte, Ali Ağca sei ein Mörder aus Moskau, ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Ihre zentrale These im Buch: Nach den Schüssen auf dem Petersplatz nahm der polnische Papst des Kalten Krieges die Waffe seines Angreifers und richtete sie auf den Kreml.
„Das geheime Treffen“
In Kapitel 29 des insgesamt 57 Kapitel umfassenden Buches erfährt die Leserschaft auch wie: So berichtet die Autorin unter Berufung auf die Aussagen ihres Mannes von einem geheimen Treffen zwischen Papst Johannes Paul II. und Ali Ağca, das im April 1984 außerhalb Roms stattgefunden habe und bei dem der Papst aus Angst um sein Leben von Ağca habe wissen wollen, ob sich die Anstifter des Angriffs im Vatikan befänden, woraufhin Ağca ihm geschworen habe, alleine gehandelt zu haben.
Daraufhin habe Johannes Paul II., der das Papstattentat als die Erfüllung der Prophezeiung des Dritten Geheimnisses von Fatima betrachte habe, ihn aufgefordert, zum Christentum zu konvertieren und die Sowjetunion des Angriffs zu beschuldigen. „Das russische Volk muss seine Freiheit und seinen Glauben an Gott zurückgewinnen, das ist es, was die Heilige Jungfrau verlangt. Du, Ali, musst mir helfen, du musst die Sowjetregierung für den Angriff auf mich verantwortlich machen! Du musst sagen, dass sie es war, die dir befohlen hat, mich zu töten!“ […] „Wenn du mir hilfst, verspreche ich, dass ich alles tun werde, um dich in kurzer Zeit zu einem freien Mann zu machen“, zitiert die Autorin die angeblichen Worte des Papstes.
Über das „geheime“ Treffen habe auch der Osservatore Romano in einem Artikel vom 22. Oktober 1984 berichtet, zitiert Elena Hilal Ağca auf S. 221 ihren Mann. Unsere Nachfrage beim Osservatore Romano, der Tageszeitung des Vatikans, ergab, dass ein solcher Artikel in der genannten Ausgabe nicht zu finden sei und ein Treffen zwischen dem Papst und dem Attentäter im April 1984 im Osservatore Romano nicht erwähnt werde. Berichtet worden sei jedoch in einer anderen Ausgabe der Zeitung über das bereits bekannte Treffen zwischen dem Papst und Ali Ağca am 27. Dezember 1983, bei dem der Pontifex dem Attentäter in seiner Gefängniszelle verziehen habe.
Was ist wahr an Ağcas Darstellung?
Die Antwort des Osservatore Romano veranlasste uns zu weiteren Recherchen und führte zum Journalisten Matthias Drobinski, der gemeinsam mit Thomas Urban die 2020 erschienene Papstbiografie „Johannes Paul II. Der Papst, der aus dem Osten kam“ schrieb. Die in Ağcas Buch zu findenden Aussagen hält der Papst-Biograf für wenig glaubwürdig, wie er uns auf Nachfrage wissen lässt.
„Die angebliche Aufforderung Papst Johannes Pauls zur Konversion entspricht überhaupt nicht Karol Wojtylas Auffassung von Religionsfreiheit, die Ablehnung von Druck und Zwang bei der Religionsausübung zieht sich durch sein gesamtes Wirken. Vielleicht will Frau Ağca so erklären, warum ihr Mann 2016 überraschend den Wunsch äußerte, katholischer Priester zu werden. Oder die weithin akzeptierte und doch von vielen Indizien gestützte These erschüttern, der bulgarische Geheimdienst habe zumindest mit Wissen des KGB das Attentat in Auftrag gegeben. Seriös jedenfalls klingt das nicht. Sondern eher nach einer weiteren Räuberpistole aus dem Umfeld eines Mannes, der seine Rolle in der Weltgeschichte überschätzt“, so die Einschätzung von Dobrinski.
Warum schoss Ali Ağca? Und in wessen Auftrag?
Zu Beginn ihres Buchs, für das die Autorin auch auf Recherchen ihres Anwalts und ihres Vorwort-Verfassers Riccardo Sindoca zurückgriff, schildert Elena Hilal Ağca den antikommunistischen Kreuzzug des Papstes. Dessen Besuch in Polen 1979 habe Ali Ağca, für den der Heilige Vater den Kapitalismus verkörperte, als politischen und religiösen Affront gegen sein Heimatland interpretiert, schreibt die Autorin. Für sie sei die Polenreise des Heiligen Vaters auch das wahre Motiv für das Papstattentat, über das auch Ağcas Brief an den Papst, den er 1979 verfasste und der in der türkischen Zeitung Milliyet veröffentlicht wurde, Zeugnis ablege.
