Ein ganzes Bündel weißer und gelber Luftballons stieg in den Himmel auf, weißgelbes Konfetti, passend in den Vatikan-Farben, regnete auf ihn herab, als Papst Benedikt XVI. am 8. Juli 2006 als erster Papst seit 24 Jahren die alte Bischofsstadt Valencia an der spanischen Levante besuchte. Tagelang war die Stadt von ihren Bewohnern geschmückt worden, kaum ein Haus gab es, aus dem keine weißgelbe Fahne hing. Geradezu trotzig wollten die Spanier zeigen, dass sie zu ihrem Papst hielten, auch wenn die politischen Vorzeichen ganz anders waren. Der Linkskurs des Sozialisten Zapatero, speziell die Legalisierung der Homo-Ehe in dem eher als konservativ bekannten Land, hatten in der Vergangenheit zu deutlicher Kritik aus Kirchenkreisen geführt. Auch der Papstbesuch stand im Schatten dieser Irritationen; demonstrativ hatte Zapatero seine Teilnahme an der Papstmesse in Valencia abgesagt, begrüßte den Pontifex aber bei einem Höflichkeitsbesuch in der Bischofsresidenz.

Schon zu Anfang der Woche waren rund 150.000 Pilger aus aller Welt eingetroffen, um am 5. Welttreffen der Familien teilzunehmen, eine Initiative, die noch auf Papst Johannes Paul II. zurück ging. Doch an diesem Samstagmorgen gehörte Benedikt XVI. noch ganz den Valencianern. Und so stattete er zunächst einmal dem Herzen der Domstadt, ihrer siebenhundertjährigen Kathedrale, einen Besuch ab.

Das Domkapitel begrüßte den Papst am Portal, geleitete ihn in das Kirchenschiff, in dem sämtliche Kleriker der Kirchenprovinz Valencia versammelt waren. Doch bevor er mit ihnen den Klängen des Domchores lauschte, bog er rechts ab, in den geheimnisvollsten Raum der Kathedrale, die Capella del Santo Caliz, die Gralskapelle. Dort war die wichtigsten spanischen Bischöfe versammelt, außerdem die Präsidenten der beiden Bruderschaften der Gralsritter, die sich den Schutz und die Verehrung der kostbaren Reliquie zur Aufgabe gemacht haben: Der Graf von Villafranqueza und Don Ignacio Carrau, Ex-Gouverneur der Provinz Valencia. 

Dieser geheimnisvolle Becher aus Achat, der seit dem Mittelalter in einen Kelch aus Gold, Perlen und Edelsteinen eingefasst wurde, fasziniert nicht erst die Menschen, seit er 1437 in die Kathedrale von Valencia überführt wurde. Er ist vielmehr seit dem Mittelalter, als man ihn nach dem altspanischen Wort für ein mörserförmiges Trinkgefäß als "Greal" oder "Gral" bezeichnete, das Thema zahlreicher Sagen, Mythen und Legenden, ja zur Metapher für die ewige Suche des Menschen nach dem Göttlichen. Wir finden das Motiv des Heiligen Grals erstmals in einem epischen Werk des französischen Troubadours Chretien de Troyes (ca. 1150-1190), dem "Perceval". Es blieb unvollendet, was den Deutschen Wolfram von Eschenbach (ca.-1160-1220) veranlasste, in seinem "Parzival" die ganze Geschichte zu erzählen. Sie handelt von einem jungen Adligen, der gegen den Willen seiner überbesorgten Mutter auszieht, sich als Ritter zu bewähren. Auf seiner Reise durch das Pyrenäenvorland wird er auf die Burg des siechen Gralskönigs Anfortas geladen, der auf Erlösung harrt und den nur der Empfang der heiligen Eucharistie am Leben hält. Parzival erlebt, wie der Gral, ein hell strahlendes Steingefäß, in feierlicher Prozession an ihm vorbei getragen wird und ist doch noch nicht würdig, sein Geheimnis zu ergründen. Erst Jahre später, nach zahllosen Aventuiren, offenbart ihm ein greiser Einsiedler am Karfreitag, was es mit dem Gral auf sich hat. Nach einer Lebensbeichte gelangt Parzival wieder auf die Gralsburg, zeigt sein Mitleid für den sterbenden König und folgt ihm auf den Thron, während sein muslimischer Halbbruder Feirefeiz die Taufe empfängt.

