16. Dezember 2020
Was für eine schöne Weihnachtsgabe ist dieses Buch, das schon durch die Auswahl von hochkarätigen Erzählungen Bekanntes und Vergessenes neu zugänglich macht. Vom Russland der Feudalzeit über das bürgerliche Zeitalter bis zu den Schrecken von Auschwitz und der Nachkriegszeit spannt der Herausgeber einen weiten Bogen durch die erzählende Kunst der europäischen Literatur. Diese Geschichten nehmen uns mit in die schwermütige Winternacht eines Dino Buzzati, nach Schlesien und New York, auf Dachkammern und einsame Wege, Bahnhofswartesäle und den Dornwald aus dem bekannten Weihnachtslied. Aus unterschiedlichster Perspektive, am intensivsten aus den Augen von Kindern, die Angst, Schuld und Sehnsucht verspüren, wird die Botschaft der Weihnacht, vom Licht, das die Finsternis erhellt, erzählt.
Dabei ist dem Autor, Felix Hornstein, Religionslehrer aus Tegernsee, bewusst, dass Weihnachtsgeschichten Gefahr laufen sentimental zu sein. Märchen von Menschlichkeit am bullernden Ofen, die die Gemütlichkeit erhöhen, oder Geschichten mit zuviel Moralin, Anklagen gegen selbstzufriedene Bürger, die unter den Verdacht stehen, auf Kosten der anderen zu feiern, sind hier nicht zusammengetragen worden. Es müssen, so Felix Hornstein, auch ohne weihnachtlichen Kontext in erster Linie überzeugende Geschichten sein, „gute Weihnachtsgeschichten berichten von einem existentiellen Ereignis oder Geschehen in der Welt der Menschen, das in Verbindung mit dem Kairos von Weihnachten eine besondere Wendung nimmt.“ Diesen besonderen Wendungen spürt der Herausgeber in seinen Interpretationen nach und wir begeben uns als Leser gespannt mit auf diesen Weg, den „Feingehalt“ aus dem Erz der Texte herauszuholen.
Im Blick auf Paul Kellers „Das Niklasschiff“ erfahren wir von der Kränkung eines Zehnjährigen, der jedes Jahr leer ausgeht, wenn der Nikolaus den Nachbarsbuben, Karl, beschenkt, von seiner Verzweiflung über diese „himmelschreiende Ungerechtigkeit“, dem Neid und dem Zorn, der ihn erfüllt und schuldig werden lässt. Denn Karl wird schwer krank, als er alleine mit seinem Schifflein in den kalten Mühlweiher fällt, weil sein Freund nicht mitgekommen ist und ihn nicht halten oder herausziehen konnte. Dass auch Kinder schon die volle Last des Daseins spüren können, auch ihr Leben gezeichnet ist von Tod und Schuld und dass sie bewusst, alleine, den Weg zur Versöhnung gehen, ist uns heute zur Seltenheit geworden. Ein Seelendrama realistisch gezeichnet in einer Welt voller Gefahren und Not, packend und tröstlich zugleich.
Von der Not eines Fünfjährigen erzählt die Geschichte „Das Tier“ von Nikolaj Leskow. Dieser verbringt die Weihnachtstage beim gefürchteten Onkel, der auf seinem Gut absolutistisch herrscht und jede Schwäche unerbittlich ahndet. Dort wird er Zeuge eines dramatischen Schauspiels, der Geschichte von der Hatz des Bären Sganarell und seines Hüters und Freundes, des Leibeigenen Ferapont. Die Zähmung des Tiers, des Onkels nämlich, der an Weihnachten eine tiefgehende Wandlung erfährt, steht im Mittelpunkt. Drumherum analysiert Hornstein mit dem Blick des Historikers und Theologen die komplexe Beziehung von Mensch und Tier: Eng verbunden im Schöpfungsbericht der Genesis, in öffentlichen Schaukämpfen bei den römischen Gladiatoren bis zu spätmittelalterlichen Mäuseprozessen, wobei Tiere einer Strafe immerhin für würdig befunden wurden. Die eigentliche Problemstellung der Erzählung gerät gleichwohl nicht aus den Augen: „Wie ist es ein Fünfjähriger zu sein, wenn die Welt, in der man lebt, nicht nur groß ist, sondern von einem Tier beherrscht wird, das tyrannisch über alle herrscht und allen Angst macht?“ Über die ernste theologische Frage des Kindes, ob es erlaubt sei, für Tiere zu beten, wird hier reflektiert, ebenso wie über das Paradox von Freiheit und Bindung, das in der Figur des Bändigers Ferapont und seiner Liebe zu seinem Herrn aufscheint.
Psychologische Einsichten gewinnen wir in der Betrachtung von Andersens „Der Tannenbaum“. In dieser Kunstfigur begegnet uns das moderne Bewusstsein, das in dieser Welt nicht glücklich sein, nicht einfach den Sonnenstrahlen, dem Wind und dem Tau hingegeben existieren kann. Hier artikuliert sich eine Sehnsucht, die auch mit goldenem Flitter im Glanz des Weihnachtszimmers nicht gestillt werden kann, weil das Ich dieser Erzählung sich danach verzehrt, wirklich gesehen und erkannt zu werden. Dadurch aber drückt sich auch in dieser „Antiweihnachtsgeschichte“ für den Interpreten eine Hoffnung jenseits der Vergänglichkeit aus.
Dass sogar dem Klassiker „Das Geschenk der Weisen“ noch einmal neue Tiefen abgewonnen werden, ist eine besondere Freude. Jim und Della leben bitterarm in einer Mietwohnung, wollen sich aber zu Weihnachten unbedingt gebührend beschenken. Doch wie soll das gehen? Sie finden eine Lösung, die komisch und tragisch zugleich ist. Wie glücklich aber sind diese Beiden, aller Not zum Trotz, denn sie schenken aus reiner Liebe, sie schenken, weil sie den anderen groß sehen wollen und sind selber groß in dieser absoluten Hingabe.
Das Leben besteht aus „Schluchzen, Seufzen und Lächeln“ in den Worten von O. Henry, dem Erschaffer von Jim und Della, aus „Sehnsucht, Kummer und Freude“ beim „Nikolaus in Not“, wo die kleine Cäcilie, die in großer Armut lebt und Schuhe oder ein Mäntelchen bräuchte, vom Schokoladenschiff, der Kongo, träumt. In diesen Erzählungen und ihren Interpretationen können wir an diesen, umständehalber etwas anderen Weihnachtstagen einen neuen Blick in unsere Welt werfen, in der Wunder geschehen trotz aller Schwere, aller Grausamkeit und Not.
Felix Hornstein. Die schönsten Weihnachtsgeschichten. Neu gelesen und interpretiert, ist im Patrimonium Verlag erschienen und hat 240 Seiten.