31. März 2022
Dem Zeitgeist querliegende Haltungen, wie etwa eine christliche Lebensführung oder ein klassisch liberales Verständnis der Selbstverantwortung wird zunehmend als fortschrittsfeindlich und gefährlich beschrieben. Führt die Reise des Westens unter dem Druck der vermeintlich "woken" Ideologen in einen Kulturkampf entlang mehrerer Fronten, wie manche Kritiker warnen?
Giuseppe Gracias neues Buch «Die Utopia Methode» wirft vor diesem Tableau eine existentielle Frage auf, die jeden mündigen Menschen betrifft, und Christen aus den Worten Jesu entgegenstrahlt, etwa in Johannes 8,32. Im Interview mit CNA Deutsch erklärt der Schweizer Schriftsteller, worum es ihm geht.
Herr Gracia, Ihr neues Buch widmet sich Debatten zu Klimawandel, Gender oder Rassismus. Dabei sprechen Sie von der "Utopia-Methode". Was ist damit gemeint?
Es geht um den Trend, die westliche Zivilisation als "systemisch ungerecht" anzuprangern, als imperialistisch, rassistisch, sexistisch und ähnliches. Natürlich gibt es bei uns Rassisten und Sexisten. Doch nur wer blind für den Rest der Welt ist, kommt auf die Idee, die Ursachen dafür in unserer Kultur zu suchen. Genau das tun jedoch viele politische Akteure, indem sie den Westen am Massstab einer moralisch gesäuberten Menschheit messen, das bedeutet: am Massstab einer Utopie.
Sie meinen, unsere Realität wird mit einer Traumwelt verglichen? Wer tut das denn?
Fridays for Future, Gender-Feminismus, Antifa oder Black Lives Matter: im Grunde spielt es keine Rolle, mit welchem Etikett das versehen wird. Immer muss der Westen als weisse Täterkultur herhalten, als historischer Brutkasten von Frauenverachtung, Homophobie und Faschismus. Dabei wird ausgeblendet, wie es um Rassismus, Menschenrechte, Wohlstand oder die Selbstbestimmung der Frau in nicht-europäischen Ländern bestellt ist. Wie steht es um Machtpolitik und Klimasünden in China? Meinungsfreiheit in Russland? Solche Vergleiche sind unerwünscht. Denn der Westen würde dabei relativ gut abschneiden. Es würde sich zeigen: Christliche Werte, Liberalismus und Freihandel sind vergleichsweise gute Grundlagen, um eine Gesellschaft zu gestalten.
Sie sprechen im Buch vom "Feindbild Kapitalismus".
Ja. Die Missstände unserer Wirtschaftsordnung, etwa das Fehlverhalten eines Arbeitgebers oder eines umweltschädlichen Konzerns, wird dazu missbraucht, den Liberalismus an sich zu verdammen, um den Ruf nach einem Systemwechsel zu legitimieren. Die historisch einmaligen Errungenschaften des Liberalismus, die Wirkung der individuellen Freiheit auf kreative Forschung, auf Fortschritt und Massenwohlstand – das darf kein Thema sein. Obwohl wir sehen, dass es in kommunistischen, autoritären und islamischen Ländern keinen auch nur ansatzweise vergleichbaren Fortschritt gibt, keinen Massenwohlstand, keine Freiheit.
Immerhin ist es eine Tatsache, dass der Westen Imperalismus betrieben hat und dass wir eine von weissen Männern wie uns beiden dominierte, patriarchale Geschichte haben. Auch wenn Sie als Sprössling von Migranten oder ich als Nachkomme bayerischer Handwerker persönlich da auch schon einen Anspruch auf Einspruch hätten.
Eben. Diese pauschalen Verkürzungen verdunkeln ja eher die Fakten von Imperialismus und Kolonialismus, die man nicht bestreiten oder instrumentalisieren sollte. Ich sage nur, dass wir im Vergleich mit anderen Kulturen die deutlich bessere Alternative sind, nach Abzug aller Sündenregister. Deshalb findet Migration ja auch so statt, dass die Leute zu uns wollen, in den Westen, und nicht umgekehrt. Auch sind Rassismus, Sexismus und Homophobie ausserhalb des Westens die deutlich drängenderen Probleme als bei uns. Bezüglich Klimaschutz wäre es ebenfalls entscheidender, was in China, Indien und Russland passiert, nicht bei uns in der Schweiz.
Sollte der Westen nicht selbstkritisch sein, ein gutes Vorbild für Andere?
Wir brauchen Selbstkritik, keine Frage. Wir müssen uns gegen eigene Fehlentwicklungen engagieren. Idealismus und kritische Geister gehören zum Fundament des Westens. Doch darum geht es bei er Utopia-Methode nicht. Da geht es um eine von der Realität abgekoppelte Moralisierung der Politik, die himmlische Zustände verspricht. Es geht, ähnlich wie beim Marxismus, um ein quasi-religiöses Politikverständnis, um die säkularisierte Heilslehre einer neuen, gerechten Welt.
Puh, das ist starker Tobak - und ja wohl ein wenig übertrieben?
Keineswegs. An unseren Unis, in vielen Medien und politischen Debatten wird konsequent Stimmung gemacht gegen freie Märke oder das Konzept der Selbstverantwortung. Der Glaube an die Kraft der individuellen Freiheit wirkt bereits so schwach, dass viele sich nicht mehr an aufklärerischen Werten wie der Mündigkeit des Einzelnen orientieren, sondern auf die Programme eines mit Experten ausgestatteten Nanny States setzen. Der Staat soll das Management unserer Gesundheit übernehmen, unserer Moral und Gruppenidentität, eingeteilt nach Herkunft, Hautfarbe und gefühltem Gender-Status.
Meinen Sie den gern beschworenen "Nanny State", wenn Sie im Buch vor einer "utopischen Politik" warnen?
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Ich meine die grundsätzliche Gefahr einer Politik, die sich für alles zuständig fühlt und unser Leben mit Wunschbildern verbessern will. Regierungen und Politiker sollen aber nicht träumen, sondern mit der Wirklichkeit arbeiten. Sie müssen mit der potentiellen Grösse und den potentiellen Abgründen des realen Menschen rechnen und diesem bestmöglich dienen. Klar braucht es Idealismus, doch mit Bodenhaftung. Und Bodenhaftung bedeutet in einer Demokratie, mit der Politik nicht den Himmel auf Erden zu versprechen, anders als es totalitäre Regimes tun.
Giuseppe Gracia (54) ist ist sizilianisch-spanischer Abstammung, verheiratet und hat zwei Kinder. Der Schweizer arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Schriftsteller: «Der Tod ist ein Kommunist» (2021), «Der letzte Feind» (2020), «Das therapeutische Kalifat» (2018) u.v.m. Gracia ist regelmäßiger Autor für das Feuilleton der NZZ. Ebenso publiziert er Beiträge in deutschen Medien wie Focus Online oder Welt. Weitere Informationen auf seiner Homepage.