Jeder kennt diese Seite aus dem Evangelium: “Liebt eure Feinde...
Dem, der dich auf die eine Wange schlägt,
halt auch die andere hin...”  (vgl. Lk 6,27-38).

Und oft fangen diejenigen, die das Christentum lächerlich machen wollen, genau damit an. 

Aber nicht nur das: Diese Worte Jesu haben viele sensible und unruhige Männer und Frauen bewegt, die sich gefragt haben: Dieses Nichtverweigern der Tunika gegenüber jenen, die deinen Mantel zerreißen, dieses Nicht-Zurückverlangen deiner Dinge von jenen, die sie nehmen - schließt das nicht jede legitime persönliche und soziale Verteidigung aus? Schließt das jeden Anspruch aus, die Rechte aller geachtet zu sehen? Aber heißt das dann nicht, den Überheblichen freien Lauf zu lassen? Würde es nicht zur Zerstörung der Gesellschaft führen? 

Oder sollten wir - wie es von Zeit zu Zeit jemand versucht hat - ideale Gesellschaften aufbauen, die auf dem Gesetz des Evangeliums beruhen? Die Geschichte hat unzählige Fehlschläge dieser Versuche gesehen!

Wir stehen vor einer unerträglichen Alternative: Entweder wir interpretieren diese Worte Jesu als Gesetz – und dann müssen wir sagen, dass es ein unanwendbares Gesetz ist, das letztlich zu Ungerechtigkeit führt, zum Sieg der Bösen über die Guten, der Gewalttätigen über die Sanftmütigen - oder wir interpretieren sie als eine Utopie, einen schönen Traum, der aber unerreichbar ist; vielleicht ein Ideal, dem wir nachstreben, wohl wissend, dass wir es nicht erreichen können.

Der Weg hingegen ist ein anderer: Diese Worte sind weder Gesetz noch Utopie. Sie sind Evangelium, das heißt gute Nachricht!

Die gute Nachricht ist nicht, dass wir etwas tun oder nicht tun müssen. Die gute Nachricht ist, dass Gott so handelt: Er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen (Lk 6,35)

Das Gesetz ist wichtig, denn es lässt dich verstehen, dass die Undankbaren und die Bösen nicht die anderen sind: Wir sind es! Du fühlst dich gut, weil du kein Verbrecher bist, du tust nichts Böses, du bist ein anständiger Mensch… Aber du liebst deine Feinde nicht, du tust denen nichts Gutes, die dich hassen, du segnest diejenigen nicht, die dich verfluchen. Du hängst an deinen Sachen, an deinen Rechten. Und du richtest und verurteilst deinen Nächsten. Das Gesetz hingegen richtet dich: Du bist ein Sünder.

Aber das Evangelium ist noch wichtiger, denn wo das Gesetz dich richtet, vergibt dir das Evangelium: Es verkündet dir, dass Gott ein barmherziger Vater ist, der aus Liebe zu dir seinen Sohn gesandt hat, um deine Sünde hinwegzunehmen. Er rettet dich, gerade weil du ein Feind bist. Er verzichtet auf sein Recht, dich zu verurteilen, er verzichtet auf Entschädigung, und er schenkt dir Gnade!

Und so können auch wir auf unser Recht verzichten: Wenn wir uns an diesen unseren Besitz hängen wollten, müssten wir darauf verzichten, Ihm zu folgen, der um unseretwillen alles aufgegeben hat.

Die Liebe Jesu bindet dich und befreit dich zugleich. Sie bindet dich an Ihn und befreit dich von allem anderen, angefangen von dir selbst.

Das Evangelium ist die Verkündigung der unendlichen und zärtlichen Liebe des Vaters, der sich in seinem Sohn Jesus sichtbar macht: Wenn wir Jesus begegnet sind, wenn wir uns von ihm lieben lassen, wenn wir uns in seine Liebe verliebt haben ... dann gehen wir voller Freude, jubelnd vor Seligkeit Ihm nach; wir verhalten uns, wie Er sich verhält; uns interessiert nichts anderes mehr, als bei Ihm zu sein. Und wenn in der einen Waagschale die Beleidigung liegt, die vergeben werden soll, das Bittere, das geschluckt werden soll, so liegt in der anderen das Gewicht des Reiches, das alles ausgleicht. 

Sicherlich, auch für den, der an das Evangelium glaubt und Jesus Christus liebt, ist es beileibe nicht leicht, den Feind zu lieben. Das ist nichts Automatisches. Es ist ein Weg. Jesus zeigt uns das Ziel, aber er zeigt uns auch die Etappen auf dem Weg:

Euch, die ihr zuhört, sage ich:
Liebt eure Feinde;
tut denen Gutes, die euch hassen!
Segnet die, die euch verfluchen;
betet für die, die euch beschimpfen!

Beginnen wir mit dem letzten Punkt, der am einfachsten ist: Beten wir für die, die uns schlecht behandeln. Das könne wir ohne große Probleme tun; es reicht, unsere Ressentiments etwas zu überwinden. 

Gehen wir dann zum vorletzten: Segnen wir, das heißt “sagen wir Gutes (bene-dire)” über jene, die schlecht über uns reden. Das ist schon etwas schwieriger, aber mit der Hilfe Gottes können wir es schaffen. 

Zuletzt machen wir den entscheidenden Schritt: Tun wir denen Gutes, die uns hassen. Wir sind nicht allein: der Herr selbst wirkt mit uns. So werden wir in die größte Glückseligkeit eintreten: 

Euer Lohn wird  groß sein und ihr werdet Söhne des Höchsten sein.

Aldo Vendemiati ist Professor für Ethik und Dekan der Philosophischen Fakultät der Päpstlichen Universität Urbaniana.

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