Lange bevor das Leben durch die große Seuche und ihre Folgen zum Erliegen kam und auch das Reisen verboten wurde, warb bereits ein großer deutscher Verlag mit dem Slogan "Bei all den Verspätungen reisen Sie besser mit uns." für das Lesen als Gedankenreise. Eine unvermutete Prophetie. Jetzt, wo das Leben sich in die Häuser zurückgezogen hat, wo Berührungen, Reisen, Versammlungen und damit vieles, was der Mensch als gemeinschaftsbedürftiges Wesen braucht, unter Strafe gestellt oder wenigstens mit gesellschaftlicher Verachtung bedacht wird, kapitulieren viele vor den neuen Wirklichkeiten, indem sie sich in andere Wirklichkeiten flüchten, die nicht mit tödlichen Infektionen bestraft sind. Es ist die Reise in die Gedankenwelt. Wobei die Prophetie des Verlagsslogans, dass die Behinderungen des wirklichen Lebens eine Kompensation im Lesen finden könnten, für heutige Verhältnisse sicher nicht mehr als ein Wunschdenken ist, weil die Fähigkeit zu lesen den meisten abhanden gekommen ist.

Das Reisen in Gedanken und Vorstellungen, das einem die Literatur möglich macht, das Hineinkriechen in andere Zeiten und Orte, vor allem die Bannung in Wirklichkeiten, die man selbst greifbar niemals erleben würde, die aber dennoch höchst real sind und einem von Wortkünstlern dargeboten werden, so dass man sagen kann, man habe sie erlebt, obwohl man sie nur gelesen hat, diese literarische Befreiung aus den verschiedenen Formen von Haft, in die Menschen durch Krankheit oder Beschränkungen anderer Art geraten können, ist heute nicht sonderlich mehrheitsfähig. Die meisten nutzen gegenwärtig die digitalen und virtuellen Möglichkeiten, um vom Sofa aus zu kommunizieren, zu reisen, sich in andere Welten als die des Wohnzimmers oder des Krankenbetts mitnehmen zu lassen.

Die Digitalität genießt dabei einen schillernden Ruf. Für die einen ist sie ein grandioser Betrug an der Wirklichkeit, weil sie etwas Reales virtualisiert und zu einem "als ob" macht. Marcel Reich-Ranicki hat diesen Vorbehalt auf den Punkt gebracht, als er auf die Frage, ob ihm die literarische Darstellung einer Sache die Wirklichkeit ersetzen könne, antwortete: "Von einem gemalten Schnitzel werde ich nicht satt!".

Für die anderen stellt die Digitalität einen legitimen Zugang zur Wirklichkeit dar, den man zwar mit gebührendem Respekt vor seinem Missbrauch beobachten muss, der einem aber alles in allen das zeigen kann, was man – aus welchen Gründen auch immer – jetzt gerade nicht anfassen, bereisen, bewohnen, erleben und umarmen kann. Die Berechtigung eines solchen Zugangs liegt für diese Gruppe von Zustimmern in der Notsituation. Zumal vieles, was über einen digitalen Zugang erschlossen wird, eben nicht virtuell ist, sondern real, weshalb der Begriff der "virtuellen Realität" eine contradictio in adiecto ist, ein Widerspruch in sich, und damit von vorn herein nicht geeignet

ist, zur Klärung der Frage beizutragen, ob es im digitalen Zeitalter eine digitale Seelsorge geben könne. Denn die Wirklichkeit – auch die übernatürliche Wirklichkeit – als Grund und Ziel jeder Seelsorge darf nicht zur Scheinwirklichkeit werden.

