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Um eine Philosophie des Guten: 3. Aufgeklärter Eudämonismus

Die Seligpreisungen: Gemälde von James Tissot (Ausschnitt)

Der Eudämonismus hat natürlich seine Stärken. So finden wir z.B. in einer Darstellung der antiken Philosophie folgende zutreffende Bemerkung: "Für die antike Philosophie war selbstverständlich, dass gutes Leben und gutes Handeln zusammengehören, ein gutes Leben zugleich auch ein gerechtes Leben ist" (Uhl, Florian; Krainer, Sophia, Vom Menschen und seinem Glück. Philosophische Konzepte gelingenden Lebens in der Antike und heute, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 161 (2013), S. 339-347, hier S. 345).

Mit "gutem Leben" ist hier ein glückliches, gelungenes Leben gemeint. Es geht um den Zusammenhang zwischen Glück und Moral. Aber woher wissen wir, dass beides zusammengeht? Henry Fielding schreibt in seinem Roman Tom Jones: Die Geschichte eines Findelkindes: "Es gibt eine Gruppe frommer oder vielmehr moralischer Schriftsteller, die lehren, Tugend sei der sichere Weg zum Glück und Laster der Weg zum Unglück auf dieser Welt - eine sehr heilsame und tröstliche Lehre, gegen die wir nur das eine einzuwenden haben, dass sie nicht stimmt" (zitiert in Kurt Bayertz, Warum überhaupt moralisch sein? München 2004, S. 199).

Ist also die Überzeugung, dass moralische Tugend ein Unterpfand für ein glückliches Leben sei, naiv? Seit Beginn der Philosophie wird darüber mit guten Gründen gestritten. Wer ist schlechter dran: Derjenige, der Unrecht leidet, oder derjenige, der Unrecht tut? Schon in Platons Gorgias konnte Sokrates dem Argument des Kallikles, dass der Gerechte, der Unrecht erleidet und sich nicht wehren kann, beklagenswert sei, letztlich nur noch den Mythos eines jenseitigen Ausgleichs entgegensetzen, wo der Gute endlich auf seine Kosten kommt und der Böse den Kürzeren zieht. Wie oft hat hier auf Erden das Unrecht das letzte Wort! Die Vorstellung, dass ein tugendhaftes Leben Glück und Erfolg garantiere, ist frommes Wunschdenken.

Doch der Eudämonismus löst das Problem, bevor es überhaupt entstehen kann, indem er das Gute als das Glückstaugliche definiert. Er bringt das Sittliche als ein dem Glück gegenüber eigenständiges Phänomen zum Verschwinden und verwandelt Ethik in Glückseligkeitslehre. Ein Konflikt zwischen Moral und Lebensglück kann per definitionem gar nicht aufkommen, weil der Zusammenhang zwischen beiden ein logischer ist, unabhängig von der Empirie. Hat es Aristoteles tatsächlich so gemeint? Viele interpretieren ihn so, z. B. Thomas Nagel. Gemäß Aristoteles, meint Nagel, besteht "die Bestimmung des Gehalts der Ethik [...] geradezu in der Angabe notwendiger Bedingungen für ein gutes Leben." "Wir messen moralische Grundsätze hier immer an dem instrumentellen oder konstitutiven Beitrag, den sie zum guten Leben als Ganzem erbringen" (Nagel, Der Blick von nirgendwo, Suhrkamp 1992, S. 338).

Die Frage, wie Glück und Moral zusammengehen, ist nur so lange ein spannendes Thema der Philosophie, so lange die Behauptung ihrer Zusammengehörigkeit ein synthetisches Urteil darstellt. Der Eudämonismus macht aus ihr aber ein analytisches Urteil, eine Tautologie, indem er die Moral durch die Glückstauglichkeit definiert.

Natürlich trifft der platte Tautologievorwurf auf Aristoteles selber nicht zu. Wie an dieser Stelle nur angedeutet, nicht ausgeführt werden kann, vollzieht Aristoteles die Koppelung des guten Lebens an das gerechte über das Ergon-Argument, wodurch es ihm gelingt, die Vernunfttätigkeit des Menschen als dasjenige zu identifizieren, in deren Vollzug die ethischen Tugenden als das Gute im moralischen Sinne und die intellektuellen Tugenden als die Vollendung des Menschen im Sinne der eudaimonia zusammengehen.

Diese unreflektierte Synthese des Vollendungsgedankens mit dem Glücksbegriff erlaubt ihm die Etablierung eines Zielmonismus, der deontologische Elemente auf solche Weise integriert, dass sie nicht als Konkurrenzinstanzen für das Glücksstreben in Erscheinung treten.

