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Um eine Philosophie des Guten: 6. Die Rolle der moralischen Werte

Holzschnitt aus Camille Flammarion (1888)

Bochenski wählt, wie wir gesehen haben, als Exempel für moralische Evidenz ein Verbrechen. Solche Wahl wirkt frappierender und macht es den Leugnern der Moral schwerer. Denn das Gute zu entlarven, macht sich als aufklärerischer Gestus immer gut, aber das Böse zu verharmlosen, kommt seltener gut an. Aber selbstverständlich ist die Erfahrung des sittlich Guten von ebenso starker Evidenz wie die des sittlich Bösen.
Immanuel Kant nimmt das moralisch Gute als Ausgangspunkt seiner philosophischen Reflexionen, wenn er seine Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten mit dem berühmten Satz beginnt: “Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.” Später wendet er noch ein schönes Bild darauf an: Dieser Wille glänzt wie ein “Juwel”, unabhängig vom Erfolg seiner Anstrengungen, sondern vielmehr “als etwas, das seinen vollen Wert in sich selbst hat.”

Obwohl mit der Lehre von der Synderesis auch den Thomisten und Neuscholastikern eine solche Möglichkeit eröffnet ist, die Erfahrung des sittlich Guten zum Ausgangspunkt ihrer ethischen Reflexionen zu machen, wird diese Möglichkeit nur von wenigen genutzt. Zu ihnen gehören - das sei an dieser Stelle lediglich erwähnt - z.B. Hans-Eduard Hengstenberg (Grundlegung der Ethik, Stuttgart 1969) und Arthur Fridolin Utz (Ethik, Heidelberg 1970). Andere öffnen sich zwar jener Evidenz, aber ohne Konsequenzen für ihren ethischen Ansatz. So stoßen wir etwa bei Daniel Feuling (1882-1947) in seinem Werk Hauptfragen der Metaphysik (Heidelberg 1949) auf eine treffende Würdigung jener Erkenntnis Kants, der über den guten Willen “so unvergleichlich wahr und schön gesagt” habe, “dass er das Allereinzige in dieser Welt sei, was den Namen ‘gut” im vollen Sinn verdiene” (S. 22). Feuling war ein Schüler von Joseph Gredt OSB (1863–1940), dessen zweibändiges Lehrbuch Elementa philosophiae aristotelico-thomisticae ein Standardbeispiel eines gegen jede neue Erkenntnisperspektive hermetisch abgeschlossenen Systems des Schulthomismus darstellt, das keine Frage offenlässt, sozusagen ein Goldener Käfig fürs philosophische Denken.

Feuling macht aber die Würdigung, die seiner Feder entfließt, sofort wieder folgenlos, wenn er das Gute dann doch wieder mit dem Sein parallelisiert und die Ethik in der Metaphysik verschwinden lässt. Die gepriesene Einzigkeit des moralisch Guten kann ihren besonderen Platz in einer konsequent durchdachten Strebens- oder Seinsethik nicht behaupten. Diese Marginalisierung kann bis zur expliziten Leugnung der Existenz des moralischen Wertes gehen, so etwa bei William J. Hoye: “Moral hat keine eigenen Inhalte, es gibt eigentlich keine moralischen Werte” (Würde des Menschen - Licht der Vernunft. Thomas von Aquin über den Kern der Moral, Münster 2002, S. 40).

Dabei ist Hoye alles andere als ein Immoralist, und wir verdanken seiner lesenswerten Schrift lichtreiche und kompetente Ausführungen über die Würde des Menschen aus christlicher und thomistischer Sicht. Die Leugnung des sittlichen Wertes ist eher ein Selbstmissverständnis des Thomismus: Durch seine Nivellierung des Unterschieds zwischen dem moralisch Guten und dem Guten als appetibile (und darüber hinaus auch noch des transzendentalen bonum) macht er den sittlichen Wert für sich - den Thomismus - selber unsichtbar, obwohl dieser Wert latent weiterhin präsent bleibt und je nach Bedarf wieder auftaucht.