Deswegen entfesselt sich in diesem Zusammenhang eine rege Diskussion über die Frage, ob eine digitale Seelsorge eine virtuelle Seelsorge ist beziehungsweise eine Seelsorge, die sich mit einem "als ob" und nicht mit wahren Realitäten beschäftigt. Interessanterweise mischen sich hier

in der Argumentation Vertreter ganz unterschiedlicher theologischer Schulen. Traditionell eingestellte Katholiken lehnen die Angebote des Livestreams von Gottesdiensten wegen der darin fehlenden leib-geistigen Kommunion mit Christus ab und fordern die Öffnung der Kirchen zur Feier der Liturgie und zum realen Sakramentempfang. Und eher progressive Liturgiewissenschaftler fehlt bei der digitalen Übertragung der Gottesdienste die "participatio actuosa", die tätige Teilnahme einer physisch anwesenden Menschengruppe. Sie empfehlen Abstand von den Gottesdienstübertragungen und legen Hausgottesdienste ans Herz, in denen Familien und Gruppen zusammen beten und ohne Priester und Konsekration ihren Trost in der Erzählgemeinschaft suchen. Hier mag man die Endmoräne des theologischen Abschieds vom kultischen Priestertum erkennen, die den christlichen Gottesdienst seines kultischen Wesens entkleidet und ihn mit einer Mischung aus jüdischer Erinnerungskultur häuslicher Gottesdienstgruppen und protestantischer Entbehrlichkeit sakramentaler Vollzüge umgeben hat.

Für die Skeptiker gegenüber den neu entstehenden Formen digitaler Seelsorge in beiden theologischen Lagern nährt sich das Ressentiment im Hinblick auf die digitalen Formen des Realitätsbezugs aus der unbestrittenen Tatsache, dass zur Wirklichkeit eigentlich immer auch deren analoge Erhärtung gehört, eben der Händedruck, der Geruch der Bergwiese, der Schweiß beim Koffertragen auf Reisen, der Geschmack des fremdländischen Essens, der unmittelbare Blick in die Augen des anderen und die zahlreichen unaussprechbaren Wahrnehmungen, die ein menschliches Leben, dessen Welterkenntnis mit Sinneseindrücken beginnt, auszeichnet. All das kann der Bildschirm in der Tat nicht bieten, schlimmer noch, die Speicherung von digitalen Daten und die damit verbundene Möglichkeit, alles und jedes zu wiederholen, macht die Realität zu einer manipulierbaren Angelegenheit, besser: Sie entthront sie in ihrer Herrschaft über das, was ist und nimmt ihr das letzte Wort über das zu entscheiden, was etwas sei. Digitale Zugänge zur Wirklichkeit können aus ihr unmerklich etwas Virtuelles und damit Scheinbares machen, das empfindlich dem widerspricht, um was es der Seelsorge geht: dem Heranführen an die denkbar größte Wirklichkeit überhaupt, an die Wirklichkeit Gottes. Der Grat, auf dem man in der Frage über die Zulässigkeit digitaler Seelsorge zwischen Wirklichkeit und Suggestion wandert, ist äußerst schmal.

Aufgrund des manipulativen Charakters der Digitalität ist also tatsächlich ihr Einsatz in der Seelsorge eine gefährliche Angelegenheit – zumal für den Kult, dessen Wesensmerkmal es ja ist, eine reale Präsenz zu zelebrieren. Ihn in digitaler Übertragung zu feiern und damit dem Anschein auszuliefern, er sei etwas im Grunde Virtuelles, würde ihn im Kern vernichten. Die reale Präsenz des überzeitlichen Gottes, der höchst undigital zeitlich geworden war und daher in analogen Formen gegenwärtig bleiben wollte – auch als die Zeit Seiner historisch greifbaren Menschlichkeit abgelaufen war und Er sich als verklärter Sieger über den Tod in den Himmel erhoben hatte –, sollte – so das ausdrückliche Vermächtnis – eine Präsenz mit Leib und Blut und also materiell sein und mehr als nur eine Bewusstseinslage.

