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Warum der Papst "hier der größere Realist ist": Jan Schnellenbach über Javier Milei

Javier Milei (li.) und Papst Franziskus

Er ist ein Ökonom, der sich nicht scheut, Papst Franziskus zu kritisieren und seine sozialen Lehren in Frage zu stellen. Er ist ein Politiker, der als “Rockstar” der Freiheit bezeichnet wird und die Massen mit seinen radikalen Ansichten begeistert. Er ist Javier Milei, ein Phänomen in Argentinien, das sowohl Bewunderung als auch Ablehnung hervorruft.

Was steckt hinter seinen Provokationen? Wie stehen seine libertären Ideen im Verhältnis zur katholischen Soziallehre? Und wie realistisch sind seine wirtschaftspolitischen Vorschläge? Um diese Fragen zu beantworten, hat CNA Deutsch mit dem Wirtschaftswissenschafter Jan Schnellenbach gesprochen, der sich mit den sozialen Lehren von Papst Franziskus und den Ansichten von Javier Milei auseinandergesetzt hat. Das schriftliche Interview finden Sie in voller Länge hier:

Professor Schnellenbach, wie vergleichen sich aus Ihrer Sicht die sozialen Lehren von Papst Franziskus mit den Ansichten von Javier Milei?

JAN SCHNELLENBACH: Milei ist ein Libertärer, und als solcher ist er überzeugt, dass es keinen großen, gut ausgebauten Sozialstaat geben sollte. Im Gegenteil: Er plädiert dafür, den Staat insgesamt, aber eben auch den Sozialstaat so weit herunterzufahren, wie es irgendwie geht. Das bedeutet aber nicht unbedingt, dass er auch gegen karitatives Engagement, gegen ein Eintreten für die Armen ist. Aber Libertäre sehen auch hier die private, freiwillige Initiative im Vordergrund. Auch sie haben nichts dagegen, wenn Menschen Gutes tun. Aber sie sollen es auf eigene Rechnung tun. Und hier gibt es vielleicht sogar eine Schnittmenge zu Papst Franziskus: Auch er ruft uns ja immer wieder dazu auf, selbst auf die Armen zu schauen und ihnen zu helfen, nicht nur auf den Staat zu vertrauen. Der Unterschied ist aber, dass der Papst dies in Ergänzung zum Sozialstaat fordert, während Milei möchte, dass die private Initiative das staatliche Handeln ersetzt. Als eher konventioneller Volkswirt glaube ich, dass der Papst hier der größere Realist ist. Eine rein private, freiwillige Armenfürsorge wird die ausreichen, um die Armen akzeptabel zu versorgen.

Wie stehen Javier Mileis libertäre Ansichten, die individuelle Freiheit betonen, im Kontrast zur katholischen Betonung von Gemeinschaft und sozialer Verantwortung?

Vielleicht könnte man sagen, dass Milei das Subsidiaritätsprinzip, das ja auch für die katholische Soziallehre zentral ist, überstrapaziert. Er ist überzeugt, dass die private Initiative auch im Sozialen ausreichen kann. Aber ich glaube, dass die Perspektive der katholischen Soziallehre realistischer ist. Sie sieht, dass die rein freiwillige Koordination sozialer Sicherung nicht ausreichen wird, weil jeder Einzelne dann ja doch immer wieder versuchen wird, selbst wenig zu leisten, in der Hoffnung, dass andere es schon tun werden. Am Ende steht dann eine Unterversorgung der Bedürftigen. Es ist ja eine zentrale Einsicht der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, dass rein freiwillige Lösungen, die auf die koordinierende Aufgabe des Staates verzichten, immer wieder zu solchem Trittbrettfahrerverhalten führen werden. Die meisten Menschen handeln nun einmal vor allem eigennützig, daran würden auch Appelle  wenig ändern. Also ist es vernünftig, dem Staat hier eine Rolle zuzuweisen.

Welche ethischen Überlegungen sollten bei der Diskussion von Mileis wirtschaftspolitischen Ansichten, insbesondere aus katholischer Sicht, berücksichtigt werden?

Aus katholischer Sicht ist der Mensch von Gott mit einer besonderen Würde ausgestattet, und jeder von uns ist verpflichtet, die Menschenwürde der jeweils anderen zu achten.

Das bedeutet auch, dass wir, soweit es möglich ist, jedem eine gewisse materielle Ausstattung zugestehen sollten, die nötig ist, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können.

Das Problem mit radikalen Libertären wie Milei ist, dass sie den Staat per se als Übel sehen, aber nicht als ein Instrument, das wir Menschen sinnvoll nutzen können, um Koordinationsprobleme zu lösen.

Wir wissen um unsere individuelle Anfälligkeit für das Trittbrettfahrerverhalten bei freiwilligen Spenden. Also binden wir uns selbst, in einer Art Gesellschaftsvertrag, und übertragen dem Staat die Aufgabe, Einkommen soweit umzuverteilen, dass jeder in unserem Land ein menschenwürdiges Leben führen kann. Dass so ein Gesellschaftsvertrag als rationale, gemeinsame Entscheidung der Einzelnen rekonstruiert werden kann, sehen Libertäre wie Milei leider nicht. Auf der anderen Seite gibt es aber natürlich auch Sozialisten, die die Grenzen dieses Gesellschaftsvertragsargumentes nicht sehen und ein viel zu großes Maß an Umverteilung fordern.

Sowohl als gemäßigter Liberaler, als auch als Katholik sitzt man da zwischen diesen Stühlen und versucht, beide Extreme zu mäßigen.

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