Der emeritierte Papst Benedikt XVI. hat für die realistische Analyse der sexuellen Aufklärung und der sogenannten sexuellen Revolution herbe, teilweise feindselige Kritik ertragen müssen. Warum eigentlich? Herrscht eine sentimental-nostalgische Verklärung dieser Bewegung noch immer vor?

Jeder von uns kann sich vielleicht vorstellen – dazu bedarf es keiner Fantasie –, wie scharf die Kritik ausgefallen wäre, wenn Benedikt XVI. in dezidiert kritischer Absicht das nachfolgend Zitierte gesagt hätte: "Zu den Projekten der 68er gehörte die sexuelle Befreiung der Kinder, der Bruch aller Schamgrenzen wurde bei einem Teil der Bewegung zum Programm. So entstand ein Klima, in dem selbst Pädophilie als fortschrittlich galt." Davon hat Benedikt nicht gesprochen, und das musste er auch nicht. Eine sprachlos machende Analyse der skandalösen Grenzüberschreitungen und Anleitungen zum sexuellen Missbrauch in der Sexualpädagogik im Gefolge der 1968er-Bewegung stand im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" – am 21. Juni 2010. Darf man als romtreuer Katholik eigentlich den "Spiegel" lesen? Und ob! Wer möchte, kann sich jederzeit informieren. Vielleicht ist das auch eine gute Anregung für die katholischen Theologen, die dem gesellschaftlichen und politischen Aufbruch der 1968er-Bewegung grundsätzlich so viel Positives abgewinnen.

Warum erwähnen sie nicht, welche Konsequenzen für Pädagogik, Familie, Ehe und Moral diese gesellschaftliche Revolte mit sich brachte? Pater Engelbert Recktenwald hat vor wenigen Tagen alles Nötige in seinem lesenswerten Beitrag "Benedikts Analyse" für CNA Deutsch gesagt. Der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf etwa äußerte sich 2017 grundsätzlich anerkennend über die 1968er-Bewegung und ihre Bedeutung für die Kirche. Heute räsonieren manche Bischöfe so erfindungsreich wie nebulös über das Männerbündische in der Kirche. Einige treten als wortmächtige Erneuerer auf. Auch über die Segnung homosexueller Paare wird wieder nachgedacht.

Indessen, lesen wir vielleicht doch einmal den fast zehn Jahre alten Artikel aus dem "Spiegel" aufmerksam. Dieses Magazin steht bekanntlich nicht im Verdacht, eine Apologie der römisch-katholischen Kirche betreiben zu wollen. Die Journalisten Jan Fleischhauer und Wiebke Hollersen schreiben sehr deutlich: "Es ist in Vergessenheit geraten, aber gerade die 68er und ihre Nachfolger waren von einer seltsamen Obsession ergriffen, was die kindliche Sexualität angeht. Das Kapitel kommt in den Feierstunden der Bewegung nie vor. Die Veteranen scheinen in diesem Punkt von einem akuten Gedächtnisverlust befallen, dabei wäre eine Aufarbeitung auch dieser Umwälzung der Verhältnisse durchaus lohnend. Zur Wahrheit in der Debatte über den sexuellen Missbrauch gehört, dass die Verwirrung, wo die Grenzen im Umgang mit Kindern liegen, sich nicht auf die katholische Kirche beschränkte. Tatsächlich beginnt gerade in den sogenannten fortschrittlichen Milieus eine Sexualisierung der Kindheit, ein schrittweises Absenken der Tabuschranken, an dessen Ende sogar der Geschlechtsverkehr mit Kindern denkbar ist."

Die schwerwiegenden Missbrauchsdelikte, diese unvorstellbaren, sprachlos machenden Verbrechen, in der römisch-katholischen Kirche sind damit weder relativiert noch nivelliert – und das hat auch Benedikt XVI. nie im Sinne gehabt, als er über die 1968er-Bewegung sprach. Wir verstehen den emeritierten Papst richtig, wenn wir in ihm einen theologischen Aufklärer und einen profilierten Kritiker der postmoralischen Gesellschaft sehen. Wir sollten ihm endlich zuhören. Er hat uns allen wirklich etwas zu sagen.

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Erstveröffentlichung 3.6.2019. Hinweis: Meinungsbeiträge spiegeln die Ansichten der Autoren wider, nicht unbedingt die der Redaktion von CNA Deutsch.  

 

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