Der Name des norditalienischen Städtchens Schio in der Provinz Vicenza, östlich des Gardasees, ist im deutschsprachigen Raum nur wenig geläufig, obwohl es doch Eingang in die Weltliteratur gefunden hat. An der Fassade eines Hauses ganz in der Nähe des Doms informiert eine Gedenkplakette darüber, dass hier zur Zeit des Ersten Weltkriegs der bedeutende Erzähler und spätere Literaturnobelpreisträger Ernest Hemingway gewohnt hat. Hemingway, damals kaum zwanzig Jahre alt, meldete sich aus reiner Abenteuerlust beim Roten Kreuz an der italienischen Front und war bis zu seiner Verwundung durch eine Granate Sanitätsfahrer. Seine Erlebnisse in Norditalien, wozu auch die unglückliche Liebe zu einer britischen Krankenschwester gehört, hat er gut zehn Jahre danach unter dem Titel „A Farewell to Arms“ – deutscher Titel: „In einem anderen Land“ – veröffentlicht. Die Geschichte endet traurig, der gemeinsame Sohn mit der Krankenschwester wird tot geboren und die Geliebte stirbt an ihren inneren Blutungen. „Die Welt zerbricht jeden … die, die nicht zerbrechen wollen, die tötet sie“, so das Resümee des Ich-Erzählers – dieser Satz deutet bereits auf das traurige Lebensende des Schriftstellers hin. Doch seine Zeit in Schio hat Hemingway sehr genossen. Nach Kriegsende, im Juni des Jahres 1922, kehrte er sogar noch einmal zurück. Über Schio und die dortige Osteria „Cantarana“, die er offenbar gerne und oft besuchte, schrieb er: „Da gab es eine Gartenwirtschaft in Schio, deren Mauern von Glyzinien überwachsen waren, wo wir während der warmen Abende Bier tranken, unter einem Mond, der uns bombardierte und alle Arten von Schattenspielen mit der Platane, unter der unser Tisch stand, spielte.“ Wir wissen nicht, um welche Themen es am Biertisch ging, aber es ist gut möglich, dass man dem jungen US-Amerikaner die Geschichte von „La nostra madre moretta“ erzählt, er sie vielleicht sogar einmal selbst gesehen hat, denn Giuseppina Bakhita, ehemalige Sklavin aus dem Sudan, befand sich bereits seit dem Jahr 1902 in dem Städtchen, genauer gesagt lebte sie im dort ansässigen Institut der Canossianerinnen.

„Unsere braune Mutter“ – so nannten die Einwohner von Schio diese charismatische Ordensfrau liebevoll, die ein so schweres Schicksal aus dem fernen Nordostafrika nach Nordostitalien verschlagen hatte; ein Schicksal, das sie persönlich felsenfest als reinen Glücksfall betrachtete, trotz all der bedrückenden Not und dem schweren Leid, das sie hatte durchstehen und ertragen müssen. Denn, davon war sie zutiefst überzeugt: Wäre sie nicht von ihrer Familie losgerissen, von Sklavenhändlern verschleppt und weiterverkauft worden, hätte sie niemals ihren Herrn Jesus und seine von ihr stets geliebte jungfräuliche Mutter kennengelernt.

„Bakhita“ – dies war der Name, den ihr die Sklavenhändler aufzwangen, er bedeutet „die Glückliche“ oder „die vom Glück begünstigte“ in Arabisch. Diese Praxis der Vergabe eines neuen Namens diente dazu, der künftigen Sklavin ihre Herkunft und eigentliche Identität zu nehmen. In Bakhitas Fall ist das vollständig gelungen – sie konnte sich später nicht mehr an ihren eigentlichen Namen und den ihrer Familie erinnern. Vermutlich im Jahre 1869 in Olgossa geboren, verlebte das Mädchen zunächst eine glückliche Kinderzeit in einer liebevollen und auch für die dortigen Verhältnisse wohlhabenden Familie. In den ersten Jahren ihres irdischen Daseins kannte sie kein Leid und keinen Schmerz. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem ihre ältere Schwester von Banditen verschleppt wurde. Das war die erste Erfahrung schlimmen Schmerzes, doch Bakhitas Kreuzweg hatte noch nicht begonnen. Auch ihren Eltern muss der Raub einer weiteren Tochter das Herz zerrissen haben. Zunächst wurde das Mädchen, das jetzt also Bakhita war und vermutlich gerade zwischen sechs oder sieben Jahre alt, einen Monat lang gefangen gehalten. Zwar gelang ihr die Flucht, doch wird sie wieder eingefangen und weiterverkauft. Inzwischen befindet sie sich fast tausend Kilometer entfernt von ihrem Geburtsort, ihrer Familie und ihren Geschwistern, in Khartoum am Zusammenfluss des Blauen und des Weißen Nils. Dort wird sie – der Sudan steht seit dem Jahre 1806 unter der Herrschaft der Osmanen – mehrfach verkauft, zuletzt an einen türkischen General, dessen Ehefrau die Haussklaven grausam zu misshandeln pflegte. Bakhita wurde fast jeden Tag mit Peitschenhieben gefügig gemacht, einmal, wie sie sich erinnert, sogar schlicht aus reiner Willkür anhaltend gegeißelt, ihre Wunden blieben unbehandelt. Die grausamste Tortur, der man sie dort unterzog, war die „Tätowierung“ mit mehr als einhundert Rasierklingenschnitten am ganzen Körper. Nach der Prozedur rieb man die blutenden Wunden mit Salz ein. Bakhita überlebte – ihr schönes Gesicht blieb unversehrt, doch die vielen grauenvollen Narben trug sie fortan am ganzen Körper.