Von daher darf eine Digitalisierung der Zugänge, die heute zum Mitfeiern der Liturgie möglich sind, niemals dazu führen, dass das, was sie dort mitvollziehbar macht, etwas Unwirklich-Scheinbares wird. Es ist ein hoher Anspruch, die notwendige Dimension der Kommunikation mit dem menschgewordenen Gott digital zu kompensieren. Und zwar, weil es trügerisch sein kann, dem ohnehin nicht greifbaren Gott durch das Medium der Digitalität eine Oberfläche zu geben, die Ihn darstellt aber die nicht wirklich mit Ihm verbindet. Es ist nicht auszuschließen, dass die Echtheit der Gotteserfahrung bedroht wird, wenn man ihr die analoge Fassbarkeit nimmt.

Dass diese Vorbehalte sehr ernst zu nehmen ist, beweist die Tatsache, dass sie in katholischen Lagern, in denen die Sakramentalität und damit die Dinglichkeit des Glaubensvollzugs als fundamental gilt, ebenso vorgebracht werden wie in evangelikalen Gemeinschaften, denen zwar die stoffliche Dimension des Sakramentes fehlt, die aber für ihre Zusammenkünfte,

die geprägt sind vom Gefühl menschlich greifbarer Nähe, keinen Ersatz darin finden, wegen der Coronakrise über Bildschirme zusammengeschaltet zu werden, um Halleluja zu singen. Eine Freikirche im Elsass mutierte wegen ihres Bedürfnisses nach realer Zusammenkunft gar zum stigmatisierten Infektionsherd, weil sie sich in den Anfängen der Aufregung noch wacker mit zweitausend Menschen zum Lobpreis versammelt hatte.

Was den katholischen Vorbehalt gegen die Übertragung der Liturgie über das Internet betrifft, mag man sogar in den berechtigten Warnungen eine Schützenhilfe finden, die Josef Pieper schon 1954 gegenüber der Fernsehübertragung der Heiligen Messe formuliert hat. Bereits in den Anfängen der medialen Einmischung in die kultischen Dimensionen des Christentum vermerkt er, dass der lebendige Sinn dafür, was eine heilige Handlung ist, entscheidend durch die Fernsehübertragung der Heiligen Messe geschwächt sei, gehöre doch zum Wesen der heiligen Handlung die Schranke gegenüber dem profanen Bereich – "von Markt und Straße" wie Pieper sagt –, was durch die Übertragung des Kultes vom geschützten Raum der geweihten Kirche in den ungeschützten Raum der Öffentlichkeit mit dem bestraft würde, das dem christlichen Kultmysterium am feindlichsten und am gefährlichsten ist: mit Profanierung. (vgl. Josef Pieper: Weistum Dichtung Sakrament, 1954, S. 271 – S. 275).

Nun muss man zugeben, dass Pieper trotz seiner persönlichen Erfahrungen mit den Besonderheiten, Einschränkungen und Herausforderungen, die die Zeit des Zweiten Weltkriegs mit sich gebracht hatte, wohl nicht im Traume daran denken konnte, wie sehr die Digitalisierung das Leben aller Menschen in großer Unausweichlichkeit bestimmen und dass es möglich werden würde, der gesamten christlichen Welt die physische Teilnahme an ihren Kultfeiern zu verunmöglichen.

Deswegen stellt sich gegenwärtig die berechtigte Frage, wie es zur Zeit der Pandemie, in der alles Griffige, Leibliche und Stoffliche versagt (und versagt wird), eine wahre Seelsorge – zumal eine sakramentale – auf der Basis des Glaubens an einen

Erlöser geben kann, der stets mit Handauflegungen, Berührungen, Anhauchen in Seiner Erdenzeit geheilt und gesegnet hat und der Abstandsregeln aller Art bewusst durchbrochen hat. Was bleibt uns gegenwärtig in der Zeit der Abstinenz von für das Menschsein wesentlichen Inkarnationen der Seele in den Leib? Kann und darf es eine digitale Seelsorge geben, ohne dass sie das Wesen der Seelsorge ändert beziehungsweise die Seelsorge womöglich aus der Realität Gottes eine virtuelle Größe macht?

