Anmerkung der Redaktion: "Nichts ist so alt wie die Nachrichten von gestern" ist eine Binsenweisheit. Guter Journalismus darf für sich beanspruchen, der "erste Entwurf der Geschichtsschreibung" zu sein, der mehr als nur einer Chronistenpflicht nachkommt. Er zeigt nach Jahren Entwicklungen auf, die relevant und wichtig für die Gegenwart und Zukunft sind. Dieser Essay von Stephan Baier, der im Februar 2019 im Vatican-Magazin erschien, ist dafür ein fulminantes Beispiel. CNA Deutsch veröffentlicht den Text mit freundlicher Genehmigung vor dem Hintergrund des russischen Überfalls auf die Ukraine.

Mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Sowjetunion und damit des Kalten Kriegs wird Moskau von Europa wieder als Gefahr gesehen. Viel mehr als Wladimir Putins prahlerische Reden über seine neuen Superwaffen haben seine Taten die Europäer aufgerüttelt: das kriegerische Vorgehen gegen Georgien 2008 und die anhaltende Militärpräsenz in Abchasien und Südossetien, die völkerrechtswidrige Annexion der Krim 2014 und die andauernde Destabilisierung der Ukraine, die diskrete, doch wirksame Einflussnahme auf die Wahl Donald Trumps und auf das Brexit-Referendum. In Brüssel ist man davon überzeugt, dass Russland für die Europäische Union gefährlich ist.

Am 12. Dezember 2018 nahm das Europäische Parlament einen Text an, worin es heißt, „dass die Aktivitäten und politischen Maßnahmen, die Russland in letzter Zeit durchgeführt hat, die Stabilität vermindert und das Sicherheitsumfeld verändert haben“, und „dass die EU und die Mitgliedstaaten zu einem einheitlicheren, strategischen Ansatz in Bezug auf Russland gelangen müssen“. Sorgen macht dem Europaparlament „die Besetzung der Ukraine durch Russland... die illegale Annexion und Militarisierung der Krim... die exzessiven Militärübungen und -aktivitäten Russlands sowie seine hybriden Taktiken wie Cyber-Terrorismus, gezielte Falschmeldungen, Desinformationskampagnen und die Erpressung mit wirtschaftlichen Mitteln“.

Russland versuche, die Staaten Osteuropas und des westlichen Balkan zu destabilisieren sowie die Spannungen in den westlichen Demokratien zu erhöhen. Im Jahresbericht 2018 über die Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik äußert das Europäische Parlament die Ansicht, „dass Mächte wie China und Russland versuchen... die bestehende globale Ordnungspolitik, die auf dem Völkerrecht beruht, in Frage zu stellen, anstatt sie zu übernehmen“.

Offenkundig ist, dass für Wladimir Putin Lüge, Desinformation und Krieg probate Mittel der Politik sind – nicht nur in Syrien und im Kaukasus, sondern auch in Europa. Moskau geht es aber nicht nur um Eroberungen. Die Russische Föderation hat sich jenseits ihrer Grenzen Einflusszonen geschaffen: Da sind Länder und Regionen, in denen Russland durch seine militärische Präsenz zur dominanten Macht wurde, sowie Staaten, denen Moskau keine volle Souveränität zugesteht, weil Putin sie zur „russischen Welt“ rechnet. Darüber hinaus versucht Moskau, seinen Einfluss in den traditionell russophilen orthodoxen Ländern Südosteuropas auszubauen.

Und dann ist da noch die Europäische Union, deren demokratisch-rechtsstaatliches Modell dem Alleinherrscher in Moskau längst kein Vorbild mehr ist. Im Gegenteil: Moskau unternimmt vieles, um Spannungen und Spaltungen in die Union zu tragen. Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder schreibt in seinem jüngsten Bestseller „Der Weg in die Unfreiheit“, ab 2010 habe sich Russland von der Europäischen Union abgewandt, sie als dekadent und aggressiv verurteilt. Moskau habe sowohl auf den Brexit als auch auf die Wahl Trumps hingearbeitet. „Der Brexit war für die russische Außenpolitik ein Triumph, ein Zeichen, dass eine von Moskau gelenkte Cyberkampagne die Wirklichkeit verändern konnte.“

Snyder analysiert einen „russischen Angriff auf die Europäische Union und die Vereinigten Staaten“, der sich gegen Individualismus, Integration, Wahrheit und Gerechtigkeit richte. Die Union sei, ebenso wie Amerika, einer massiven Desinformationskampagne ausgesetzt: „Die Strategie Russlands, die EU zu zerstören, nahm verschiedene aufeinander abgestimmte Formen an: Rekrutierung führender europäischer Politiker und Parteien, die die russischen Interessen bei der europäischen Desintegration vertreten würden, digitale und über das Fernsehen vermittelte Durchdringung des öffentlichen Diskurses, um Misstrauen gegenüber der EU zu säen, Rekrutierung radikaler Nationalisten und Faschisten zur Werbung für Eurasien in der Öffentlichkeit und Unterstützung jeglicher Art von Separatismus.“

