Letzte Seufzer kommen normalen Sterblichen normalerweise in ihrer Muttersprache über die Lippen. Das war bei Benedikt XVI. nicht so. Er war kein normaler Sterblicher. Selbst in der Stunde seines Todes wechselte er deshalb in einer letzten Konzentration seines Bewusstseins noch einmal vom Deutschen ins Italienische, damit sein letzter Seufzer auch ja verstanden würde, als sein ultimatives Testament: „Signore, ti amo!“ Herr, ich liebe Dich.

Eigentlich hätte ich mich also freuen können, als ich erfahren habe, dass er mit diesen Worten am 31. Dezember 2022 mit 95 Jahren als ältester Papst der Geschichte von seinen Leiden erlöst wurde und friedlich starb. Tatsächlich ging es mir aber wie Kardinal Pell, seinem Nachbarn, der zwei Tage später Colm Flynn von EWTN in seinem letzten Interview gestand: „I’m amazed, how sad I am.“ [Ich bin erstaunt, wie traurig ich bin.] So ging es mir auch.

Denn Johannes Paul II. habe ich schon zu Lebzeiten wie einen Heiligen verehrt und geliebt. Benedikt XVI. war mir dagegen so nah wie kein Papst je zuvor. Zudem war er einer der zauberhaftesten Menschen, denen ich bis heute begegnet bin. Freude bei seinem Tod war aber dennoch da, erstens darüber, dass er es endlich geschafft hatte und zweitens, dass der liebe Gott selbst mit seinem Todestag quasi zwei blaue Bestätigungshäkchen unter ein Buch gesetzt hatte, das Beiträge versammelte, mit denen ich sein Pontifikat als Rom-Korrespondent der Berliner Tageszeitung DIE WELT begleitet hatte. Dort hatte ich im Vorwort geschrieben: „In die Geschichte wird Benedikt XVI. wohl eingehen als der letzte Europäer auf dem Thron Petri.“ Deshalb wollte ich das Buch auch so nennen. Nach meinem Wunsch sollte es „Der letzte Abendländer“ heißen, oder „Der letzte Europäer“. Dieser Vorschlag überzeugte meinen deutschen Herausgeber jedoch nicht, weshalb es schließlich unter dem Titel „ Benedikt XVI. Seine Papstjahre aus nächster Nähe“ (und in Amerika als „Benedict Up Close“) erschien. Egal.

Gestorben ist Benedikt dennoch als „der letzte Abendländer“. Ich hatte Recht behalten, und das freute mich natürlich. Denn die Kraft, die Benedikt in seinem Innersten antrieb, hatte in fast kosmischer Balance bis zum 31. Dezember ausgeharrt, bis zu dem Datum also, an dem die Kirche – wie Benedikt vollkommen bewusst war – Silvester feiert und mit ihm das Andenken an jenen Papst, der Kaiser Konstantin begleitet hatte und schließlich taufte, der mit seinem Toleranzedikt von Mailand im Jahr 313 das Abendland begründet hat. So starb Papst Benedikt, der letzte Abendländer, am Todestag Papst Silvesters „des ersten Abendländers“.

Mit seinem Tod ging eine Epoche zu Ende und ein neues Kapitel wurde aufgeschlagen. So war es auch bei ihm wie mit dem Evangelium, das der Wind am 8. April 2005 auf dem Sarg Johannes Paul II. vor den Augen der ganzen Welt umblätterte und schließlich zuklappte. Nach dem großen europäischen Papst aus Polen ist mit Benedikt XVI. wirklich der allerletzte Europäer auf den Papstthron gelangt. Und nicht nur das. Mit Joseph Ratzinger war am Anfang des III. Milleniums tatsächlich auch noch einmal ein letzter Platoniker Nachfolger des Apostels Petrus geworden.

Der philosophische Begriff des Platonismus ist vielleicht ein wenig unscharf, der sinnbildlich womöglich am besten durch Raffael verdichtet wurde in dem Fresko der „Schule von Athen“, die er zwischen 1509 und 1511 für Papst Julius II. schuf. Da sehen wir Platon, wie er vor dem Hintergrund der himmelaufragenden Neubauten des neuen Petersdoms mit seiner Rechten nach oben in den Himmel zeigt – als den Bereich der reinen Begriffe –, während Aristoteles neben ihm die Hand nach unten über die Erde breitet – über den Bereich des Faktischen.

