15 November, 2023 / 7:10 PM
Er war nicht nur einer der großen katholischen Historiker unserer Zeit, sondern selber ein Stück Kirchengeschichte – ein Zeitzeuge, wie es keinen besseren geben konnte. Denn in seinem Leben spielten sich die großen Ereignisse des 20. Jahrhunderts wieder, die er nicht nur eloquent beschrieben, sondern auf oft dramatische Weise durchlebt hatte. Dabei pendelt seine Biografie zwischen historischem Thriller und Hagiographie, zwischen Reichtum und Armut, zwischen Licht und Schatten, ja zwischen Holocaust und vatikanischem Konzil. Das alles machte ihn zu einem Ignatius unserer Zeit, einem katholischen Grandseigneur und demütigem Diener und Berater vierer heiliger Päpste, einem Gelehrten von Weltrang mit lexikalischem Gedächtnis und einem frommen, bescheidenen, grundgütigen und sensiblen Freund eines jeden, der ihn um Rat und Hilfe ersuchte. In diesen Momenten persönlicher Begegnung schien etwas von den 149 Heiligen und Seligen, deren Prozesse er als Relator (Untersuchungsrichter) der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungen geführt hatte, auf ihn abgefärbt, ja ihn zu einem heiligmäßigen Leben inspiriert zu haben. Einer von ihnen, der große Pius XII., wurde für ihn nicht nur zum Vorbild, sondern auch zu seiner letzten großen Lebensaufgabe.
Wie Ignatius von Loyola wuchs er in Glanz und Reichtum auf, um in Armut, Gelehrsamkeit und Dienst seinen inneren Frieden zu finden. Kurt Peter Gumpel wurde 15. November 1923 im Hannoveraner Nobelviertel Kleefeld in eine Dynastie hineingeboren, die ein Imperium besaß. Sein Großvater, der Kommerzienrat Julius Gumpel, hatte in Hannover erst eine Bank, dann einen Kali-Konzern aufgebaut und saß im Vorstand diverser Industrieunternehmen, was ihn zu einem der bedeutendsten Wirtschaftsgrößen der Weimarer Republik und persönlichen Berater des Reichspräsidenten Hindenburg werden ließ. In seiner Villa gingen die Großen seiner Zeit ein und aus, und so verwundert es nicht, dass bei einem solchen Besuch sein damals fünfjähriger Enkel dem Apostolischen Nuntius Eugenio Pacelli, dem späteren Papst Pius XII., vorgestellt wurde. Dessen Verkörperung kirchlicher Noblesse sollte ihn nachhaltig beeindrucken. Peter Gumpel hatte, noch ohne es zu wissen, sein Vorbild und seine Lebensaufgabe gefunden.
Zunächst aber setzte die Familie alles daran, ihn angemessen auf seine Rolle als zukünftiger Erbe des Firmenimperiums vorzubereiten, ihn gewissermaßen zum Kronprinzen ausbilden zu lassen. Gumpels aristokratische Haltung und exzellente Manieren zeugten lebenslang von bester Kinderstube und führten zu Gerüchten, dass er gar königlicher Abstammung sei. Noch mit 98 Jahren und längst im Rollstuhl ließ er es sich nicht nehmen, einen seiner vielen Gäste im Pflegeheim des Jesuitenordens „Residenza S. Pietro Canisio“ in Rom persönlich abzuholen und wieder zur Tür zu bringen. Fragen nach seiner Herkunft dagegen waren ihm zuwider. Es wollte nie nur aufgrund seiner Abstammung als etwas Besonderes gelten und so wurde Understatement zu seiner Lebensmaxime.
Verfolgung
Denn schließlich war alles ganz anders gekommen, als es die „Thronfolge“ in der Bankiersdynastie vorgesehen hatte. Hitler kam an die Macht, eine Entscheidung Hindenburgs, die der sonst so mächtige Großvater nicht hatte beeinflussen können. Für die Gumpels eine Katastrophe, denn die Großeltern waren Juden; erst sein Vater hatte eine Christin geheiratet und war zum Katholizismus konvertiert, doch trotz seiner Taufe und seinem christlichen Glauben galt er nach der NS-Ideologie als „Halbjude“. So flüchteten die Eltern mit dem Zehnjährigen zunächst nach Paris, bevor Gumpel, seine Schwester und seine Mutter 1935 nach Deutschland zurückkehrten und in Berlin residierten; man glaubte fälschlich, die Nazis hätten sich gemäßigt. In der Reichshauptstadt besuchte Peter Gumpel die einzige katholische Schule, das von Jesuiten geleitete Canisius-Kolleg, die zu seinem ersten Berührungspunkt mit dem Orden wurde. Zunächst fremdelte der zierliche, schmale und gänzlich unsportliche Junge aus bestem Hause mit dem rauen Ton der „Berliner Schnauze“, doch dann machte sich der blitzgescheite Klassenprimus durch sein soziales Verhalten sehr schnell Freunde.