Seitdem zog der Gral ganze Generationen in seinen Bann, die vergeblich nach ihm suchten. Selbst die Nazis, die in ihm ein christianisiertes Heiligtum aus der Heidenzeit sehen wollten, forschten in der Kathererburg Montsegur und dem Kloster von Montserrat, doch ohne Erfolg. Erst heute wissen wir, dass der "Parzival" ganz andere Vorbilder hatte. Im Gralskönig Anfortas erkennt man König Alfonso I. von Aragon (1104-34), den "Schlachtenlenker", einen der Großen der spanischen Reconquista, der, schwer verletzt, sein Lebensende in dem Felsenkloster von San Juan de la Pena im Pyrenäenvorland verbrachte. Es liegt zu Füßen des "Pico de San Salvador", im mittelalterlichen Okzitanisch Mont Sant Salvatge, was der Gralsburg Munsalvaesche ihren Namen gab. Alfonso hieß in der Landessprache Aragons "Anforts", woraus bei Wolfram "Anfortas" wurde. Sein Kampfgefährte war ein junger französischer Ritter, Rotrou de Val Perche, der historische "Parzival". Und der Gral? Seit 1037 wurde, wie zeitgenössische Urkunden verraten, in San Juan de la Pena ein kostbares Steingefäß als Abendmahlskelch Jesu Christi verehrt. Eben deshalb verbrachte der König jede Fastenzeit in dem Kloster und wollte, gestärkt von der heiligen Eucharistie, auch dort im Angesicht der Reliquie sterben. 

Erst 1399 holte König Martin V., "der Menschliche", das kostbare Gefäß auf seine Residenz nach Saragossa, nicht ohne die Mönche zuvor reich zu entschädigen. Seit 1416 befindet es sich in Valencia, wo es, wie gesagt, 1437 den Domherren der dortigen Kathedrale anvertraut wurde.

Doch könnte es sich bei dem "Santo Caliz" tatsächlich um den Abendmahlskelch Jesu Christi gehandelt haben, wie die Legende behauptet? Erst am 17. Mai 2006 hatte das Erzbistum Valencia ein Buch veröffentlicht, in dem neun Experten unterschiedliche Aspekte seiner historischen und theologischen Bedeutung auf dem neuesten Stand der Forschung behandelten. So datierte der Archäologe Prof. Antonio Beltran von der Universität Saragossa die Entstehung der eigentlichen Reliquie, des Achatbechers, auf die Zeit zwischen 100 und 50 v.Chr. Unlängst wies die Kunsthistorikerin Ana Mafé in ihrer Dissertation nach, dass es ein typisch jüdischer Kiddush-Becher war, wie man ihn zur Zeit Jesu für die Pessachfeier verwendete. Sein Volumen entsprach dem dafür vorgeschriebenen Hohlmaß. In römischen Katakomben will Mafé den Nachweis gefunden haben, dass er von Jerusalem aus zunächst in die Ewige Stadt kam und dort als Kelch Petri und der ersten Päpste diente. Eben das besagt die spanische Tradition: Erst der hl. Laurentius ließ ihn während der brutalen Christenverfolgung des Valerian durch einen spanischen Legionär auf das Landgut seiner Eltern bei Huesca in Aragon bringen. Die Formulierung "hunc praeclarum calicem" im römischen Kanon soll noch heute daran erinnern, dass einst Petrus und seine Nachfolger wie Jesus selbst in ihm Wein in das Blut Christi wandelten. So könnte der heilige Papst Johannes Paul II. recht gehabt haben, als er bei seinem Besuch in Valencia am 8. November 1982 den Santo Caliz als "Zeugen für Christi Aufenthalt auf Erden" bezeichnet hatte.

Bei gutem Licht erscheint der Gralsbecher noch heute, als bestünde er aus steingewordenen Flammen. "Lapis exillis" nennt ihn Wolfram, was als "lapis ex stellis", "Stein von den Sternen" oder "aus Sternengestein", gedeutet wurde. Tatsächlich ist der Begriff aber eine falsche Lesart einer Inschrift, die man auf dem Fuß des Kelches entdeckte und die auch der "Parzival" erwähnt. Sieht man in ihren Schriftzeichen kein kufisches Arabisch ("al-labsit as-sillis"), sondern frühes Hebräisch, haben sie eine ganz andere Bedeutung: "Yoshua Yahweh", "Jesus ist Gott", wie Prof. Gabriel Songel sie liest. 

Als nun Don Jaime Sancho, oberster Domherr und Gralshüter der Kathedrale von Valencia, dem Papst den Heiligen Kelch zeigte, beugte sich Benedikt XVI. aufmerksam zu ihm hinunter. Noch schien er sich nicht zu trauen, das Gefäß zu berühren, mit dem der Tradition nach Jesus Christus selbst das Sakrament der Eucharistie in der Nacht vor seinem Leiden begründete. Dann erhielt er von Agustin Garcia-Gasco, dem Erzbischof von Valencia, eine Kopie des Santo Caliz als Geschenk überreicht. Nachdem er einen Brief an die spanischen Bischöfe unterzeichnet und sich in das Goldene Buch der Cofradia der Gralsritter eingeschrieben hatte, überreichte ihm Don Jaime Sancho die Kette eines Ehrenritters vom Hl. Gral, die Benedikt XVI. dankbar annahm.