Nicht nur der Osteuropa-Kenner Snyder ist überzeugt, dass Sender wie RT (vormals Russia Today) und Agenturen wie Sputnik Anti-Europäern wie Marine Le Pen und Nigel Farage gezielt ein Forum bieten, um die Europäische Union zu diskreditieren und destabilisieren. Bereits 2015 kritisierte das Europäische Parlament die Versuche Russlands, die Ukraine zu destabilisieren und zeigte sich besorgt darüber, „dass Russland sich nunmehr offen als Gegner der internationalen demokratischen Gemeinschaft und ihrer auf Recht und Gesetz beruhenden Ordnung positioniert“. Russland versuche die Grenzen mit Gewalt neu zu ziehen, betreibe eine Atmosphäre des Hasses gegen Menschenrechtsverteidiger und oppositionelle Aktivisten, verstoße gegen das Völkerrecht. Besorgt zeigten sich die Europaabgeordneten über die „zunehmende Monopolisierung der dem russischsprachigen Publikum im Ausland zur Verfügung stehenden Informationen durch staatseigene Medienunternehmen“.

Das Europaparlament forderte eigene Kapazitäten „zur besseren Analyse und Beobachtung der russischen Propaganda..., damit in unterschiedlichen EU-Sprachen verbreitete, gezielt verfälschte Informationen identifiziert werden können“. Es brauche Projekte, „mit denen der russischen Propaganda und Desinformation in der EU und im Ausland entgegengewirkt“ werden könne. Es müsse beobachtet werden, „welche finanzielle, politische oder technische Unterstützung politische Parteien und andere Organisationen in der EU von Russland erhalten... damit beurteilt werden kann, inwieweit Russland in das politische Leben und die öffentliche Meinung in der EU und ihren östlichen Nachbarländern involviert ist“. Besorgt ist das Europaparlament „über die Unterstützung und Finanzierung radikaler und extremistischer Parteien in den EU-Mitgliedstaaten durch Russland“.

Mittlerweile hat die Europäische Union in ihrem Auswärtigen Dienst (EAD) eine Abteilung aufgebaut, die der russischen Propaganda entgegenwirken soll: Diese „East Stratcom Task Force“ identifizierte bereits tausende Falschmeldungen im Sinne des Kremls. Sie wird nun im Vorfeld der Europawahl massiv aufgestockt. Bis zu fünfzig Experten sollen sich mit politisch motivierter Propaganda und Desinformation befassen – ein Bruchteil dessen, was Putin im Informationskrieg ins Feld führt.
Im November 2016 skizzierten die Europaabgeordneten Putins „Informationskrieg“ und „Desinformationskampagnen“ so: Das Ziel der „feindseligen Propaganda“ sei es, „Wahrheiten zu verzerren, Zweifel zu schüren, Mitgliedstaaten zu entzweien“. Die russische Regierung setze „eine große Bandbreite an Werkzeugen und Instrumenten“ ein, um Europa zu spalten: Denkfabriken und Stiftungen, Behörden und mehrsprachige Fernsehsender, Nachrichtenagenturen und Multimediadienste, aber auch Geld. Es blieb der Union nicht verborgen, „dass der Kreml einerseits politische Parteien und andere Organisationen in der EU finanziell unterstützt mit der Absicht, den politischen Zusammenhalt zu schwächen, und die Propaganda des Kreml andererseits unmittelbar gegen bestimmte Journalisten, Politiker und Personen in der EU gerichtet ist“. Die strategische Kommunikation Russlands sei Teil einer „Kampagne zur Unterwanderung“, mit der „die EU-Zusammenarbeit und die Souveränität, politische Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit der EU und ihrer Mitgliedstaaten geschwächt werden sollen“.

Interessant ist, dass im Herbst 2016 die Radikalen links wie rechts im Europaparlament gegen den Russland-kritischen Text stimmten. Jene Kräfte also, die die Europäische Union (aus unterschiedlichen Gründen) ablehnen und zugleich mit Putin sympathisieren. Das Abschneiden dieser Kräfte, der nationalistischen und kommunistischen Anti-Europäer, bei der Europawahl am 26. Mai wird für die Europäische Union zum Stresstest. Je stärker sie im nächsten Europaparlament vertreten sein werden, desto fragiler wird die Europäische Union in den kommenden Jahren sein – nicht nur, aber auch gegenüber dem Autokraten in Moskau.

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Vatican Magazin. Zuerst veröffentlicht im Februar 2019.

Hinweis: Dieser Blogpost – sein Inhalt sowie die darin geäußerten Ansichten – sind kein Beitrag der Redaktion von CNA Deutsch. Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln zudem nur die Ansichten der jeweiligen Autoren wider. Die Redaktion von CNA Deutsch macht sich diese nicht zu eigen.  

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