08 Juni, 2023 / 3:00 PM
München, 1. Juni 1998. – Eine Prozession am „Hochfest des Allerheiligsten Körpers und Blutes Christi“ durch die Pfarrei Sankt Anna an der Isar in der alten „Hauptstadt der Bewegung“ mit zwei alten Schnüfflern als letztem Aufgebot des Himmels.
Was heißt umsonst? Am vorletzten Fronleichnamsfest des zweiten Jahrtausends hat Pater Winfried, der Pfarrer unserer Annakirche im Lehel in München, meinen letzten Freund Peter aus der Liebigstraße und mich gebeten, den sogenannten „Himmel“ über dem sogenannten „Allerheiligsten“ mit durch die Straßen unseres Viertels zu tragen, geradeso wie in Polen. Der „Himmel“ ist ein alter Festbaldachin aus dem letzten Jahrhundert. Peter Seewald ist ein jüngerer Kollege, den ich nun schon fünf Jahre lang kenne. Da hatte er im Magazin der Süddeutschen Zeitung ein hinreißendes Porträt Joseph Ratzingers veröffentlicht, nachdem seine Redaktion ihn mit dem Auftrag einer medialen Hinrichtung des Kardinals nach Rom entsandt hatte. Danach hatte ich ihn angerufen und zu einem italienischen Mittagessen in der Maxvorstadt Münchens eingeladen. Seitdem gelang es keinem mehr, uns auseinanderzubringen.
Das „Allerheiligste“ ist, wie wir seit der heiligen Juliana von Lüttich wissen, die geweihte und „verwandelte“ Hostie in einer schweren goldenen Monstranz. Die Hostie ist eine Oblate aus Weizenmehl, von der die katholische Kirche in den Tagen Papst Urbans IV. noch einmal nachdrücklich unterstrichen hat, dass sie sich unter den Händen des Priesters wirklich und wahrhaftig in den Leib Christi verwandelt. So weit ist es also gekommen. In unserem Dorf nahm man zu meiner Zeit noch die ehrenwertesten und reichsten Bauern und Honoratioren für diesen Dienst, im alten Rom den ältesten Adel, im Vatikan Offiziere der Schweizer Garde. In meiner 400 Kindheit watete die Prozession noch durch einen wahren Blumenteppich durch das Dorf. Jetzt treten wir auf einige Blüten auf dem Weg, immer noch rührend und schön.
Der Himmel ist so schwer
So wankt und stolpert das letzte Aufgebot der katholischen Kirche in München dem Ende des 2. Jahrtausends nach Christus entgegen; mit zwei rasenden Reportern und alten Schnüfflern unter den vier Trägern des Himmels. Die Prozession geht aus dem weit geöffneten Hauptportal der Annakirche die große Treppe hinunter über den Anna-Platz in die Robert-KochStraße hinein. Wir kreuzen die Sternstraße, biegen nach links in die Reitmorstraße. Ich sehe die Plakatwände heute nicht, an denen wir vorbeiziehen. Es ist brüllendheiß. Der „Himmel“ ist so schwer. An der abgesperrten Kreuzung Liebigstraße / Oettingenstraße salutiert der Polizist unseres Viertels in Habachtstellung vor unserer Demonstration. An einem Fenster, unter dem wir vorbeiziehen, sehe ich mich mit einer jungen Frau stehen, die Nonnengewänder trägt und diesen Anblick nicht fassen kann! Diese Hitze! – Rechts vor mir läuft Pater Winfried in seinem schweren „Rauchmantel“ der Schweiß in den Kragen aus altem Brokat. Wie schwer muss die goldene Monstranz erst sein, die er auf Brusthöhe vor sich her durch die Straßen trägt? Die gleißende Sonne fängt sich in der Hostie hinter dem Bergkristall leuchtend wie in einem Stück durchscheinenden Papiers. Dass es Brot ist, kann keiner, der es nicht weiß, erkennen. Die Speise des himmlischen Jerusalem. Das Brot der Engel. Der Leib des Herrn.
Eine schwankende Planke
Es ist der letzte Rest der Welt, den keiner beschlagnahmen noch vereinnahmen kann. Er widersetzt sich jedem Zugriff. Meine Mutter konnte in meiner Kindheit nicht aufhören, mir immer neu von Hostienwundern zu erzählen oder von Legenden, wo vergeblich versucht wurde, Hostien zu entehren. Die großen Religionskriege Europas haben sich einmal an der Frage entzündet, ob Gott in diesem Stück Brot nur symbolisch oder ganz und gar real gegenwärtig ist, als immer neue Eintritte und Daseinsweisen des Schöpfers in die von ihm geschaffene Welt.
Die hölzerne Stange wird feucht in meinen Händen. Ich schaue auf die Monstranz mit der Hostie und hoch und jetzt sehe ich: Ich trage diesen „Himmel“ gar nicht. Es ist eine schwankende Planke, an der ich mich festhalte. Diese Stange ist ein Holz, das mich trägt. Jetzt sehe ich: Das Ausstrecken nach dem himmlischen Jerusalem hat ausgedient als Motor aller Veränderungen unseres Erdteils, der so lange nach apostolischen Maßen umgestaltet worden ist. Die Wellentäler unserer Welt sind überdeckt mit tanzenden Trümmern der himmlischen Stadt. Das letzte Jahrhundert hat die leuchtende Arche in kosmischen Katastrophen verschlungen. Darüber ist Europa, das alte christliche Abendland, zum ersten und bislang einzigen säkularen Kontinent der Erde geworden.
Schiffbrüchige und Sirenen
Kein Teil der Erde kommt ihm darin gleich. Ich allein kenne Hunderte, die diesen Schiffbruch mit erlitten haben (und Hunderte, die noch mit voller Fahrt auf einen fast kosmischen Eisberg zusteuern). Es ist eine kulturelle Grunderfahrung des Abendlands geworden. Wohin ich blicke, sehe ich Schiffbrüchige, Überlebende einer untergegangenen Welt, die von verschiedenen schwimmenden Teilen dieses Ozeanriesen noch getragen werden und die alle zusammen doch kein gemeinsames Deck mehr trägt. Alle sind umspült vom Nichts – von jedem Riff von Sirenen umworben, in jedem Rettungsboot von Piraten bedroht. Mag der 700 Jahre alte Mariendom von Orvieto auch noch so stolz und herrlich als Triumph der Wahrheit des Glaubens über den Zweifel neben der Autostrada del Sole auf dem Weg in die Höhe ragen. Der Zweifel und schon längst nicht mehr der Glaube ist zum tragenden Element des modernen Menschen geworden, ob gläubig oder ungläubig. Und keiner ist moderner als die Europäer.
Paul Badde, "Abendland: Die Geschichte einer Sehnsucht", ist im Fe-Medienverlag erschienen und hat 464 Seiten.
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