Erst die Kristallnacht im November 1938 bereitete auch dieser scheinbaren Normalität ein jähes Ende. Als die Nazis die Familienvilla in Hannover besetzten, eilte Peters Mutter Olga Gumpel nach Hannover, um vergeblich das Erbe ihres Sohnes zu retten – und wurde von der Gestapo verhaftet und zum Tode verurteilt. Erst als ihr damals 15jähriger Sohn alle Kontakte der Eltern zu ranghohen Militärs (darunter Admiral Canaris) ausspielte, erfolgte die Begnadigung. Peter aber, der seines Lebens nicht mehr sicher war, wurde bei Nacht und Nebel in einem Militärfahrzeug außer Landes gebracht – in das Jesuitenkolleg von Nijmegen in den Niederlanden, wo er unter falschem Namen weiterhin die Schule besuchte, von den Mitschülern gehänselt, weil er Deutscher war. Die falsche Identität bewahrte ihn 1942, als die Nazis die Niederlande längst besetzt hatten, vor der Deportation in ein Vernichtungslager. Sein strenger Vater hatte sich erst nach Paris, dann nach Portugal abgesetzt, sein geliebter Großvater dagegen wurde erst nach Theresienstadt, dann in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und dort ermordet. Seine geliebte Mutter schließlich verstarb im November 1947 in Berlin; erst kurz vor Weihnachten erfuhr der Junge, für den eine Welt zusammengebrochen war, durch einen britischen Offizier von ihrem Tod.
Im Dienste der Heiligen
In der Gesellschaft Jesu fand er eine neue Familie und Heimat. Im September 1944 trat er in das Noviziat ein und studierte ab 1946 am St. Ignatius-Kolleg in Amsterdam, bevor er von seinem Orden 1947 nach Rom geschickt wurde, um als Repetitor an der Jesuitenuniversität Gregoriana zu wirken und seine eigenen Studien fortzusetzen. Während eines zweijährigen Aufenthaltes in England, am Heythrop-Kolleg, lernte er den italienischen Jesuiten Paolo Molinari kennen, dem der polyglotte Deutsche Englisch beibringen sollte. Auch Molinari stammte aus einer wohlhabenden Industriellenfamilie und brachte die Kultur und Lebensart mit, mit der Gumpel so vertraut war. So wurden die beiden Ordensbrüder zu guten Freunden, ja jahrzehntelang zum „Dreamteam“ und der Denkfabrik des Ordens. 1952 erfolgte die Priesterweihe, gefolgt von zwei Jahren in Gandia/Spanien, bevor Gumpel 1955 wieder – und jetzt für immer – nach Rom zurückkehrte. Dort promovierte er 1964 an der Gregoriana und übernahm bald darauf den Lehrstuhl für Geschichte der Dogmen und Theologie. 1960 war er dem neuen Generalpostulator des Jesuitenordens, ausgerechnet seinem Freund Pater Molinari, als Assistent an die Seite gestellt worden; gemeinsam führten die beiden Theologen 149 Selig- und Heiligsprechungsprozesse. Von 1972 bis 1983 diente Gumpel zudem als Konsultor der Heiligsprechungskongregation und von 1983 bis 1993 als deren Sprecher und Lehrer. Einmal wäre er fast zum neuen General der Gesellschaft Jesu gewählt worden – doch aus Bescheidenheit und um nicht antideutsche Ressentiments wachzurufen, winkte er ab. Stattdessen wurde er zum Berater der Päpste.