Nach einer nur zehnminütigen Feier, verließ der Papst die Kathedrale und betrat die Plaza de la Virgen, um zu den Bürgern von Valencia zu sprechen. Es sei sein Wunsch gewesen, "zuerst das Herz dieser alten und blühenden Kirche zu besuchen, die mich hier willkommen heißt, ihre schöne Kathedrale, in der ich vor dem Allerheiligsten Sakrament betete und innehielt vor der berühmten und verehrten Reliquie des Heiligen Kelches." Ein lauter, begeisterter Applaus ging in diesem Augenblick durch die Menge. Als dritter Papst der Neuzeit, nach Johannes XXIII. und Johannes Paul II., hatte auch Benedikt XVI. den Reliquienstatus des Santo Caliz von Valencia, des historischen Heiligen Grals, anerkannt.

Trotzdem war bis zuletzt unklar, ob der Papst auch, wie sein Vorgänger vierundzwanzig Jahre zuvor, mit dem Santo Caliz die hl. Messe feiern würde. Immerhin hatte die Generalitat von Valencia am 1. Juli angekündigt, sie wolle ihm eine € 9000,-- teure Kopie eines Kelches von Papst Callistus III. (1455-58) schenken und erwarte, dass er diese auch am 9. Juli benutzt. Sofort protestierte Ex-Gouverneur Don Ignacio Carrau in seiner heutigen Funktion als Präsident der Cofradia der Gralsritter: Es sei doch "logisch, dass der Papst mit dem Santo Caliz die Messe feiere und nicht mit einem neuen Kelch". Nur damit würde er zum Ausdruck bringen, dass der Gral authentisch sei. Doch am Montag danach erklärte Vatikan-Sprecher Joaquin Navarro-Valls, es gäbe keine derartigen Pläne, "obwohl es immer noch möglich" sei. 

Am Morgen des 9. Juli 2006 versammelten sich über zwei Millionen Pilger zur großen Abschlussmesse des Welttreffens der Familien auf der Puente de Monteolivete ("Ölberg-Brücke") in der futuristischen Ciudad de las Artes y las Ciencias ("Stadt der Künste und der Wissenschaften") am Rande von Valencia. Es herrschte Weltjugendtagsstimmung. Seit der Vigilfeier mit dem Papst am Vorabend hatten Zigtausende die Nacht im Freien verbracht, was bei nächtlichen 26 Grad gewiss kein allzu großes Opfer war. Bis in die Nacht hinein sangen und tanzten die Pilger unter dem Vollmond, dann zogen sie sich in ihre Zelte zurück oder schliefen auf Iso-Matten in den Grünflächen der parkartigen Anlage.

Gegen 9.00 Uhr früh wurden sie durch dramatische Musik geweckt, als Benedikt XVI. in seinem Papamobil eintraf, durch die Reihen der Pilger fuhr und frenetisch begrüßt wurde. Schließlich nahm er auf dem modernen Papstaltar Platz. In seiner Predigt, die mehrfach durch heftigen Applaus unterbrochen wurde, bekannte er sich zu dem "gottgewollten" Modell der Familie als Keimzelle der Gesellschaft und erteilte gleichzeitig allen "alternativen" Modellen eine Absage: "Die Familie ist gegründet auf der unauflöslichen Ehe zwischen einem Mann und einer Frau und drückt diese Dimension der Beziehung, der Kindschaft und der Gemeinschaft aus."

Dann, als der Wortgottesdienst beendet war und die Eucharistiefeier begann, ging ein Raunen durch die Menge. Einer der Kelche, die von Don Jaime Sancho auf den Altar gestellt wurden, war der Santo Caliz, der Heilige Gral. Als Benedikt XVI. sich vor ihm verneigte und ihn andächtig küsste, bestand kein Zweifel mehr daran, wie er sich entschieden hatte. Zum zweiten Mal seit fast 1750 Jahren sollte wieder ein Papst mit jenem Kelch konsekrieren, mit dem wahrscheinlich Jesus Christus selbst einst das Sakrament der heiligen Eucharistie begründete. Dabei benutzte Benedikt XVI., wie von vielen erhofft, die Wandlungsformel des römischen Kanons: "Ebenso nahm er nach dem Mahl diesen erhabenen Kelch..."                                                                                                   

Als er schließlich um 13.07 Uhr in einer Sondermaschine Spanien verließ, hatte er gleich zwei Zeichen gesetzt: eines für die Familie und ein zweites für die Tradition der Kirche und des christlichen Europas. Benedikt XVI. hatte den Heiligen Gral für sich entdeckt!

Das könnte Sie auch interessieren:

Erhalten Sie Top-Nachrichten von CNA Deutsch direkt via WhatsApp und Telegram.

Schluss mit der Suche nach katholischen Nachrichten – Hier kommen sie zu Ihnen.

https://twitter.com/CNAdeutsch/status/1110081719661723653?s=20