Erster November! Allerheiligen! An den mit Blumen geschmückten Gräbern versammeln sich die Gläubigen, um ihrer verstorbenen Angehörigen zu gedenken. Vielerorts in Deutschland ist dieser Tag ein Feiertag, ein Tag der Stille. Das hat sich in das Gedächtnis der Menschen so sehr eingebrannt, dass sogar die evangelischen Christen den Blumenschmuck auf die Friedhöfe tragen, obwohl sie doch erst einige Wochen später den Totensonntag feiern.

Wissen wir aber auch, dass wir liturgisch gesehen den Verstorbenen einen Tag zu früh gedenken, denn eigentlich ist ihnen der zweite November, Allerseelen, gewidmet? Da an Allerseelen aber meist gearbeitet wird, werfen wir einen Tag vorher Äpfel und Birnen durcheinander, Himmel und Fegefeuer, wie wir noch sehen werden.

Schnitt! Ein anderer Novembertag. Martinstag! Meine Mutter war in der Nacht verstorben und wir, ihre Kinder, sprachen mit dem evangelischen Gemeindepastor. Ganz naiv fragte ich ihn, welches Gebet ich nun für meine Mutter beten könne, die doch im Himmel sei? Die Antwort des sympathischen Mannes war erschütternd.

Gebete seien nicht nötig! Meine Mutter sei nun ganz tot, auch ihre Seele. Das sei aber nicht schlimm, denn wir hatten die Hoffnung, am jüngsten Tag von Gott neu geschaffen wiederzuerstehen. Er verkündete uns offenbar die Ganztod-Theologie á la Karl Barth. Wie unlogisch, dachte ich nur, diese neugeschaffene Person wäre doch nicht mehr meine Mutter, sondern jemand ganz anderes, eine Art Klon. Das war beunruhigend. Wenn wir an die endzeitliche Auferstehung glauben, dann sollte es doch vom Tod bis dahin eine Kontinuität geben. Ich begab mich auf die Suche!

Fündig wurde ich im apostolischen Glaubensbekenntnis, wo alle Christen genau diese Kontinuität bekennen. Gemeint ist nicht die Stelle ganz am Ende, wo wir die Auferstehung der Toten und den Glauben an das ewige Leben bekräftigen – das hatte auch der evangelische Pastor nicht geleugnet –, sondern jene, die von der "Gemeinschaft der Heiligen" spricht. Was ist damit gemeint? Der Apostel Paulus hatte im ersten Korintherbrief – wohl ausgehend vom Herrenwort "Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben" (Joh 15, 5) – geschrieben: "Ihr aber seid der Leib Christi und jeder Einzelne ist ein Glied an ihm." (1. Kor 12, 27). Während Jesus sich im Abendmahlsaal an die Jünger richtete, meinte Paulus die ganze Gemeinde. Demnach sind alle Christgläubigen eng miteinander verflochtene Glieder eines Leibes, dessen Haupt Jesus Christus ist.

Dieser Leib ist nichts anderes als die Kirche.

Freilich sprach Paulus in seinem Brief ausschließlich die auf Erden lebenden Christen Korinths an, lebte man doch damals noch in Erwartung des nahen Endes. Als aber die Jahrzehnte vergingen, fragte man auch nach den Seelen der Verstorbenen. Waren sie nicht auch Glied dieses Leibes? Konnte man auch für sie Fürbitte leisten? Spätestens seit Augustinus herrscht dann die Auffassung vor, dass zur Gemeinschaft der Heiligen auch die verstorbenen Christen gehören. Das jedenfalls hat die katholische Kirche immer bekräftigt; besonders schön Papst Pius XII. 1943 in seiner Enzyklika Mystici Corporis.

Wir dürfen also zurecht fragen: Können am Leib Christi bis zum Ende der Zeiten Glieder fehlen, die dann erst auf Gottes Fingerschnipsen wiedererstehen? Freilich könnte Gott so handeln, aber wäre das seinem Wesen gemäß? Die Antwort wird schon im alten Bund gegeben, wenn Jahwe seinem Volk zusichert: "... ich vergesse dich nicht. Sieh her: Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände, ..." (Jes 49, 15f). Gott vergisst die Seelen der Verstobenen nicht! Sie sind für ihn ebenso lebendig, wie wir für ihn lebendig sind. Ganztod-Theologie ade!

Gott vergisst aber auch nicht unser irdisches Leben, was wir getan und unterlassen haben und vor allem nicht, ob wir schon auf Erden heilig wurden.

Deswegen gibt es die Vorstellung, dass die Kirche aus drei Ständen besteht. Neben allen auf Erden lebenden Christen und den Heiligen im Himmel existiert ein dritter Stand, der aus jenen besteht, die eben nicht als Heilige gestorben sind und noch geläutert werden müssen, bevor sie Gott schauen können. Machen wir uns nichts vor, das werden die meisten von uns sein. Der Ort dieser Läuterung ist das Fegefeuer.