Spätestens seit Kant bedarf solche Synthese einer Rechtfertigung. Während viele Thomisten für diese Problematik sensibilisiert sind, gibt es unter ihnen vereinzelte, die aus dem eudämonistischen Schlummer noch nicht erwacht sind und aus der Ethik eine Glückseligkeitslehre machen. So können wir in einem brandneuen Grundkurs Philosophie, Band VI, lesen: "Die natürliche Ethik ist die Wissenschaft, die untersucht, wie der Mensch dieses Glück [das vollkommene Glück als Ziel der menschlichen Natur] erreichen kann, wie der Mensch wirklich glücklich werden kann" (Natürliche Ethik, Editiones Scholasticae 2017, S. 10). Und selbst ein so renommierter Autor wie der Naturrechtler Johannes Messner (1891-1984) spricht unverblümt von Eudämonologie, "der Lehre von der Glückseligkeit", und meint: "Da der menschliche Grundtrieb auf das Gute gerichtet ist, strebt er notwendig nach Glückseligkeit. Und da das Naturgesetz das Verhalten des Menschen auf das für sein wesenhaftes Sein wirklich Gute hinordnet, muß Sittlichkeit die Glückseligkeit des Menschen zur Folge haben" (Messner, Das Naturrecht, Innsbruck 1950, S. 58). Der Begriff "Eudämonologie" wurde von Schopenhauer geprägt und meint die "Kunst, das Leben möglichst angenehm und glücklich durchzuführen" (Aphorismen zur Lebensweisheit). Schon weit vor Messner hatte Albert Stöckl (1823-1895), einer der bedeutendsten Erneuerer des Thomismus im 19. Jahrhundert, keine Scheu, den Begriff der "Eudämonologie" zu übernehmen, um damit die Ethik zu bezeichnen, insofern sie die Lehre vom höchsten Gut darstellt. Denn "das höchste Gut des Menschen im subjectiven Sinne ist die Glückseligkeit" (Lehrbuch der Philosophie, Mainz 1868).

Doch die Frage ist, ob Aristoteles mit seiner Glückseligkeitslehre überhaupt eine normative Ethik begründen wollte, oder ob sie eben nicht mehr und nicht weniger das sein wollte, was sie eben ist: Glückseligkeitslehre. In der Aristotelesforschung ist die Frage umstritten. Aristoteles’ "These vom Glück als höchstem Gut der Praxis" lasse, so lesen wir etwa bei Jörn Müller (Glück als Vollendung menschlicher Natur. Die eudaimonistische Tugendethik des Aristoteles, in: Nissing, Müller, Hrsg., Grundpositionen philosophischer Ethik, Darmstadt 2009, S. 23-52, hier 26), "sowohl eine indikativische (Glück als de facto von allen erstrebtes Gut) als auch eine gerundivische Interpretation (Glück als sinnvollerweise von allen zu erstrebendes Gut) zu." "Glück" darf durchaus auch ein Thema der Philosophie sein. Dass Aristoteles dieses Thema aufgreift und es als Ausgangspunkt einer Theorie menschlichen Handelns nimmt, macht seine Philosophie nicht zu einer schlechten. Im Gegenteil: Die besondere Stärke seiner Lehre liegt darin, dass er den Begriff der eudaimonia keineswegs bloß hedonistisch fasst, sondern so weit, dass mit der deutschen Übersetzung "gelungenes Leben" das Gemeinte treffender wiedergegeben wird als mit dem Wort "Glück". Diese Weite des eudaimonia-Begriffs lässt dann auch Platz für das Phänomen des Moralischen und damit auch für eine Interpretation der aristotelischen Philosophie, die zwar, wie schon erwähnt, das Moralische in den Begriff des gelungenen Lebens integriert, es aber nicht auf das Glück reduziert. Das moralisch Gute geht dann nicht auf in seinem instrumentellen Wert für das Erreichen eines außermoralisch gefassten Glücks. Eine solche Interpretation finden wir z.B. bei Robert Spaemann in seinem tiefschürfenden Buch Glück und Wohlwollen.

Das Paradigma solchen Zusammengehens von Moral und gelungenem Leben ist für ihn die Freundschaft. Sie ist einerseits für den Menschen als animal sociale ein notwendiges und konstitutives Ingrediens gelungenen Lebens, andererseits der Entfaltungsraum einer Liebe, die den Freund um seiner selbst wertschätzt und damit den eudämonistischen Standpunkt übersteigt. Die Liebe zum Freund weigert sich, den Freund bloß als Mittel zum Zweck des Gelingens des eigenen Lebens anzusehen, und doch kann das eigene Leben nur mit solcher Freundschaft gelingen.

Damit kommen wir zur Entdeckung des paradoxen Sachverhalts, dass das Gute einen Nutzwert hat, der ohne das Gute nicht zu haben ist, dass aber das Gute gerade nicht in diesem Nutzwert aufgeht, sondern vielmehr den Anspruch erhebt, nicht um seines Nutzens willen, sondern um seiner selbst willen gewollt und erstrebt zu werden.

Man könnte diesen Eudämonismus einen aufgeklärten nennen. Ein Christ braucht keine Scheu zu haben, von Eudämonismus zu sprechen, wenn er sich vor Augen hält, dass selbst Jesus seine ethischen Forderungen in die Form von Seligpreisungen gekleidet hat. Andererseits ist es ein Eudämonismus, der sich selber übersteigt und überwindet, indem er zum Phänomen des Sittlichen vordringt, ohne es zu einem Glücksmittel zu naturalisieren. Einen aufgeklärten Eudämonismus erkennt man an seiner Sensibilität für die Gefahr solcher Naturalisierung.

Die Serie "Um eine Philosophie des Guten" erscheint alle 14 Tage am Dienstag um 9 Uhr bei CNA Deutsch. 

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