Als wir überrollt wurden mit den Auflagen zur Inhaftierung des täglichen Lebens, schossen auch die digitalen Seelsorge-Angebote als eine Reaktion auf den Katastrophenfall aus dem Boden. Das Spektrum reicht dabei von der berechtigten Sorge um die Seelen und deren Teilnahme an der kirchlichen Gemeinschaft und ihres Kultes bis hin zu einem recht naiven und unbedachten Flirt mit der modernen Kommunikationstechnik.

Ein Hilfe zum Finden einer Antwort auf die Frage nach der Legitimität digitalisierter Seelsorge mit Angeboten live-gestreamter Messen und Gebetszeiten, mit Video-Katechesen und Telefonseelsorge lassen sich in weit ganz voneinander entfernten Räumlichkeiten finden, in denen mal große, mal kleine Geschichte geschrieben wurde. Es ist der Abendmahlssaal zu Jerusalem und eine kleine Klosterpforte in Altötting.

Zunächst der Abendmahlssaal. Hier findet sich eine Antwort auf die Frage nach der Realität Gottes und ihrer Erfahrbarkeit. Und zwar gleich zwei Mal. Einmal bei der Einsetzung der Eucharistie am Abend vor dem Kreuzestod Christi. Hier wird als Vorwegnahme und Verfügung zur Fortsetzung des Opfers auf Golgatha eine Kultfeier von Christus gestiftet. Sie ist nichts Beliebiges, keine bloße Ergänzung persönlicher Frömmigkeit, sondern hat einen bindenden Charakter, weil in ihr der Kirche aller Zeiten der Leib und das Blut des Herrn anvertraut werden, um darin (!) Ewiges Leben zu finden. Hier ist die Frage nach der Realpräsenz Christi sehr deutlich nicht bloß spirituell verstanden und somit für unsere Lebenszeit in der Tat auch nicht digitalsierbar. Der Leib des Herrn ist stofflich. Er ist eine Speise, die man körperlich zu sich nehmen muss, damit sie einen seelisch stärkt. Hier gibt es Greifbares, das zugleich unbegreiflich und unsichtbar ist.

Das zweite Moment der Auseinandersetzung zwischen dem Stofflichen und dem Abbildhaften in der Wirklichkeit der Auferstehung spielt sich ebenfalls im Abendmahlssaal ab. Es ist die Begegnung des Auferstandenen mit den freiwillig aus Angst eingeschlossenen Jüngern. Dabei handelt es sich um ein hohes und exklusives Privileg. Thomas – beinahe als wäre er ausersehen gewesen, dadurch für unsere Tage eine Klärung herbeizuführen – konnte nicht anwesend sein, als die anderen mit dem Herrn real zusammen waren. Denn sein Ausschluss aus der bevorzugten Gruppe derer, die den Herrn in verklärter Leiblichkeit sehen und berühren durften, versetzt ihn, den Apostel, in die Lage aller, denen Sehen und Berühren versagt bleibt – also in unsere Lage. Von uns wird verlangt zu bekennen: Der Herr ist auferstanden, aber wir haben dafür keinen Beweis. Man kann den Auferstandenen nicht sehen und berühren, nicht mit Ihm sprechen. Das, was den anderen Aposteln gegönnt ist, dass der Erlöser einen griffigen Beleg für Seine Auferstehung liefert, bleibt aus – für Thomas und auch für uns. Man muss sich allein auf Berichte verlassen. Thomas erhält einen solchen. Es bleibt ihm die Erzählung. Zwar wird sie blumig und enthusiastisch ausgefallen sein und man wird ihm die Begegnung mit dem Auferstandenen in den schillerndsten Farben beschrieben haben, so "als ob" der Herr jetzt da wäre. Aber das genügt ihm nicht. Thomas reicht das Abschildern und Darstellen nicht aus. Es ist ihm zu virtuell. Er willen anfassen können.