"Was soll das", werden einige fragen, "Gott ist barmherzig, wofür braucht es ein Fegefeuer?" Die Antwort der Jahrtausende lautet: "Weil er gerecht ist!" Selbst wenn wir in der Beichte von unserer Sündenschuld losgesprochen wurden, bleiben Folgen der Sünde bestehen, die abgebüßt werden müssen. Ein Beispiel mag das verdeutlichen.

Ein verurteilter Mörder kann zwar begnadigt werden, die Tat selbst und die Folgen seiner Tat bleiben: Das Opfer wird nicht mehr lebendig. Familie und Freunde leiden ihr ganzes Leben lang und so fort. Auch wenn der Täter nun frei ist, muss er doch glaubhaft bereuen und büßen, damit ihn die Gesellschaft wieder akzeptieren kann. Einen vergleichbaren Bußakt leisten die Verstorbenen im Fegefeuer, auch für die kleinen, lässlichen Sunden. Das hat Jesus in seinem Gleichnis vom reichen Prasser und vom armen Lazarus angedeutet (Luk 16, 19ff), das hat die Kirche in den Konzilien von Florenz und Trient als Dogma definiert, und so steht es heute noch im Katechismus. Wie die Läuterung aussieht ist nicht offenbart! Besteht sie in der schmerzhaften Begegnung mit der reinen Wahrheit in der Gestalt des Richters Jesus? Ist es ein schmerzlicher Liebeskummer, noch nicht bei ihm sein zu dürfen Wir wissen es nicht.

Das lateinische Wort für Fegefeuer lautet "Purgatorium" = Reinigungsort. Das ist schon etwas sympathischer als Fegefeuer. Die armen Seelen brennen womöglich gar nicht, werden aber irgendwie gereinigt.

Es geht also nicht um Höllenstrafen, sondern um den vom Herrn gewiesenen Weg in den Himmel. Genau deswegen sollten wir an Allerheiligen Äpfel und Birnen nicht in einen Sack stopfen: An Allerheiligen feiern wir die Heiligen im Himmel, am Allerseelenfest – das um 1000 vom heiligen Odilo von Cluny eingeführt wurde, während das Gebet für die Verstorbenen schon viel älter ist – gedenken wir der Verstorbenen am Reinigungsort.

Da in der Gemeinschaft der Heiligen alle Glieder durch das Band der Sakramente und der Liebe miteinander verwoben sind, können wir als Katholiken das tun, was der evangelische Pastor verneinte: Für die Verstorbenen beten. Papst Benedikt XVI. hat das in seiner Enzyklika "Spe salvi", 48 wunderbar formuliert: "In mein Leben reicht immerfort das Leben anderer hinein (...). Und umgekehrt reicht mein Leben in dasjenige anderer hinein: im Bösen wie im Guten. So ist meine Bitte für den anderen nichts ihm Fremdes, nichts Äußerliches, auch nach dem Tode nicht. In der Verflochtenheit des Seins kann mein Dank an ihn, mein Gebet für ihn ein Stück des Reinwerdens bedeuten." Diese Worte haben sehr dazu beigetragen, dass ich heute katholisch bin. Danke Heiliger Vater!

Leider vergessen wir oft, für unsere Verstorbenen zu beten. Ist das aber nicht die Komplementärsünde zur Abtreibung? Vor der Geburt gibt es Leben, ebenso wie nach dem Tod – beides braucht unsere Unterstützung. Vergessen wir deswegen auch nicht den Allerseelenablass, den wir zwischen dem 1. und 8. November mit einmaliger Beichte, täglicher Kommunion, Gebet in der Meinung des Heiligen Vaters und dem Gebet für die Verstorbenen auf einem Friedhof einmal täglich gewinnen können. Vor allem aber: Gedenken wir das ganze Jahr über unserer Toten.

Ganz selbstverständlich bete ich auch für meine geliebte evangelische Mutter und alle meine verstorbenen Vorfahren. Wie sagte einmal ein Prälat? "Im Himmel sind alle katholisch!" Für eine gute Todesstunde und die Rettung unserer Lieben dürfen wir zudem auch nachträglich beten, denn Gott ist ewig und weiß immer schon, was wir tun. Rufen wir vielleicht einfach Maria zur Hilfe und beten im Rosenkranz nach jedem Geheimnis das Fatima-Gebet:

"O, mein Jesus, verzeih uns unsere Sünden, bewahre uns vor dem Feuer der Hölle, führe alle Seelen in den Himmel, besonders jene, die Deiner Barmherzigkeit am meisten bedürfen."

Zuerst erschienen im VATICAN-Magazin, Ausgabe 11 / 2018. Veröffentlicht bei CNA Deutsch mit freundlicher Genehmigung.

https://twitter.com/cnadeutsch/status/1110081719661723653?s=20 

Hinweis: Meinungsbeiträge spiegeln die Ansichten des jeweiligen Autors wider, nicht unbedingt die der Redaktion von CNA Deutsch