Der Geist des Konzils
Schon Pius XII., der ohnehin die Deutschen schätzte und mit Gumpels Familiengeschichte vertraut war, rief ihn immer wieder zu sich, um Zitate für seine Predigten und Ansprachen überprüfen zu lassen. Doch sein Durchbruch war ein Artikel über die Rolle der Heiligen in der Kirche, den er zusammen mit Pater Molinari verfasst hatte. Sofort berief der neue Papst, Johannes XXIII., den Italiener zum „Peritus“ (Konzilstheologen), während Gumpel ihm im Hintergrund zuarbeitete. So stammen wichtige Passagen in den Konzilsdokumenten aus seiner Feder. Während des Konzils schrieb er bis tief in die Nacht hinein über hundert Reden für amerikanische und afrikanische Bischöfe, die sich mit der Konzilssprache Latein schwertaten. Dabei erlebte er auch, wie eine gut vorbereitete Gruppe von europäischen Bischöfen versuchte, mit bereits im Vorfeld erstellten Dokumenten ihre Agenda durchzusetzen. Um einen Bruch zu vermeiden, schwächten andere schließlich die Konzilstexte ab. Die Folge dieses Kompromisses war jene mangelnde Eindeutigkeit, die später zu den unterschiedlichen Interpretationen des Konzils bis hin zur „Hermeneutik des Bruches“ führte – ein Umstand, den Gumpel zeitlebens bedauerte.
Der Anti-Hochhuth
Als Papst Paul VI. gegen Ende des Konzils den Seligsprechungsprozess Pius XII. einleitete, fielen dem „Dreamteam“ Molinari/Gumpel die Aufgaben des Postulators und des Relators zu. Als Relator hatte Gumpel fortan uneingeschränkten Zugang zu den geheimsten Archiven des Vatikans. Hatte er schon in seinen ersten Jahren in Rom von dutzenden Zeitzeugen von den Initiativen des Weltkriegspapstes zur Rettung unzähliger Juden erfahren, fand er jetzt dafür die Beweise. So entstand eine Dokumentation, die fast fünf Jahrzehnte später, unter Benedikt XVI., zur Beendigung des Prozesses Pius XII. mit der Zubilligung des „heroischen Tugendgrades“ und des Titels „verehrungswürdig“ endete – die Vorstufe zur Seligsprechung, zu der jetzt nur noch ein medizinisch anerkanntes Wunder und der Willen, dieses zu dokumentieren, fehlen. So wurde Gumpel zum weltweit führenden Experten für ausgerechnet den Mann, der ihn als Kind so beeindruckt hatte und zeitlebens zum Vorbild geworden war. Seine ganze Leidenschaft galt mit zunehmenden Jahren seiner Verteidigung, nachdem böswillige Theaterstücke wie Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“ oder perfide Verleumdungen wie John Cornwells „Hitlers Papst“ das Andenken an diesen vorbildlichen Mann Gottes und der Kirche zu beschmutzen versuchten. In den folgenden Jahren gab er über 300 Presse-, Rundfunk und Fernsehinterviews, um das Bild Pius XII. in der Öffentlichkeit zurechtzurücken. Dabei wirkte der hagere, geradezu asketische Jesuit mit der hohen Stirn, den freundlich blitzenden Augen und der klaren Stimme in seinem holländisch eingefärbten Deutsch stets absolut überzeugend. So inspirierte er eine ganze Generation von Pius-Verteidigern, zu denen der amerikanische Jude Gary Krupp mit seiner „Pave the Way Foundation“, die US-Katholiken William Doino und Ron Rychlak, die Italiener Andrea Tornielli und Matteo Napolitano sowie, in Deutschland, meine Wenigkeit gehörten. In meinem Buch „Der Papst und der Holocaust“ wurden Gumpels Erkenntnisse erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Ich hatte inständig gehofft, dass der Pater, der mir zu einem väterlichen Freund und einer unerschöpflichen Quelle der Inspiration geworden war, noch den Tag der Seligsprechung Pius XII. erleben würde. Doch der Himmel hatte anders entschieden. Am 12. Oktober 2022, nur einen Tag nach dem 60. Jahrestag der Konzilseröffnung, entschlief Gumpel friedlich im S. Pietro Canisio-Pflegeheim des Jesuitenordens in Rom, wo er die letzten Jahre, nach wie vor stets unermüdlich im Einsatz, verbracht hatte. Er ist allen, die ihm begegnen durften, unvergesslich als nobelster Repräsentant einer besseren Zeit und einer gesünderen Kirche, vor allem aber als heiligmäßiger Priester und herzensguter Mensch. Er fehlt in unserer Zeit.
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