Vorstellungen sind ihm zu wenig. Er will harte Fakten, die begreifbar sind im wörtlichen Sinne: Wunden und Male will er sehen und berühren. Dann erst ist die Wirklichkeit keine erzählte mehr, sondern eine erfahrene. Dann erst ist sie auch seine und nicht nur die aus zweiter Hand übernommene...

Als sein Wunsch erfüllt wird und er den Herrn sehen und berühren darf, ist er glücklich und beschämt zugleich. Denn über aller Freude, dass er nachträglich ebenfalls noch privilegiert wird, den physischen Kontakt mit dem verklärten Leib des Auferstandenen zu erhalten, wird ihm die Berührung der Wunden und das Hineinlegen seiner Finger in die durchbohrte Seite des Erlösers schnell vom Privileg zur Belehrung und zum Vorwurf – zum Vorwurf seiner Missachtung der Erzählung seiner Freunde und seines mangelnden Vertrauens, dass der Herr ihm, dem Apostel eigentlich durch genau dies, nämlich durch das Zeugnis der anderen Jünger die Gewissheit Seines Ostersieges schenken wollte.

Genau darin liegt die Pädagogik der Begegnung des Auferstandenen mit Thomas. Dass er ihm diese Begegnung nicht schenkt, um ihm einen Beweis zu liefern, sondern um ihm ob seines Kleinglaubens zu beschämen. Der Ausruf "Mein Herr und mein Gott", der Thomas entglitt, als ihm die Knie vor dem Auferstandenen weich wurden, entsprang seinem Sehenund Fühlen-Können. Seliger aber – so wird er belehrt – ist es, wenn man zu diesem Bekenntnis des anwesenden Herrn und Gottes auch ohne Berührung gelangt – eben durch den Glauben an das, was die Zeugen gesehen haben und was sie – das ist entscheidend – als Realität (!) übermitteln. Die Weise der Übermittlung hätte Thomas nicht davon abhalten dürfen, die Auferstehung zu glauben. Schließlich gab es ja das Sehen und Berühren – nur nicht in seinem Beisein.

Hier öffnet sich eine Tür zur Lösung der Frage, ob es erlaubt sei, dem Glaubensvollzug eine digitale Dimension zu geben. Denn in den Berichten von den Erscheinungen des Auferstandenen wird beides ausgesagt: Die Auferstehung ist leiblich. Man kann berühren spüren. Aber die Weise der weiteren Begegnungen mit dem lebendigen Gottesssohn ist nach der Himmelfahrt eine andere. Für sie steht der Bericht vom Apostel Thomas. Denn hier bestätigt der real Auferstandene selbst, dass es nicht nur das stoffliche Begegnen, sondern auch die lebendigen Schilderungen der Zeugen – damals wie heute –zum Glauben führen sollen. Diese Zeugenschaft wird nicht minimiert, wenn sie sich in unseren Tagen digitaler Methoden bedient.

Und noch viel weniger wird das Altarssakrament seiner Wirkung und seiner Stofflichkeit beraubt in dem Fall, dass man es in seiner Gegenwärtigsetzung optisch und akustisch über weite Distanzen überträgt. Denn es ist ja ein reales Beiwohnen, das dort geschieht, wenn auch über eine Vermittlung. Gott wird ja gar nicht digitalisiert oder womöglich virtuell. Er bleibt ganz und gar real – im Glauben und im Teilnehmen an der Kulthandlung, bei der die Nichtanwesenden dennoch anwesend sein können in dem Wissen, dass sie "jetzt" stattfindet, dass man "jetzt" dabei sein kann und sich "jetzt" mit dem Geschehen vereinigen kann zu dem Zeitpunkt, an dem es geschieht. Ungeachtet der Gefahr der unbeabsichtigten Profanierung des Mysteriums, das sich dem Sehen eigentlich entzieht, stellt das Teilnehmen an einem Livestream eben nicht ein virtuelles "als ob" dar, sondern eine wahre Teilnahme an einem realen Geschehen, mit dem ich mich jetzt real verbinden kann. Im Glaubenswissen, dass dort wo der Kult gefeiert wird, ohnehin die ganze Kirche gegenwärtig ist – über Raum und Zeit hinaus –, stellt der digitale Zugang zum Kult nichts anderes dar, als eine optische und akustische Hineinnahme der Mitfeiernden in das Geschehen für den Fall, dass ihnen der physische Zugang – aus welchen Gründen auch immer – verwehrt ist.