Dieses Sinnbild hilft deshalb auch zu erklären, warum der platonische Joseph Ratzinger für die archetypische Vorstellung der Kirche als einer „societas perfecta“ so empfänglich war und für eine göttliche Liturgie im Himmel, die er quasi als Quelle jeder Erneuerung begriff und wie es kam, dass er der Vorstellung wahrer Urbilder so unbekümmert nachgehen konnte. Auch eine seiner ersten Amtshandlungen im November 2005, die den Ausschluss „von Personen mit homosexuellen Tendenzen“ vom Priesteramt vorsah, kann nur vor diesem Hintergrund verstanden werden – und zwar mitten im Vatikan, wo aller Wahrnehmung nach seit Menschengedenken nichts Menschliches fremd ist, erst recht nicht die verschiedenen sexuellen Orientierungen der menschlichen Spezies!

Sein späterer Aufruf zu „Entweltlichung“ der Kirche fügt sich ebenso in diese Schau auf den Kosmos wie seine unbekümmerte Analyse der islamischen Welt in seiner Regensburger Rede. Es erklärt auch, wieso ausgerechnet dieser zierliche Feingeist schon als Präfekt der Glaubenskongregation so unbekümmert eine radikale Null-Toleranz für Missbrauchstäter verkünden konnte, deren Durchsetzung auch seinem viel robusteren Nachfolger vollkommen unmöglich scheint.

In dem Sinn glich Joseph Ratzinger alias Benedikt XVI. in vieler Hinsicht jenem letzten abendländischen Ritter aus der spanischen Mancha, der seine Rosinante einsam und unverdrossen der Zukunft entgegenlenkte, durch Heerscharen von Gegnern ohne Zahl. „Wenn wir von dem Begriff der Wahrheit abgehen, gehen wir von den Grundlagen ab“, sagte er trocken. „Der wirkliche Friede ist streitbar. Ich darf die Lüge nicht hinnehmen, damit Ruhe ist. – Glaube heißt Widerstand gegen die Schwerkraft.“

Damit sind wir beim Kern und Wesen seines Pontifikats. Es war in vieler Hinsicht ein authentischer christlicher Wunderglaube, den Naturgesetze nicht einhegen können. Vor allem aber war Wahrheit für Benedikt niemals relativ, sondern vollkommen absolut und einzigartig. Mit seinem Vorgänger war er sich darin einig, dass „Wahrheit“ zuerst und zuletzt Begegnung ist. Wahrheit „ist eine Person“, wie der greise Johannes Paul II. am 5. Juni 2004 den Jugendlichen in Bern mit letzter Kraft noch zurief: „Es ist eine Gegenwart, ein Gesicht: Jesus Christus!“ Oder wie Benedikt es nach ihm in seiner ersten Enzyklika formulierte: „Am Anfang des Christseins steht nicht ein ethischer Entschluss oder eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt.“ Jesus Christus ist der Weg zur Wahrheit, weil er die Wahrheit selbst ist.

Nur so ist zu verstehen, dass Benedikt mit über 80 Jahren der überwältigenden Fülle seiner Aufgaben als Papst gegen viele Widerstände und noch mehr Unverständnis und Kopfschütteln die Zeit abtrotzte, eine Trilogie über Jesus von Nazareth zu schreiben. Mit diesem Werk erwies er sich auch als der letzte Papst des Gutenberg-Zeitalters, an dessen Anfang Dr. Martin Luther stand, obwohl nicht nur große Texte, sondern vielleicht noch mehr noch Bilder und Zeichen sein Pontifikat überwölbten, von dem Wind in der Bibel auf dem Sarg seines Vorgängers über den Regenbogen in Auschwitz-Birkenau bis zum Blitz in die Kuppel des Petersdoms am Abend seines Rücktritts. Das Siegel seines Pontifikats war aber das Bild jenes leisen Gebets, mit dem er am 1. September 2006 vor dem verschollenen Schweißtuch in Manoppello das „wahre Bild“ des lebendigen Gottes wieder in die Kirche zurückholte, vor dem der wortgewaltige Gelehrte ins Schweigen und Staunen verfiel wie ein Kind.

Vor dem wahren Bild des wahren Gottessohnes stand Benedikt selbst vor der Wahrheit, dessen Biografie er sich nachher als Papst noch abverlangte. Das müssen wir uns vor Augen halten, um zu verstehen, warum ihm sein letzter Seufzer in einem letzten Kraftakt des Bewusstseins auf Italienisch und nicht auf Deutsch über die Lippen kam. Benedikt XVI wollte ganz offensichtlich, dass Fra Eligio, sein polnischer Krankenpfleger und letzter Zeuge seines Sterbens, die Worte im Dunkel der Nacht auch wirklich verstand und überliefern konnte. Am Schluss hat er die Wahrheit selbst umarmt, die nicht platonisch oder aristotelisch ist, sondern ein und dieselbe Person im „Himmel wie auf Erden“ umfasst: Jesus Christus.

Dieser Artikel wurde ursprünglich für die Zeitung National Catholic Register verfasst.

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