Endlich wird sie an den italienischen Generalkonsularagenten Legnani verkauft und das Blatt beginnt sich für die mittlerweile Sechzehnjährige „vom Glück Begünstigte“ endlich zu wenden. Legnani gibt sie an seinen Freund Augusto Michieli ab, der ein Kindermädchen für seine Tochter Mimmina sucht, und nimmt sie mit nach Venedig. Der Gutsverwalter Michielis wiederum gehört – welch ein Zusammenspiel! – zu den geistlichen Beratern von Kardinal Sarto, dem späteren Papst Pius X. Der Mann schließt Bakhita ganz besonders ins Herz und bemüht sich zuallererst um das Seelenheil der vermeintlichen Mohammedanerin; in Wirklichkeit wusste Bakhita nichts von einem Gott, obzwar sie sich bereits nach ihm sehnte: „Beim Anblick der Sonne, des Mondes und der Sterne, der Schönheiten der Natur, sagte ich zu mir selbst: ‚Wer mag der Herr all dieser schönen Dinge sein?‘ Und ich empfand einen tiefen Wunsch, ihn zu sehen, zu erkennen, ihm Ehre zu erweisen.“

Sie wurde zusammen mit Mimmina christlich unterwiesen und mit der vollen Unterstützung ihres Gönners namens Illuminato Checchini, des Gutsverwalters der Familie, in das Katechumenat aufgenommen.

Überliefert wird, dass sie, als sie zum ersten Mal ein Kruzifix sah, sie zutiefst beeindruckt gefragt habe, was dieser Mann verbrochen habe, dass er so behandelt werde. Nichts, lautete die Antwort, er wollte aus Liebe für uns sterben, für uns und auch für dich. Erstaunt wiederholte sie die Worte: „Auch für mich?!“

Ihre Liebe zum Gekreuzigten wuchs nun stetig, und als sie im Katechumenat erfuhr, dass sie durch die Taufe ein Kind Gottes werde, wuchs ihre Sehnsucht ins Unermessliche. Doch die Eltern von Mimmina besaßen ein Hotel in Sudan und wollten die Katechumenin dahin mitnehmen.

In dieser Situation traf Bakhita wohl zum ersten Mal in ihrem bisherigen Leben eine eigene, eine freie Entscheidung: Sie weigerte sich, die Familie zu begleiten, da sie die Taufe noch nicht empfangen hatte und im Sudan – ihrem Herkunftsland – nicht imstande sein würde, das neu angenommene Christentum auch ordentlich zu praktizieren. Deshalb wolle sie bei den Schwestern bleiben. Ihre Herrschaft übte Druck auf sie aus, doch Bakhita, die ja in Italien den Status einer freien Frau innehatte, blieb, wenngleich mit wehem Herzen, standhaft. Und so wurde sie vom Patriarchen von Venedig am 9. Januar 1890 auf den Namen Giuseppina Margherita Fortunata – die vom Glück begünstigte in der italienischen Namensform – getauft. Am selben Tag empfing sie auch die Firmung und feierte Erstkommunion „mit einer Freude, die nur Engel beschreiben könnten“, wie sie in ihren Erinnerungen berichtet. Sie bleibt auch danach noch bei den Canossianerinnen und innerhalb von drei Jahren wächst in ihr die Gewissheit, zum Ordensleben berufen zu sein. So tritt sie im Dezember 1893 in Verona in das Noviziat ein und wird von Kardinal Sarto auf die Gelübde geprüft, die sie drei Jahre später, am Tag der Unbefleckten Empfängnis, ebenfalls in Verona, ablegt.