Just in die Zeit der Coronakrise mitsamt ihren digitalen Liturgieund Seelsorgeangeboten fiel kürzlich der Festtag des heiligen Bruders Konrad von Parzham, der unbeabsichtigt wie ein versöhnlicher Schlichter die beiden Lager der Bedenken

träger und Innovativen zusammenbringen könnte. Denn er steht für den geistlichen Gewinn, den ein bloßer Blick auf das Sanctissimum bedeutet für den Fall, dass ich nicht in der Lage bin, eine Kirche zu betreten. Der schlichte Kapuziner, der 41 Jahre an der Pforte des Klosters in Altötting saß und dort ein Heiliger der Geduld und Nächstenliebe geworden war, besaß in seiner Pfortenstube, aus der er sich ja nur äußerst selten wegbewegen konnte – fast wie jemand, der sich in Quarantäne befindet –, eine kleine Maueröffnung, die ihm einen Blick auf das Tabernakel der Klosterkirche verschaffte. Dieser Blick genügte ihm für den Fall seiner Unabkömmlichkeit. Es war zwar nur ein Blick, aber ein Blick auf den wahrhaft anwesenden Gott, mit dem sich der Mönch auf diese Weise zu verbinden vermochte. So war er stets "online" mit Gott im Tabernakel, dem er auf andere Weise in den Menschen an der Pforte diente. Wer wollte leugnen, dass ein digitaler Blick dasselbe bewirken kann wie der Blick durch die Maueröffnung und die Seele mit einer übermittelten Stofflichkeit beglücken kann?

Unter Anrufung des heiligen Bruders Konrad hat der Autor dieser Zeilen kurzentschlossen mit Beginn der großen Inhaftierung die Möglichkeit eines täglichen Livestreams über das Internetfernsehen "Bonifatius TV" schaffen können. Die Reaktionen gaben ihm Recht. Und bestätigten, dass Gott sich dadurch nicht zur virtuellen Größe verflüchtigt. Weil durch den Livestream eine Möglichkeit geschaffen ist, einen Blick durch die digitale Maueröffnung auf die Messe zu werfen, die "jetzt" mit und für alle gefeiert wird, die in ihren Zellen eingeschlossen sind. Sie alle können mit dabei sein, auch wenn nur ihr Blick und nicht ihr Leib durch die Öffnung dringen kann. Und – dies sei für die weitere Entwicklung der Coronaliturgie angefragt – vielleicht können die digital verbundenen Gottesdienstbesucher durch ihren Mauerblick sogar gedeihlicher mitfeiern als künftig in geöffneten Kirchen, die aber wegen der Hygienemaßnahmen, Abstandsregeln und Gesangsverbote eher den Blick darauf verstellen, dass in der Liturgie das Leben und nicht die Todesgefahr zelebriert wird.

Dr. Guido Rodheudt ist Pfarrer von St. Gertrud in Herzogenrath und Gründer des "Netzwerks katholischer Priester". Seit Ausbruch der Coronavirus-Krise überträgt er die tägliche Messe. 

Zuerst veröffentlicht im Vatican Magazin. Bei CNA Deutsch publiziert mit freundlicher Genehmigung am 5.2.2020.