In ihrem Buch erzählt die Autorin auch die Geschichte ihres Mannes Ali Ağca, von seiner Kindheit in Malatya, seinen Kontakten zu den Grauen Wölfen während seiner Universitätsjahre, dem Mord am Chefredakteur der Zeitung Milliyet, Abdi Ipekci, den er nicht begangen habe, sich aber habe festnehmen lassen, um die Hintermänner zu schützen, seiner Flucht aus dem Gefängnis Kartal Maltepe und durch Europa bis zu seiner Ankunft auf dem Petersplatz, wo er, inspiriert durch das Attentat auf Ronald Reagan, an jenem Maitag 1981 auf den Heiligen Vater schoss. „Ich wollte den Papst töten. Es gab keine Verschwörung. Ich kann nicht alle Einzelheiten nachweisen, weil es von den Geheimdiensten konstruiert wurde“, sagte Ağca im September 1995 gegenüber Richter Rosario Priore.
Hypothesen, Dementis, Analysen, Rekonstruktionen
Auf den weiteren Seiten nimmt die Autorin die Leserschaft gedanklich mit ins römische Schwurgericht, das Ağca im Juli 1981 nach dreitägiger Verhandlung zu lebenslanger Haft verurteilte und die Hypothese einer Verschwörung nicht ausschloss. Sie blickt mehrfach hinter Gefängnismauern, um ihre Leserschaft an Ağcas Gesprächen mit Anwälten, Richtern, Würdenträgern und hochrangigen Vertretern des Geheimdienstes teilhaben zu lassen. In einem der Gespräche mit zwei Geheimagenten habe Ağca wissen wollen, wie seine Freilassung möglich sei, und von ihnen erfahren, dass der Papst den italienischen Präsidenten um eine Begnadigung bitten werde, Ağca im Gegenzug aber die Bulgaren des Papstattentats bezichtigen müsse.
Ihre Leserschaft führt die Autorin auch durch den von 600 Journalisten aus aller Welt begleiteten „Medienprozess“, vor dem sich die mutmaßlichen Hintermänner des Papstattentats (die drei Bulgaren Sergej Ivanov Antonov, Todor Ayvazov, Jelio Vassilev, und die vier Türken Musar Serdar Celebi, Oral Celik, Ömer Bagci, Bekir Celenk) verantworten mussten, die indes aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurden. In ihren Schilderungen, die sie mithilfe der vom Radiosender Radio Radicale aufgezeichneten Anhörungen anfertigt, lässt die Autorin tief blicken und verrät Ağcas Ablenkungsmanöver, schaut Richtern und Anwälten auf die Finger, deckt Anklagestrukturen auf, spricht von Ermittlungen und Anhörungen, „die auf Aussagen manipulierter, erpresster und eingeschüchterter Zeugen basieren“, und fordert die Leserschaft immer wieder auf, sich mithilfe der online abrufbaren Anhörungen von Radio Radicale ein eigenes Urteil zu bilden.
(Die Geschichte geht unten weiter)
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Die bulgarische Spur
Die maßgeblich von Pater Pavlo Hnilica und der US-amerikanischen Journalistin Claire Sterling in Umlauf gebrachte bulgarische Spur, nach der die Grauen Wölfe im Auftrag des KGB das Papstattentat ausgeführt hätten, dementiert sie mit der Behauptung, dass sich die Grauen Wölfe ob ihrer antikommunistischen Ideologie nie in den Dienst der Kommunisten gestellt hätten. In Augenschein nimmt die Autorin auch im Prozess gezeigte Filmaufnahmen des Papstattentats, die belegten, dass Ağca zweimal schoss, sowie im Prozess begutachtete Tatortfotos wie das von Lowell Newton, das der US-amerikanische Reporter nur wenige Sekunden nach den Schüssen machte und das einen über den Petersplatz rennenden Mann und mutmaßlichen Komplizen zeigt.
Ağcas Aussagen zufolge war dies mal Oral Celik, dann Arslan Samet (dessen angebliche Beteiligung am Papstattentat wird den dritten Prozess einleiten), dann ein Undercover-Agent. Zur Klärung der Frage nach der Identität des Mannes auf einem weiteren im Verlauf des dritten Prozesses gezeigten Foto, das angeblich Ağca während einer Papstaudienz in der Pfarrgemeinde St. Thomas von Aquin drei Tage vor dem Papstattentat zeigt, beauftragte Elena Ağca Gregory Cocco mit der Restaurierung jenes Fotos, welches das Rätsel zu lösen scheint. Der auf dem restaurierten Foto zu sehende Mann sei nicht Ağca, sondern ein Mitglied der Überwachungsbehörde des Heiligen Stuhls.