Die allgemeine Freude darüber ist so groß, dass der Neffe der Ordensgründerin Maddalena de Canossa, ein Kardinal, sie unbedingt empfangen möchte.

Der Orden der Canossianerinnen ist seit 1886 auch in Schio ansässig und führt dort einen Kindergarten, eine Grund- und Berufsschule und ein Waisenhaus. Giuseppina, die zumeist als Pförtnerin im Orden eingesetzt wird, schickt man 1902 nach Schio, wo sie in der Küche arbeitet und ihre Aufgaben in treuem Gehorsam, stets voller Milde, Güte und Zärtlichkeit gegenüber den anderen erfüllt. Sie, die ehemalige Sklavin, gibt sich nun in freier und heilige Hingabe dem Willen Gottes hin, als eine „Sklavin der Liebe“ an „El Paron“, den Patron, oder auch „El Segnor“, den Herrn, wie sie ihn in Reminiszenz an ihr früheres Dasein bewusst nennt. Doch bald schon erhält sie eine neue wichtige Aufgabe.

Als Italien im Mai 1915 in den Ersten Weltkrieg eintritt, wird ein Teil der Schwestern evakuiert, Giuseppina bleibt in Schio und tut nun Dienst in der Sakristei – ein Dienst, der sie mit besonderer Freude erfüllt, kann sie doch „El Paron“ so stets ganz nahe sein. Liebe zum Herrn und Liebe zu den Mitmenschen war der Ordensgründerin das Allerwichtigste. Dazu gehört für Giuseppina auch an erster Stelle das Verzeihen und die Vergebung für alle Menschen, die ihr in der Vergangenheit so viel Furchtbares angetan haben: „Würde ich den Sklavenhändlern begegnen, die mich geraubt haben und denen, die mich gefoltert haben, würde ich mich niederknien und ihnen die Hände küssen. Wenn das alles nicht passiert wäre, würde ich heute nicht Christin und Ordensschwester sein. … Diese Armen wussten nicht, welch großen Schmerz sie mir zufügten. Sie waren ja die Herren und ich ihre Sklavin. So wie wir gewohnt sind, das Gute zu tun, taten die Sklavenhändler das Ihrige, nicht aus Bosheit, sondern aus Gewohnheit.“ Das sind die Worte einer einfachen Frau – aber was für eine Herzensbildung spricht aus ihnen!

Bis auf zwei Jahre, in denen sie als Pförtnerin in Vimercate bei Mailand dient, bleibt sie bis zu ihrem Lebensende im Ordenshaus in Schio. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, und das Städtchen von Fliegerbomben verschont bleibt, sind die Einwohner fest davon überzeugt, dass sie dies der Anwesenheit ihrer „Madre Moretta“ zu verdanken haben.

In ihren letzten Jahren wird Giuseppina zusehends kränker, sie leidet an Arthritis, muss im Rollstuhl sitzen, hinzu kommt quälendes Bronchialasthma. Dem sich allmählich nahenden Tod sieht sie gelassen entgegen, denn: „Wenn ein Mensch so sehr einen anderen liebt, dann wünscht er brennend, bei ihm zu sein: Warum also so große Angst vor dem Tod? Der Tod bringt uns zu Gott.“

Sie stirbt am 8. Februar 1947, auf ihren Lippen die Worte „Wie froh ich bin, die Jungfrau! Die Jungfrau!“ und wird am 17. Mai 1992 zusammen mit Josefmaria Escrivá seliggesprochen, acht Jahre später dann heilig. Sie gilt als Schutzpatronin der katholischen Kirche im Sudan.

Es gäbe noch so viel zu erzählen von dieser außergewöhnlichen Heiligen. Doch alles, was noch gesagt werden könnte, erübrigt sich bei einem Blick auf ihr himmlisches, lächelndes Antlitz: „Nigra sum, sed formosa!“ Diese außergewöhnliche Frau mit dem bezaubernden Charisma widerlegte mit ihrem bemerkenswerten Schicksal die oben angeführten Worte jenes Schriftstellers, ihres Zeitgenossen, der ein paar Jahre lang nur einen Steinwurf entfernt von ihr lebte: Die Welt konnte die Frau, die Giuseppina Bakhita war und ist, weder zerbrechen noch töten.

Zuerst veröffentlicht im Vatican-Magazin, erscheint der obige Beitrag hier mit freundlicher Genehmigung.

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