Schließlich gibt es auch jene Neuscholastiker wie Michael Wittmann (1870-1948), die die Einsicht in das moralisch Gute ernstnehmen und die aristotelische Engführung überwinden wollen, ohne Aristoteles selber aufgeben zu müssen. Er schreibt: “Das sittlich Gute erfreut sich einer unbedingten Wertschätzung, pflegt als das unbedingt Wertvolle bezeichnet zu werden. Kant hat darum eine Tatsache des sittlichen Bewußtseins formuliert, wenn er im guten Willen das einzige in der Welt erkannt hat, das unter allen Umständen und ohne Einschränkung für gut gehalten wird” (Ethik, München 1923, S. 135).
Der Grund für die Versuchung, den moralischen Wert in seiner Eigenart zu übersehen oder zu verkennen, liegt unter anderem in der Tatsache, dass er nur in Ausnahmefällen eine Rolle spielt bei der Frage, was eine Handlung zu einer moralisch richtigen Handlung macht. Das nämlich ist die Frage nach dem, was in der klassischen katholischen Moralphilosophie der finis operis genannt wird. Dieser ist mit dem moralischen Wert nicht identisch. Wenn ich z.B. einem Bettler ein Almosen geben, dann ist der finis operis das Almosen als eine Form, dem Nächsten zu helfen. Es handelt sich um eine Tat der Nächstenliebe. Der finis operis ist der hauptverantwortliche Faktor, der diese Handlung spezifiziert und zu einer guten macht. Manche Ethiker unterscheiden richtige und gute Handlungen. Diese Unterscheidung ist sinnvoll, wenn mit “richtig” jene Handlungen bezeichnet werden, die auf Grund ihres finis operis zu jenen gehören, die in der gegebenen Situation gefordert oder angemessen ist und die dann zu einer moralisch guten Handlung wird, wenn sie zudem mit einer guten Gesinnung vollzogen wird, d.h. wenn auch der finis operantis moralisch gut ist. Im Falle unseres Beispiels bedeutet das: Wenn ich das Almosen nur um des eitlen Ruhmes willen gebe, dann ist die Handlung zwar richtig (Kant würde sagen: legal), aber moralisch wertlos. Es fehlt die moralische Gesinnung. Diese ist erst gut, wenn es mir bei meiner Hilfe tatsächlich um den Notleidenden geht. Erst wenn solcher Gesinnung das Almosengeben entspringt, bekommt die Handlung ihren moralischen Wert. Sie wird dann zum Ausdruck jenes guten Willens, den Kant gepriesen hat (wobei Kant allerdings die nötige Gesinnung anders beschreiben würde - dazu später).

Nun müssen wir beachten, dass in vielen Fällen der sittliche Wert des guten Willens weder in der Handlung noch in der vorausgehenden Deliberation thematisch ist. Er ergibt sich vielmehr unintendiert als Folge der guten Handlung und dessen, um was es mir eigentlich geht, nämlich -in unserem Beispiel des Almosengebens - dem Nächsten zu helfen. Er befindet sich, wie Max Scheler es so plastisch ausgedrückt hat, auf dem Rücken des moralischen Aktes. Natürlich sind auch Fälle denkbar, in denen ich die Nächstenliebe übe, weil ich nach Heiligkeit strebe. Dann ist tatsächlich der sittliche Wert und sein Erwerb das intendierte Ziel. Aber normalerweise ist er das nicht. Wenn ich einem notleidenden Menschen begegne und ihm helfe, dann ist es dieser Mensch, auf den meine Aufmerksamkeit und meine eigentliche Handlungsabsicht geht. Ich betrachte ihn nicht als bloße Gelegenheit, mich zu heiligen. Vor allem aber ist der sittliche Wert, den ich durch die Hilfe realisiere, nicht der Grund, warum nun ausgerechnet diese Tat von mir gefordert ist. Er hat keinen heuristischen Wert für die Frage, was ich konkret tun soll.

Mit anderen Worten: Der sittliche Wert ist eine Frucht des guten Handelns, aber selber für die Entdeckung dessen, was eine Handlung zu einer richtigen macht, unfruchtbar. Kant sah es anders. Er machte aus dem kategorische Imperativ, der gewissermaßen den sittlichen Wert in statu nascendi darstellt, den alleinigen Quell aller Moralität, indem er aus dem Begriff der Pflicht alle Inhalte der Pflicht abzuleiten versuchte. Dieser Monokausalismus macht den berühmten Kantischen Formalismus aus, der so oft kritisiert worden ist.
Das Scheitern des Formalismus einerseits und die heuristische Unfruchtbarkeit des moralischen Werts für die ethische Deliberation andererseits sind nicht wenig dafür verantwortlich, dass der moralische Wert als solcher in der Scholastik so oft übersehen wird. 

Die Serie "Um eine Philosophie des Guten" erscheint alle 14 Tage am Dienstag um 9 Uhr bei CNA Deutsch. 

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