In ihrem Buch verfolgt Elena Hilal Ağca auch die Finanzströme der Vatikanbank IOR, die sie heimlich über die Banco Ambrosiano und dessen Leiter Roberto Calvi abwickelte und die zur Unterstützung der antikommunistischen Front in Osteuropa auf das Konto der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc flossen und im Mord an Calvi mündeten. Seine Leiche wurde im Juni 1982 in der Themse unter der Londoner Blackfriars Bridge aufgefunden. Auch erfährt die Leserschaft von einem geplanten Attentat auf den Vorsitzenden der Gewerkschaft Solidarnosc, Lech Walesa.
Der Fall Emanuela Orlandi und Mirella Gregori
Im zweiten Teil des Buches widmet sich die Autorin dann dem rätselhaften Fall der am 22. Juni 1983 spurlos verschwundenen Vatikanbürgerin Emanuela Orlandi wie auch dem ebenso ungelösten Fall der seit Mai 1983 vermissten Römerin Mirella Gregori, die beide in Zusammenhang mit dem Papstattentat stünden. Ihre Leserschaft nimmt die Autorin im Geiste nochmals mit auf den Petersplatz, wo Papst Johannes Paul II. am 3. Juli 1983 nach dem sonntäglichen Angelus-Gebet vor den Augen der Weltöffentlichkeit als Erster von einer Entführung im Fall Orlandi spricht – bis 1985 folgten weitere sieben Appelle des Papstes.
Die Autorin ist überzeugt: Hinter dem Mord an Calvi und der Entführung der beiden Mädchen stecke dieselbe Richtung. Calvi sei getötet worden, weil er im Berufungsverfahren (er wurde wegen Bank- und Devisenvergehen zu vier Jahren Haft verurteilt) die Wahrheit gesagt hätte, während Emanuela und Mirella dazu gedient hätten, dem „Imperium des Bösen“ zumindest in den Medien einen weiteren Schlag zu versetzen und auch die Aufmerksamkeit vom IOR-Ambrosiano-Skandal abzulenken.
Fazit
Neben der ausführlichen Darstellung des Orlandi-Gregori-Falls presst die Autorin zwischen beide Buchdeckel auch zahlreiche Querverweise, die sie in Büchern u. a. von Richter Ferdinando Imposimato, Richter Ilario Martella, Ali Ağca, Oral Celik und vielen weiteren findet, um das komplizierte Geflecht aus Spionage, internationaler Politik und diplomatischen Beziehungen transparent zu machen.
Das Resultat ihrer komplexen Arbeit gleicht zuweilen einem Weg durch ein undurchsichtiges Dickicht, durch das die Autorin ihre Leserschaft führt und in dem es nur so von unwegsamen Pfaden, Irrwegen und etlichen Gabelungen wimmelt. Auch nach über 500 Seiten, aus denen teils umstrittene Aussagen hervorgehen, deren historischer Wahrheitsgehalt nicht immer nachweisbar erscheint, wabern noch immer Nebelschwaden über dem versuchten Mord an Papst Johannes Paul II. Die Autorin bietet ein Interpretations-Werkzeug, das der Leserschaft ermöglicht, sich selbst ein Urteil über eines der wohl rätselhaftesten Verbrechen des 20. Jahrhunderts zu bilden.
Über die Autorin
Elena Hilal Ağca wurde 1967 in Cervia, Ravenna, geboren und wuchs in einer Bauernfamilie auf. Mit Ağca, der im Gefängnis war, begann sie eines Tages einen Briefwechsel, um seine Persönlichkeit und seine Beweggründe zu verstehen. Im Laufe der Jahre wurde aus dieser virtuellen eine reale Beziehung, die zu einem spontanen Übertritt zum Islam und zur Heirat 2015 führte.
Ağca schloss ihr Studium der Politikwissenschaften an der Universität Bologna und der Philosophie an der Universität Roma III ab. Derzeit absolviert sie einen Journalismus-Kurs in Istanbul, wo sie mit ihrem Mann lebt. „Ich lebe jetzt dauerhaft in der Türkei und ich glaube nicht, dass ich in naher Zukunft Gelegenheit haben werde, nach Italien zurückzukehren. Ich fühle mich daher freier, die Wahrheit zu sagen“, sagt die Buchautorin Elena Hilal Ağca.
Hinweis: Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln die Ansichten der jeweiligen Gast-Autoren wider, nicht notwendigerweise jene der Redaktion von CNA Deutsch.
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